Madame Bovary. Sittenbild aus der Provinz

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

VI

Sie hatte »Paul und Virginie« gelesen und im Traum alles vor sich gesehen: die Bambushütte, den Neger Domingo, den Hund Fidelio, aber vor allem die zärtliche Freundschaft eines guten, brüderlichen Kameraden, der einem rote Früchte von Bäumen holt, die höher als Kirchtürme sind, oder der barfuß über den Sand gelaufen kommt und ein Vogelnest bringt.

Mit dreizehn Jahren hatte ihr Vater sie nach der Stadt und ins Kloster gebracht. Sie waren in einem Gasthof des Stadtviertels Saint-Gervais abgestiegen, wo sie beim Abendessen Teller vorgesetzt bekamen, auf denen die Geschichte der Mademoiselle de La Vallière dargestellt war. Die legendenhaften Erläuterungen, die hier und da von den Messern zerkratzt waren, verherrlichten alle die Religion, die zarten Gefühle des Herzens und den Prunk des Hofs.

Während der ersten Zeit des Klosteraufenthalts langweilte sie sich nicht im mindesten; sie fühlte sich in der Gesellschaft der gütigen Schwestern wohl, die sie, um ihr eine Freude zu bereiten, in die Kapelle führten, in die man vom Refektorium durch einen langen Gang gelangte. In den Pausen spielte sie nur sehr selten; im Katechismus kannte sie sich aus, und bei schwierigen Fragen war sie es, die dem Herrn Vikar stets antwortete. So lebte sie also, ohne je hinauszukommen, in der lauen Atmosphäre der Klassenzimmer und unter blassen Frauen, die Rosenkränze mit Messingkreuzen trugen, und versank sanft in das mystische Schmachten, das die Düfte vom Altar her, die Kühle der Weihwasserbecken und der Schimmer der Kerzen aushauchten. Anstatt der Messe zu folgen, betrachtete sie in ihrem Buch die frommen, azurblau umrahmten Vignetten; sie liebte das kranke Lamm, das von spitzen Pfeilen durchbohrte heilige Herz oder den armen Jesus, der unterwegs unter seinem Kreuz zusammenbricht. Um sich zu kasteien, versuchte sie, einen ganzen Tag lang ohne Nahrung auszuhalten. Sie zerbrach sich den Kopf, welches Gelübde sie erfüllen könnte.

Wenn sie zur Beichte ging, dachte sie sich kleine Sünden aus, nur damit sie länger im Halbdunkel knien konnte, mit gefalteten Händen, das Gesicht an das Gitter gepresst, unter dem Flüstern des Priesters. Die Gleichnisse vom Bräutigam, vom Gatten, vom himmlischen Geliebten und der ewigen Hochzeit, die in den Predigten immer wiederkehren, erweckten in der Tiefe ihrer Seele unverhoffte, süße Schauer.

Allabendlich vor dem Gebet wurde im Arbeitsraum aus einem frommen Buch vorgelesen. Während der Woche irgendein Abschnitt aus der biblischen Geschichte oder aus den »Reden« des Abbé Frayssinous und sonntags, zur Erbauung, aus dem »Geist des Christentums«. Wie lauschte sie bei den ersten Malen den klangvollen Klagen romantischer Schwermut, die in allen Echos der Erde und der Ewigkeit widerhallten! Hätte sie ihre Kindheit in der Ladenstube irgendeines Geschäftsviertels verbracht, so würde sie vielleicht der Naturschwärmerei verfallen sein, die für gewöhnlich durch die Vermittlung der Schriftsteller anerzogen wird. Aber sie wusste über das Landleben allzu gut Bescheid; sie kannte das Blöken der Herden, die Milchspeisen, die Pflüge. Da sie an friedliche Vorgänge gewöhnt war, wandte sie sich dem Entgegengesetzten zu, dem Bewegten und Abwechslungsreichen. Sie liebte das Meer nur seiner Stürme wegen und das Grün einzig, wenn es spärlich zwischen Ruinen wuchs. Sie musste aus allem einen selbstischen Genuss schöpfen können; und sie warf als unnütz beiseite, was nicht auf der Stelle zur Labung ihres Herzens beitrug – ihr Charakter war eher sentimental als ästhetisch; sie war auf seelische Erregungen erpicht, nicht auf Landschaften.

Es gab im Kloster eine alte Jungfer, die alle vier Wochen auf acht Tage kam und in der Wäschekammer arbeitete. Sie stand unter erzbischöflichem Schutz, weil sie einer alten, durch die Revolution verarmten Adelsfamilie angehörte; sie saß im Refektorium am Tisch der frommen Schwestern und hielt mit ihnen nach dem Essen ein Plauderstündchen, ehe sie wieder an ihre Arbeit ging. Oft stahlen sich die Klosterschülerinnen aus der Arbeitsstunde fort und suchten sie auf. Sie kannte galante Liedchen aus dem vorigen Jahrhundert und sang sie halblaut vor, während sie ihre Nadel betätigte. Sie erzählte Geschichten, wusste Neuigkeiten zu berichten, übernahm Besorgungen in der Stadt und lieh den Großen heimlich Romane, die sie immer in den Schürzentaschen bei sich trug und aus denen das gute Fräulein selber in den Pausen ihrer Tätigkeit ein paar lange Kapitel verschlang. Es wimmelte darin von Liebschaften, Liebhabern, Geliebten, verfolgten Damen, die in einsamen Gartenhäusern ohnmächtig, von Postillionen, die an jeder Poststation ermordet, von Rossen, die auf jeder Buchseite zuschanden geritten wurden, von düsteren Wäldern, Herzenswirrnissen, Schwüren, Seufzern, Tränen und Küssen, Gondelfahrten bei Mondschein, Nachtigallen im Gebüsch, von Edelherren, die tapfer wie die Löwen und sanft wie Lämmer waren, dabei maßlos tugendhaft, immer köstlich gekleidet und ungemein tränenselig. Ein halbes Jahr lang beschmutzte sich die fünfzehnjährige Emma die Finger mit diesem Staub alter Leihbüchereien. Später berauschte sie sich mit Walter Scott an historischen Gegenständen, träumte von Truhen, vom Saal der Wachen und Minnesängern. Am liebsten hätte sie auf einem alten Herrensitz gelebt, wie jene Schlossherrinnen im langmiedrigen Gewand, die unter Kleeblattfensterbogen ihre Tage hinbrachten, die Ellbogen auf dem Stein und das Kinn in der Hand, um aus der Ferne der Landschaft einen Ritter mit weißer Feder auf schwarzem Ross herangaloppieren zu sehen. Sie trieb zu jener Zeit einen Kult mit Maria Stuart und verehrte enthusiastisch alle berühmten oder unglücklichen Frauen. Jeanne d’Arc, Héloïse, Agnes Sorel, die schöne Helmschmiedin und Clémence Isaure lösten sich für sie wie Kometen aus den ungeheuerlichen Finsternissen der Weltgeschichte, aus denen auch noch hie und da, jedoch verlorener im Dunkel und ohne jede Beziehung untereinander, der heilige Ludwig mit seiner Eiche, der sterbende Bayard, einige Grausamkeiten Ludwigs XI., ein bisschen Bartholomäus-Nacht, der Helmbusch des Béarners hervortraten, und stets die Erinnerung an die bemalten Teller mit der Verherrlichung Ludwigs XIV.

In den Romanzen, die sie in den Musikstunden sang, war immer nur von Englein mit goldenen Flügeln die Rede, von Madonnen, Lagunen, Gondolieren; es waren harmlose Kompositionen, die sie, durch die Albernheit des Stils und die Dummheit der Melodien hindurch, die verlockende Phantasmagorie sentimentaler Wirklichkeiten erblicken ließen. Einige ihrer Kameradinnen brachten lyrische Almanache mit ins Kloster, die sie als Neujahrsgeschenke bekommen hatten. Sie mussten versteckt werden, und das war dabei die Hauptsache; gelesen wurden sie im Schlafsaal. Emma nahm die schönen Atlasbände behutsam in die Hand und ließ sich von den Namen der unbekannten Dichter blenden, die ihre Beiträge meist als Grafen oder Vicomtes gezeichnet hatten.

Sie zitterte, wenn sie das Seidenpapier von den Kupferstichen hochblies; es bauschte sich dann zur Hälfte auf und sank sanft wieder auf die Buchseite zurück. Da war hinter der Balustrade eines Balkons ein junger Mann in kurzem Mantel abgebildet, der ein weißgekleidetes junges Mädchen mit einer Tasche am Gürtel an sich drückte; oder die Bildnisse ungenannter englischer Ladies mit blonden Locken, die den Betrachter unter ihren runden Strohhüten mit ihren großen, hellen Augen anschauten. Es waren auch in Wagen Geschmiegte zu sehen, die durch Parks fuhren, wobei ein Windspiel vor dem Gespann hersprang, das von zwei kleinen Grooms in weißen Kniehosen gelenkt wurde. Andere träumten auf Sofas, hatten neben sich entsiegelte Briefchen liegen und himmelten durch einen halb offenen, halb gerafften schwarzen Vorhang hindurch den Mond an. Unschuldslämmer, eine Träne auf der Wange, schnäbelten zwischen den Gitterstäben eines gotischen Käfigs hindurch mit einer Turteltaube oder zerzupften, den Kopf lächelnd auf die Schulter geneigt, mit ihren langen, spitzen Fingern, die nach oben gebogen waren wie Schnabelschuhe, eine Margerite. Und es waren auch Sultane mit langen Pfeifen zu sehen, die unter Lauben in den Armen von Bajaderen vor Wonne vergingen; Giaure, Türkensäbel, phrygische Mützen und vor allem fade Landschaften aus dithyrambisch gepriesenen Gegenden, auf denen man oftmals friedlich nebeneinander Palmen und Fichten sah, Tiger zur Rechten, einen Löwen zur Linken, in der Ferne tatarische Minaretts, im Vordergrund römische Ruinen, dazwischen lagernde Kamele – all das eingerahmt von einem sorglich gepflegten Urwald, und dazu ein dicker, senkrechter Sonnenstrahl, der im Wasser zitterte, wo sich in heller Schraffierung auf stahlgrauem Grund hier und da schwimmende Schwäne abhoben.

Und das matte Licht der Schirmlampe, die über Emmas Kopf an der Wand hing, beleuchtete alle diese weltlichen Bilder, die eins nach dem andern an ihr vorüberzogen in der Stille des Schlafsaals beim fernen Geräusch einer verspäteten Droschke, die noch über die Boulevards rollte.

Beim Tod ihrer Mutter hatte sie während der ersten Tage viel geweint. Sie ließ sich ein Trauerbildchen mit dem Haar der Verstorbenen anfertigen, und in einem ganz von trübseligen Betrachtungen über das Leben erfüllten Brief, den sie nach Les Bertaux schickte, bat sie ihren Vater, man möge sie dereinst in demselben Grab bestatten. Der Wackere hielt sie für krank und besuchte sie. Emma empfand eine seelische Genugtuung, dass sie sich auf Anhieb in der seltenen Idealwelt blasser Existenzen angelangt fühlte, wohin Alltagsherzen nie gelangen. So befahl sie sich jetzt lamartinischen Gewundenheiten an, hörte Harfenklänge über Seen, alle Gesänge sterbender Schwäne, alles Fallen des Laubs, und die Stimme des Ewigen, die in den Tälern redet. Es langweilte sie, sie wollte sich das nicht eingestehen, fuhr aus Gewohnheit damit fort, dann aus Eitelkeit und war schließlich überrascht, dass sie den Frieden wiedergefunden und so wenig Traurigkeit im Herzen hatte wie Falten auf der Stirn.

 

Die guten Nonnen, die so sehr auf Emmas religiöse Berufung gehofft hatten, bemerkten zu ihrer größten Verwunderung, dass Mademoiselle Rouault ihrer Obhut zu entschlüpfen schien. Sie hatten nämlich allzu viele Gottesdienste, Klausuren, neuntägige Andachten und Sermone an sie verschwendet, ihr so gut den Respekt gepredigt, den man den Heiligen und den Märtyrern schuldig ist, und ihr so viele gute Ratschläge über die Kasteiung des Leibes und das Heil der Seele erteilt, dass sie sich verhielt wie ein Pferd, dessen Zügel man anzieht: sie bockte, und die Kandare rutschte ihr aus den Zähnen. Dieses Mädchen, das auch mitten in ihren Verzückungen nüchtern geblieben war; das die Kirche um der Blumen, die Musik um der Liedertexte, die Literatur um ihrer leidenschaftlichen Aufreizungen willen geliebt hatte, empörte sich wider die Mysterien des Glaubens, und mehr noch lehnte sie sich gegen die Klosterzucht auf, die etwas war, das ihrem Wesen widerstrebte. Als ihr Vater sie aus dem Kloster wegnahm, war man alles andere als verstimmt, dass sie von dannen zog. Die Oberin fand sogar, dass sie es in der letzten Zeit an Ehrfurcht gegenüber der Schwesternschaft habe fehlen lassen.

Als Emma wieder daheim war, gefiel sie sich zunächst darin, das Gesinde zu kommandieren; danach ekelte das Landleben sie an, und sie sehnte sich zurück ins Kloster. Bei Charles’ erstem Besuch in Les Bertaux war sie der Meinung, sie habe alle Illusionen eingebüßt und könne nichts mehr lernen oder empfinden.

Aber das Beängstigende einer neuen Daseinsform oder vielleicht die Gereiztheit, die die stete Gegenwart dieses Mannes mit sich brachte, hatte genügt, sie glauben zu machen, dass sie endlich im Besitz der wunderbaren Leidenschaft sei, die bisher wie ein großer Vogel mit rosigem Gefieder im Glanz poetischer Himmelsweiten über ihr geschwebt hatte – und jetzt konnte sie sich nicht vorstellen, dass die Eintönigkeit, in der sie dahinlebte, das Glück sein sollte, das sie erträumt hatte.

VII

Manchmal dachte sie darüber nach, dass dies doch die schönsten Tage ihres Lebens seien, die Flitterwochen, wie man zu sagen pflegte. Um deren Süße zu kosten, hätte man wohl in jene Länder mit klangvollen Namen reisen müssen, wo die Tage nach der Vermählung ein süßes Nichtstun sind! In Postkutschen mit blauseidenen Vorhängen fährt man im Schritt steile Landstraßen hinauf und lauscht dem Lied des Postillions, das im Gebirge zusammen mit den Glöckchen der Ziegen und dem dumpfen Brausen des Wasserfalls widerhallt. Wenn die Sonne untergeht, atmet man am Saum der Golfe den Duft der Zitronenbäume; dann verweilt man nachts auf einer Villenterrasse, ganz allein und mit verschlungenen Händen; man blickt zu den Sternen empor und schmiedet Pläne. Ihr schien, dass gewisse Gegenden auf Erden Glück hervorbrächten, wie eine Pflanze nur auf dem ihr gemäßen Boden gedeiht und anderswo kümmert. Warum konnte sie sich nicht auf das Verandageländer von Schweizerhäuschen stützen oder ihre Trübsal in einem schottischen Cottage einschließen, mit einem Gatten, der einen Frack aus schwarzem Samt mit langen Schößen trug, weiche Stiefel, einen spitzen Hut und Manschetten!

Vielleicht hätte sie all diese Dinge gern jemandem anvertraut. Aber wie sollte man unfassbares Unbehagen in Worte kleiden, das sich in eine Wolke wandelte und davonwirbelte wie der Wind? Es fehlten ihr die Worte, die Gelegenheit, der Mut.

Doch wenn Charles es gewollt hätte, wenn er es geahnt hätte, wenn sein Blick ein einziges Mal ihren Gedanken entgegengekommen wäre, dann, so meinte sie, hätte sich ein jäher Gefühlsüberschwang aus ihrem Herzen ergossen, wie eine reife Frucht vom Spalier fällt, wenn unsere Hand daran rührt. Aber je enger die Intimität ihres Zusammenlebens wurde, in desto stärkerem Maß vollzog sich eine innere Loslösung, die sie von ihm entfernte.

Charles’ Unterhaltung war flach wie ein Trottoir; er hatte nur Allerweltsgedanken, die in Alltagsgewandung vorüberspazierten, ohne eine Gefühlsregung, ein Lachen oder ein träumerisches Sinnen zu erregen. Solange er in Rouen gelebt habe, pflegte er zu sagen, habe er nie das Verlangen verspürt, sich im Theater Pariser Schauspieler anzusehen. Er konnte weder schwimmen, noch fechten, noch Pistole schießen, und eines Tages vermochte er nicht einmal, ihr einen Reiterfachausdruck zu erklären, auf den sie in einem Roman gestoßen war.

Aber musste ein Mann nicht alles wissen, sich in mannigfachen Betätigungen auszeichnen, einen in die Kraftäußerungen der Leidenschaft einweihen, in die Verfeinerungen des Lebens, in alle Geheimnisse? Er jedoch lehrte nichts, dieser Mensch, wusste nichts und wünschte nichts. Er hielt sie für glücklich; und sie verübelte ihm diese gesetzte Ruhe, diese heitere Schwerfälligkeit und sogar das Glück, das sie ihm schenkte.

Zuweilen zeichnete sie, und es war für Charles ein großes Vergnügen, bei ihr stehenzubleiben und sie anzuschauen, wie sie sich über ihren Zeichenblock beugte und die Augen zusammenkniff, um ihr Werk besser zu sehen, oder wie sie mit dem Daumen Brotkügelchen drehte. Wenn sie Klavier spielte, war sein Entzücken desto größer, je geschwinder ihre Finger liefen. Sie schlug die Tasten mit Nachdruck und spielte die ganze Klaviatur von oben bis unten durch, ohne Unterbrechung. Das auf solcherlei Weise geschüttelte alte Instrument, dessen Saiten schwirrten, war bis zum Dorfende zu hören, wenn das Fenster offenstand, und häufig blieb der Schreiber des Gerichtsvollziehers, der barhäuptig und in Pantoffeln über die Hauptstraße ging, stehen und hörte zu, sein Aktenstück in der Hand.

Andererseits verstand Emma sich gut auf die Führung ihres Haushalts. Sie schickte den Patienten die Rechnung über die Besuche, und zwar mit höflichen Begleitbriefen, die gar nicht nach Mahnungen aussahen. Wenn sonntags irgendjemand aus der Nachbarschaft bei ihnen zu Gast war, fand sie stets Mittel und Wege, mit etwas Besonderem aufzuwarten; auf Weinblättern schichtete sie Pyramiden von Reineclauden auf, servierte das Eingemachte auf einen Teller gestürzt und sprach davon, dass für das Ende der Mahlzeit kleine Gläser zum Spülen des Mundes gekauft werden sollten. Durch all das steigerte sie Bovarys Ansehen beträchtlich.

Charles bekam allmählich mehr Selbstachtung, weil er eine solche Frau besaß. Voller Stolz zeigte er zwei ihrer kleinen Bleistiftskizzen, die er in ziemlich breite Rahmen hatte fassen lassen und die an langen grünen Schnüren auf der tapezierten Wand hingen. Nach der Messe sah man ihn in schönen Pantoffeln mit Gobelinstickerei vor seiner Haustür stehen.

Er kam spät heim, um zehn, manchmal um Mitternacht. Dann wollte er essen, und da das Dienstmädchen schon schlief, war es an Emma, ihn zu bedienen. Er zog den Rock aus, um es beim Essen behaglicher zu haben. Der Reihe nach zählte er alle Leute auf, denen er begegnet, die Dörfer, in denen er gewesen war, die Rezepte, die er geschrieben hatte, und selbstzufrieden aß er den Rest der gezwiebelten Rindfleischschnitten, schabte seinen Käse sauber, knabberte einen Apfel, leerte seine Weinkaraffe und ging dann zu Bett, legte sich auf den Rücken und schnarchte.

Da er geraume Zeit eine baumwollene Nachtmütze getragen hatte, saß ihm sein Seidenschal nicht fest über den Ohren; deswegen hing ihm am Morgen das Haar wirr ins Gesicht, weiß von den Daunen aus seinem Kopfkissen, dessen Schnüre sich während der Nacht gelockert hatten. Stets trug er derbe Stiefel, die in der Knöchelgegend zwei dicke, schräge Falten hatten, während die Schäfte geradlinig verliefen, als stecke ein Holzbein darin. Er pflegte zu sagen, sie seien auf dem Lande gut genug.

In dieser Sparsamkeit wurde er durch seine Mutter bestärkt; denn sie kam wie ehemals zu Besuch, wenn es bei ihr daheim eine etwas heftigere Misshelligkeit gegeben hatte; und dennoch schien die alte Madame Bovary Vorurteile gegen ihre Schwiegertochter zu hegen. Sie fand sie »für ihre Verhältnisse ein bisschen zu großspurig«: mit dem Brennholz, dem Zucker und den Kerzen werde leichtsinnig gewirtschaftet »wie in einem großen Haus«, und die Menge Glut, die in der Küche verbrannte, würde für fünfundzwanzig Mahlzeiten gereicht haben! Sie räumte ihr den Wäscheschrank auf und brachte ihr bei, dass sie dem Metzger auf die Finger sehen müsse, wenn er das Fleisch bringe. Emma ließ diese Lehren über sich ergehen; die alte Madame Bovary ging verschwenderisch damit um; und die den lieben, langen Tag über gewechselten Anreden »liebe Tochter« und »liebe Mutter« wurden von einem leichten Lippenzucken begleitet; denn beide sprachen sie liebenswürdige Worte mit vor Groll bebender Stimme.

Zu Lebzeiten der Madame Dubuc hatte die alte Frau gewusst, dass sie die Bevorzugte sei; jetzt jedoch erschien ihr Charles’ Liebe zu Emma wie ein Abfallen von der Mutterliebe, wie ein feindliches Eindringen in etwas, das ihr gehörte; und sie beobachtete das Glück ihres Sohnes mit traurigem Schweigen, wie ein um Hab und Gut Gekommener abends durch die Fensterscheiben in seinem ehemaligen Haus die Leute tafeln sieht. Sie mahnte ihn mittels Erinnerungen an ihre Mühen und Opfer, und indem sie diese mit den geringen Leistungen Emmas verglich, folgerte sie, dass es unvernünftig sei, Emma auf eine so ausschließliche Weise zu vergöttern.

Charles wusste nicht, was er antworten sollte; er achtete seine Mutter sehr hoch, und er liebte seine Frau unendlich; das Urteil der einen hielt er für unfehlbar, und dabei fand er an der andern nichts auszusetzen. Als die alte Madame Bovary wieder weggefahren war, machte er schüchterne Versuche, eine oder zwei der harmloseren Bemerkungen seiner Mama wortwörtlich anzubringen; doch dann bewies ihm Emma kurz und bündig, dass er sich täusche, und schickte ihn wieder zu seinen Patienten.

Indessen versuchte sie nach Theorien, die ihr gut zu sein schienen, Liebesempfindungen in sich zu erregen. Sie rezitierte bei Mondschein im Garten alle gefühlvollen Gedichte, die sie auswendig wusste, und sang ihm schmachtend schwermütige Lieder vor; aber danach fühlte sie sich genauso ruhig wie zuvor, und Charles wurde dadurch offensichtlich weder verliebter noch gefühlvoller.

Wenn sie dann mit ihrem Herzen ein wenig »Feuer geschlagen« hatte, ohne dass ihm ein Funke entsprungen wäre, und da sie außerdem nicht imstande war, zu verstehen, was sie nicht fühlte, oder an etwas zu glauben, das sich nicht in altgewohnten Formen kundtat, kam sie mühelos zu der Überzeugung, Charles’ Liebe sei nicht mehr über die Maßen stark. Seine Liebesanwandlungen waren regelmäßig geworden; er umarmte sie zu ganz bestimmten Stunden. Es war das eine Gewohnheit unter vielen, und wie ein Nachtisch, von dem man von vornherein weiß, dass er nach der Einförmigkeit des Abendessens kommen muss.

Ein Jagdhüter, den Monsieur von einer Rippenfellentzündung geheilt hatte, hatte Madame ein kleines italienisches Windspiel geschenkt; sie nahm es bei ihren Spaziergängen mit, denn manchmal ging sie aus, um für eine kurze Weile allein zu sein und nicht nur den ewigen Garten oder die staubige Landstraße vor Augen zu haben.

Sie ging bis zum Buchenwald von Banneville, nach dem leerstehenden Gartenhaus, das nach der Feldseite hin die Mauer-ecke bildet. Dort wächst im Wolfsgraben zwischen Gras langes Schilfrohr mit scharfen Blättern.

Sie begann damit, Umschau zu halten, um festzustellen, ob sich seit ihrem letzten Hiersein etwas verändert habe. Alles stand noch am gleichen Platz, der Fingerhut und die wilden Nelken, die Brennnesseln in Büscheln rings um die dicken Steine, und die Flechtenplacken längs der drei Fenster, deren stets geschlossene Läden allmählich hinter den verrosteten Eisenbeschlägen verwitterten. Ihre Gedanken hatten kein Ziel; sie streunten umher wie ihr Windspiel, das in Kreisen im Feld umherlief, nach ein paar gelben Schmetterlingen schnappte, Jagd auf Spitzmäuse machte oder die Mohnblumen am Rand eines Kornfeldes anknabberte. Dann gerieten Emmas Gedanken nach und nach in eine bestimmte Richtung; sie saß im Gras, in dem sie mit der Spitze ihres Sonnenschirms ein bisschen herumstocherte, und fragte sich immer wieder:

»Warum, mein Gott, habe ich geheiratet?«

Sie überlegte, ob es nicht durch irgendeine Zufallsfügung anderer Art möglich gewesen wäre, einem anderen Mann zu begegnen; und sie versuchte, sich auszumalen, wie die nicht eingetretenen Ereignisse, wie dieses andere Leben, wie dieser Gatte, den sie nicht kannte, hätten beschaffen sein müssen. All das hätte nicht im mindesten dem jetzigen geähnelt; das stand fest. Er hätte schön, geistreich, vornehm, verführerisch aussehen müssen, so wie sicherlich die Männer waren, die ihre ehemaligen Klosterkameradinnen geheiratet hatten. Was die jetzt wohl taten? In der Stadt, im Straßenlärm, im Stimmengewirr im Theater und im Literglanz der Bälle führten sie ein Dasein, in dem das Herz weit wird und die Sinne sich entfalten. Ihr Leben jedoch war kalt wie ein Speicher, dessen Luke nach Norden liegt, und die Langeweile, die schweigsame Spinne, wob im Schatten ihr Netz über alle Winkel ihres Herzens. Sie musste an die Tage der Preisverteilung zurückdenken, als sie auf das Podium gestiegen war, um sich ihre kleinen Kränze zu holen. Mit ihrem Zopf, ihrem weißen Kleid und ihren pflaumenblauen, ausgeschnittenen Schuhen hatte sie reizend ausgesehen, und als sie auf ihren Platz zurückgegangen war, hatten die Herren sich zu ihr hingeneigt und ihr Komplimente gemacht; der ganze Klosterhof hatte voll von Kaleschen gestanden, durch den Wagenschlag hindurch hatte man ihr Lebewohl gesagt, und der Musiklehrer war mit seinem Geigenkasten vorübergegangen und hatte sich verbeugt. Wie lange war all das her, wie lange!

 

Sie rief Djali, nahm sie zwischen die Knie und sagte zu ihr:

»Komm, gib Frauchen Kuss, du hast keine Kümmernisse.«

Als sie dann das melancholische Gesicht des schlanken Tieres betrachtete, das langsam gähnte, wurde sie gerührt, verglich es mit sich selbst und redete ganz laut auf den Hund ein, wie auf einen Betrübten, den man tröstet.

Zuweilen kamen Windstöße, Brisen vom Meer, die mit einem einzigen Schwung über die ganze Hochfläche der Landschaft Caux hinwegfegten und bis weit in die Felder hinein salzige Frische trugen. Die Binsen pfiffen und neigten sich zu Boden, und das Laub der Buchen rauschte in jähem Erschauern, während die immerfort schwankenden Wipfel mit ihrem lauten Murmeln fortfuhren. Emma zog den Schal fester um die Schultern und stand auf.

In der Allee erhellte ein durch das Laubwerk gedämpftes grünes Licht das flache Moospolster, das unter ihren Schritten leise knisterte. Die Sonne ging unter; zwischen den Zweigen war der Himmel rot, und die gleichmäßigen, in schnurgerader Linie gepflanzten Stämme wirkten wie eine braune Säulenreihe, die sich von einem goldenen Hintergrund abhob; Emma überkam ein Angstgefühl, sie rief Djali heran und ging rasch auf der Landstraße nach Tostes zurück, warf sich in einen Sessel und sprach den ganzen Abend kein Wort.

Aber gegen Ende September geschah in ihrem Leben etwas ganz Besonderes: sie wurde nach La Vaubyessard eingeladen, zum Marquis d’Andervilliers.

Der Marquis war während der Restauration Staatssekretär gewesen, und da er ins politische Leben zurückkehren wollte, bereitete er von langer Hand seine Kandidatur für das Abgeordnetenhaus vor. Im Winter ließ er große Mengen von Reisig verteilen, und im Kreisausschuss verlangte er übereifrig Straßenbauten für sein Arrondissement. Im Hochsommer hatte er einen Abszess im Munde bekommen, von dem Charles ihn durch einen Lanzettenstich wie durch ein Wunder geheilt hatte. Der Rentmeister, der nach Tostes geschickt worden war, erzählte abends, er habe im Gärtchen des Arztes köstliche Kirschen gesehen. Nun aber gediehen auf La Vaubyessard die Kirschen schlecht; der Herr Marquis erbat von Bovary ein paar Pfropfreiser und erachtete es als seine Pflicht, ihm dafür persönlich zu danken; er erblickte Emma, fand, dass sie hübsch gewachsen sei und dass sie ihm durchaus nicht wie eine Bauersfrau gegenübertrat; mithin glaubte man im Schloss, man überschreite nicht die Grenze der Herablassung oder begehe andererseits keine Ungeschicklichkeit, wenn man das junge Paar einlade.

Eines Mittwochnachmittags um drei Uhr bestiegen Monsieur und Madame Bovary ihren Einspänner und fuhren nach La Vaubyessard; mit einem großen, hinten aufgeschnallten Koffer und einer Hutschachtel, die vorn auf dem Schutzleder lag. Außerdem hatte Charles noch einen Pappkarton zwischen den Beinen.

Bei Einbruch der Dunkelheit langten sie an, gerade als an den Parkwegen die Lampions angesteckt wurden, um den Wagen zu leuchten.