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Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

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Übrigens ist meine jetzige Lebensweise auch keineswegs üppig zu nennen. Am frühen Morgen Raffenberg mit einer Tasse Milch und einem Stück Brot im Magen verlassend, kehre ich der Regel nach erst abends gegen zehn dahin zurück, zu müde, mehr wie einen Teller saure Milch zu vertilgen. Den Tag über auf meinen Vorwerken wird nach Umständen gelebt, mitunter ein Butterbrot, mitunter ein paar Kartoffeln oder Eier, mitunter gar nichts. Dabei befinde ich mich aber so gründlich wohl und kräftig, daß ich es nicht beschreiben kann.

Mein täglicher Ritt beträgt in gradester Richtung mindestens zwei gute Meilen, wozu dann häufig noch die dritte und vierte kommt. Der Weg ist indessen entweder so hart oder bei nassem Wetter so schlüpfrig, das Terrain so hügelig, so viel Moraste, Gräben und mühsame Pfade, daß von scharfem Reiten selten die Rede ist und daß die Zeit zu Pferd mir immer eher eine angenehme Erholungszeit für Geist und Körper als eine Anstrengung ist. Die Szenerie ist zum großen Teile wirklich so lieblich und wird für mein Auge mit jedem Tage so viel lieblicher, daß ich Euch auf Eurer Reise im Thüringer Walde gar nicht zu beneiden brauche.

Jeden frühen Morgen führt mich mein Weg durch den im frischen üppigen Grün prangenden Buchenwald, meist auf selbstgesuchten näheren Pfaden, wo ich oft Zweig für Zweig zurückbiegen oder gebückt durch Laubengänge kriechen muß. Und des Abends, so wie gestern zum Beispiel, kehre ich im Mondschein wieder zurück, am liebsten an den Bachufern entlang, wo die Nachtigallen seit drei Wochen schon fleißig am Singen sind. Meine Feldmarken selbst aber sind wie aus der schönsten westfälischen Landschaft herausgeschnitten, mit Eichengruppen, kleinen Wiesen, Hecken und zerstreuten Pächterwohnungen mannigfach verziert; dazu dann eine weite herrliche Aussicht über das ganze Gramenzer Gelände (denn Schoffhütten und Zechendorf liegen wohl mehrere hundert Fuß über den Gramenzer Wiesen). Da geht mir nicht selten das Herz so auf, daß ich laut aufjauchzen möchte vor Fröhlichkeit.

Zu andern Zeiten kann ich dann freilich auch eine gewisse Wehmut nicht zurückweisen, wenn ich die schönen alten Pächtereien, auf denen oft ein und dieselbe Familie hundert Jahre gewohnt hatte, nun verwaist und verlassen stehen sehe, und nicht selten trifft man auf Leute, denen in Erinnerung an ihre alten Wohnstätten, die sie als ihr Eigentum anzusehen sich gewöhnt hatten, die Tränen in die Augen treten. Wie weit da nun Recht oder Unrecht waltet, kann ich nicht beurteilen, geht mich auch gar nichts an. So viel weiß ich aber, daß so viele Leute ihres heimatlichen Landes beraubt sind, ohne daß bis jetzt Herrn von Senfft der geringste Nutzen daraus erwachsen ist. Denn das den Pächtern genommene Land ist teilweise in Hände geraten, die es noch mehr mißhandelt haben wie jene.

Der jetzige Oberinspektor aber, dahinter sind wir bald genug gekommen, ist in der Tat ein höchst untüchtiger Mann, der seiner Stellung nicht im geringsten gewachsen ist. Er hat in sehr wilder und leichtsinniger Weise darauf losgewirtschaftet, Land und Leute verdorben und Herrn von Senfft großen Schaden gemacht. Es ist daher auch bald ein drückendes Verhältnis zwischen Ernst und mir auf der einen Seite und ihm auf der andern Seite eingetreten. Wir kamen zuerst mit unsern Verbesserungsvorschlägen zu ihm. Aber da wir von ihm zurückgewiesen wurden, hielten wir uns bald für verpflichtet, sie durch Herrn von Senfft selbst durchzusetzen, der uns in allen Stücken ein fast zu großes Vertrauen schenkt. Dadurch ist nun der Mann moralisch sehr heruntergedrückt, während unser Wirkungskreis sich sehr erweitert hat. Einmal mißtrauisch geworden, haben wir uns bald verpflichtet gefunden, überall mit zuzusehen, haben in der Fruchtfolge geändert, im ganzen Leutewesen reformiert, ohne des Oberinspektors Einwilligung das Rechnungswesen umgestaltet usw. Dadurch sind wir allmählich sehr mächtig geworden und sind fast wider unsern Willen in eine Stellung hineingeraten, der wir gar nicht recht gewachsen sind.

Zum Schluß will ich nur noch sagen, daß unser Familienleben, nämlich Ernst Senffts und meins, einzig ist und daß die Freude, mit dem unvergleichlichen Jungen zusammen leben zu können, alle andern Freuden, die mir hier Natur und Beruf reichlich gewähren, weit übersteigt. In einem kleinen Zimmer, mit allem möglichen Studentenflitter ausgestattet, hausen wir auf das lustigste, präsidieren bei Tafel über zwei Wirtschaftslehrlinge und einen Schulmeister, denen gegenüber wir die Würde zweier Wirtschaftsprinzipale einzunehmen wissen. Daß bei unserer jetzigen Tätigkeit nicht viel von theoretisch-wissenschaftlichen Studien die Rede sein kann, magst du leicht denken. Gleichwohl passiert es uns gar häufig, daß wir uns des Abends unwillkürlich aus übergroßer Müdigkeit aufrütteln und uns über irgend einem unserer guten alten Klassiker bis tief in die Nacht hinein ergötzen oder uns an beiderseitigen reichen Erinnerungen aus den letzten Jahren, die wir noch lange nicht alle ausgetauscht haben, beglücken.

In der leisen Hoffnung, wenn nicht Dich selbst, so doch eins der Schwesterchen mit Herrn von Senfft von Berlin ankommen zu sehen, bin ich freilich diesmal getäuscht worden, hoffe aber doch noch einmal, Dir und ihnen unsere Herrlichkeit hier zeigen zu können.

Verzeih mein wildes, unruhiges, unordentliches Geschwätz noch einmal, indem ich hoffe, bald vollständigere Nachricht geben zu können, und grüße die Mutter und die Schwestern

von Deinem gehorsamen Sohn
Friedrich.

„Da der alte Herr”, so heißt es in den Erinnerungen weiter, „die gewöhnlichen Tänzereien bei den Erntefesten nicht litt, so erlaubte er meinem Freunde und mir, unsere Erfindungskraft anzustrengen, auf welche Weise dennoch fröhliche Volksfeste gefeiert werden könnten, um den Tagelöhnern und ihren Kindern nach der heißen Sommerarbeit einen Festtag zu gewähren. An irgend einem hochgelegenen Waldrande unter Eichen und Buchen wurden eine ganze Reihe von Feldküchen eingerichtet und ganze Körbe voll Kuchen und Obst hinausgeschafft. Mit Lied und Lobgesang im Kirchen- und Volkston wurde begonnen. Dann folgte eine Ansprache an die Versammlung, die auf die reiche Güte Gottes hinwies. Jetzt ging’s an die fröhliche Mahlzeit, die von den Gesängen der Kinder unterbrochen wurde. Dann wurde zu den mannigfaltigsten Spielen eingeladen, die für die Größeren und die Kleineren, für die Burschen und für die Mädchen besonders eingerichtet waren. Am Abend wurde mit Gesang und Gebet geschlossen.

Eins dieser Feste, das wir an einem besonders herrlichen Platz meines hochgelegenen romantischen Schoffhütten feierten, nahm freilich ein trauriges Ende. Denn der Pommer liebt leider den Schnaps über alle Maßen. Lieschen Senfft, die Schwester meines Freundes, hatte den Honoratioren der Gesellschaft eine Überraschung bereitet. In einer besonders dichten Waldecke hatte sie einen kleinen Platz aushauen lassen, zu welchem ein ganz verborgener Pfad führte. Hier war künstlich eine schöne Laube zurechtgeflochten, mit Blumen geschmückt und mit Rasenbänken versehen, zwischen denen die schönsten Kaffeetische mit allerlei Zubehör aufgeschlagen waren. Während nun unsere Dorfbewohner fröhlich schmausten und Kaffee tranken, hatten wir uns hierher zurückgezogen. Da kam plötzlich die Nachricht: „Man prügelt sich.” Irgend ein Nichtsnutz hatte in ein anderes Waldgestrüpp ein Schnapsfaß eingeschmuggelt. Dem hatten eine Anzahl junger Burschen so fleißig zugesprochen, daß alsbald nach pommerscher Weise auch das Prügeln begann. Denn Schnaps und blutige Prügeleien waren hier alte Volkssitte. Die Männer liefen mit langen Knütteln bewaffnet herzu, um Frieden zu stiften. Da galt es denn für meinen Freund und mich, mitten zwischen die Knüppel zu springen, und nur mühselig gelang es uns, den Blutströmen zu wehren. Der traurige Abschluß unseres Festes war der Anlaß, daß hinfort keins dieser fröhlichen Volksfeste mehr gefeiert wurde.

Übrigens diente während der Erntezeit dieses ersten Sommers ein merkwürdiges Ereignis dazu, mir die Augen über die ganzen Verhältnisse noch mehr zu öffnen. Mein Freund und ich waren spät abends noch zu einem Moorbrand gerufen worden, dessen Löschen uns bis tief in die Nacht hinein beschäftigt hatte. So hatte ich nur wenig Schlaf gefunden, als ich am andern Morgen um fünf Uhr schon wieder mein Pferd bestieg, um meinen gewohnten Weg nach meinem Vorwerk einzuschlagen. Dort bin ich aber von niemand bemerkt worden. Dagegen kam ich nach etwa sieben Stunden auf dem Pferde sitzend wieder in Raffenberg an. Meine Dido hatte ihre beiden Knie und ich meinen Kopf etwas wund. Ich stieg noch selbst vom Pferde und wollte, wie ich es gern, wenn ich nach Haus kam, zu tun pflegte, das kleine Töchterchen unserer Wirtin auf den Arm nehmen. Diese bemerkte aber etwas Besonderes an mir, gab mir das Kind nicht, sondern geleitete mich auf mein Zimmer, brachte mich zu Bett und sorgte für kalte Umschläge auf meinen Kopf. Erst mit hereinbrechender Nacht wachte ich auf und sah den lieben alten Herrn von Senfft an meinem Bette sitzen.

Offenbar bestand die Lösung des Rätsels darin, daß ich infolge meiner geringen Nachtruhe auf dem Pferde eingeschlafen war und daß meine Dido, durch keinen Zügel gehalten, gestürzt war. Da ich das gelehrige Tier daran gewöhnt hatte, sowohl frei hinter mir herzugehen, indem ich ihm den Zügel über den Hals legte, als auch still zu grasen, wenn ich mich irgendwo ein wenig ausruhen wollte, so hatte mich Dido auch nach unserm beiderseitigen Sturz nicht verlassen, bis ich nach etwa fünf- bis sechsstündigem Liegen auf der Erde wieder so weit zur Besinnung kam, daß ich in den Sattel kommen konnte. So hatte denn das Pferd von selbst seinen Weg nach Hause eingeschlagen. Merkwürdig war nur, daß von dem Vorgefallenen nichts in meiner Erinnerung geblieben war.

Der Arzt stellte eine Gehirnerschütterung fest, und ich hatte etwa vierzehn Tage völlige Ruhe nötig. Erst allmählich lernte ich wieder gehen und lesen, da mir beides anfangs schwer gefallen war. Für diese Ruhezeit nahm mich der alte Herr von Senfft mit nach Gramenz und ließ mich auf das treuste pflegen. Zugleich fand ich hier Gelegenheit, tiefere Blicke in die auf mannigfache Weise zerrütteten Verhältnisse zu tun und auch die Persönlichkeiten zu durchschauen, die dem Bestehen des Ganzen gefährlich waren. Zu meinem Freunde zurückgekehrt, teilte ich ihm alles mit, was ich wahrgenommen, und nicht ohne heiße Kämpfe wurden nun einige Persönlichkeiten aus dem Sattel gehoben, die bis dahin in der höchsten Gunst des alten Herrn gestanden hatten, aber sonst als Tyrannen gefürchtet waren.

 

Damit brach nun allerdings für mich eine sehr ernste Zeit an. Der alte Herr forderte mich auf, und die Umstände ließen es auch nicht wohl anders zu, die Leitung des ganzen Gutes zu übernehmen. Da ich von Kienitz her mit dem Zuckerrübenbau sehr genau vertraut war, so glaubte er wohl, ein besonderes Recht dazu zu haben, mir die neue Aufgabe zuzumuten. Denn an den Zuckerrüben schien in der Tat die Rettung der ganzen Lage zu hängen. Da er selbst, wie schon bemerkt, nach Stettin übergesiedelt war und sich nur noch gelegentlich in Gramenz aufhielt, so mußte ich meinen Wohnsitz von Raffenberg nach Gramenz verlegen.

Im Herbst 1853 verließ mich mein Freund Ernst, um in Berlin sein Einjährigenjahr abzudienen. Aber Gott schenkte mir ein paar tüchtige neue Gehilfen. Der eine war der Bruder meines früheren Lehrmeisters in Mechern, Bieler, der schon in Kienitz mit mir zusammen gearbeitet hatte, und der andere der Sohn meines früheren Religionslehrers, des Dompredigers Snethlage, Moritz, der anstelle von Ernst Senfft die Bewirtschaftung von Raffenberg übernahm.

Es war kein Geringes, was auf meine Schulter gefallen war. Im Äußeren schenkte Gott gerade für dieses Jahr viel Segen und Hilfe, sodaß die materiellen Nöte zu schwinden schienen. Aber um so größer waren die Nöte und Gefahren, die auf meiner Seele lagen, und oft stieg ich an der Stelle, wo ich, wie ich vermutete, an jenem Morgen bewußtlos gelegen hatte, vom Pferde – die Stelle lag an einem schattigen Bachufer mitten im Walde verborgen – , um Gott um Hilfe anzuschreien. Es waren im ganzen zwölf Inspektoren, ältere und jüngere, die alle der Leitung und Aufsicht bedurften. Dazu fühlte ich aber keineswegs die Kraft in mir. Sonntagmorgens ging man wohl nach alter Ordnung in die Kirche, aber den ganzen Sonntagnachmittag pflegten wir auf der Kegelbahn zuzubringen, und an viel Leichtsinn und Verirrungen mancherlei Art fehlte es unter uns nicht.

Doch wir jungen Leute fanden in unsern geistlichen Nöten einen besonders treuen Freund. Das war der Posthalter von Gramenz, ein früherer Wirtschaftsinspektor, der aber, weil er leidend war, diesen leichteren Posten übernommen hatte. Er hieß Otto Mellin. Oft wenn jemand einen Brief holte oder brachte, hörte er gleichzeitig dessen verborgenste Klagen mit an und teilte Freud und Leid mit jedermann. In besonderen Fällen aber, und wenn Zeit und Stunde es erlaubten, nahm er den Betreffenden mit in sein kleines freundliches Stübchen, das hinter dem Postbüro lag. Dort schlug er in der Bibel die Stelle auf, die ihm für die besondere Not die rechte Arznei zu liefern schien.

Unverhofft merkten wir, der eine wie der andere unter uns jungen Leuten – denn laut wurden diese Sachen nicht verhandelt – , daß man in Otto Mellin einen Freund gefunden und an derselben Quelle Hilfe und Trost geschöpft hatte. Unser lieber Pastor Diekmann, der kräftig und treu sein Amt verwaltete, war persönlich zu heftig, sodaß man sich nicht zu ihm traute. So bot der liebe Mellin, der in unsern schalkhaften Freundeskreisen immer „Seine Majestät die Post” hieß, einen Ersatz für das, was wir bei unserm Pastor an Seelsorge nicht fanden.

Durch Freund Mellin machte ich in einer Hütte, die zu Gramenz gehörte, die Bekanntschaft eines armen Kranken, die für mich von besonderem Wert wurde. Der Besuch in dieser Hütte war um so bedeutsamer für mich, als er in großem Gegensatz stand zu einer früheren Erfahrung. Der alte Herr von Senfft hatte mir einmal im ersten Jahre eine Rolle mit 100 Talern geschenkt mit dem Auftrag, sie zum Besten der Armen zu verwenden, und zwar in den beiden Vorwerken, die mir zuerst anvertraut waren. Besonders in einem dieser Vorwerke herrschte noch in ungezügelter Grausamkeit der Branntwein. Von dieser Macht des Branntweins hatte ich gleich in einer der ersten Katen, in die mich meine Armenbesuche führten, einen besonders erschreckenden Eindruck. Bei den alten pommerschen Katen waren die vier Pfosten der Hütte ohne jede Schwelle einfach auf vier Steine gesetzt. Je mehr nun diese Pfosten an ihrem unteren Ende faulten, desto tiefer sank die Hütte zur Erde herunter. Solange der Branntwein in solch schornsteinlosen Hütten nicht das Regiment führte, ließ sich ganz glücklich darin leben. Ja, es hatte früher einen langjährigen Krieg der Bewohner dieser alten Hütten gegen die modernen Schornsteinhäuser gegeben.

Aber in der obenerwähnten Hütte, in die ich nur mit gebücktem Kopf hatte eintreten können, herrschte der Branntwein. Der Mann soff, solange er etwas hatte, die Frau auch, und selbst ihren Kindern gaben sie zur Betäubung des Hungers von dem unseligen Naß. Als ich nun durch die niedrige Tür in den einzigen Raum, den der Katen enthielt, hineingekrochen war, sah ich auf dem Strohlager an der Erde eine Leiche liegen. Es war die Leiche der Mutter des Hauses. Während ich noch, entsetzt von dem Anblick der Not und des Grauens, dastand, bewegte sich die Decke, und ein schmutziger Kinderkopf und bald noch einer guckten unter der Decke hervor, verkrochen sich aber bald wieder, denn es war bitter kalt. Draußen lag Schnee und drinnen brannte kein Feuer.

Bei dieser armen Familie versuchte ich zuerst mein Heil mit meinen 100 Talern, wurde aber gründlich zuschanden. Denn der Roggen, den ich ihnen schenkte, und die Kleider, die ich für die armen zerlumpten Kinder kaufte, wurden, soweit es möglich war, wieder in Branntwein verwandelt. Ähnlich ging es mir bei andern Familien. Meine 100 Taler waren im Umsehen ausgegeben; aber ausgerichtet hatte ich nichts. Und diese Lehre war mir nicht zum Schaden, denn ich lernte, daß mit bloß menschlichen Künsten der Gutmütigkeit gegen menschliches Elend und gegen Sünde, von der das Elend stammt, nichts auszurichten ist.

Wie ganz anders sah es aber in der Hütte aus, in die mich mein Freund Mellin führte! Auch in ihr wohnte große Armut und Krankheit und Elend dazu. Aber statt des Branntweins hatte hier der Friede Gottes das Regiment! Seit 28 Jahren, fast von seiner Jugend an, lag hier auf verhältnismäßig sauberem Lager ein Lazarus: „der kranke Fritz”, so hieß er im Dorf. Aber er besaß, was mehr war als die Schätze Ägyptens: er wußte, was er an Jesus Christus hatte, nämlich die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden. Und das machte ihn reich und glücklich. Der Vergleich mit den armen Branntweinsäufern, die mit keinem Mittel menschlicher Weisheit aus ihrem Elend gerissen werden konnten, zugleich mit der Erinnerung an meine vergeblich ausgegebenen 100 Taler – und dem gegenüber der kranke Fritz mit seinem reichen Besitz der unvergänglichen köstlichen Perle machten einen tiefen Eindruck auf mich. Der kranke Fritz wurde von da ab im Verborgenen mein Freund. Gott allein weiß es, und die Ewigkeit wird es klarmachen, was ich ihm verdanke!

Mitten in diese für mich so bewegte Arbeits- und Kampfeszeit fiel ein Ereignis besonderer Art. Ich war eines Abends im Monat Mai 1854 nach Buchwald hinübergeritten, wo mir ja immer der Eintritt in das liebe Glasenapsche Familienleben offen stand. Da wurde ein Brief durch einen besonderen Boten von Gramenz hinter mir her geschickt. Er war von der Hand meiner lieben Mutter und begann: „Ehe Du diesen Brief liest, mein lieber Sohn, bitte Gott, daß es Dir zum Segen werde, was ich Dir mitteilen muß.” Und nun kam die Nachricht von dem seligen Heimgang meines Vaters.

Der Vater hatte sich schon mehrere Jahre zuvor wieder eine Arbeit vom König ausgebeten. Und zwar hatte er gewünscht, daß ihm wieder ein Landratsamt zugewiesen werden möchte. Er trachtete nicht nach hohen Dingen, und solch ein geringer Posten wäre ihm in der Tat das liebste gewesen. Statt dessen hatte ihn der König im Jahre 1852 zum Regierungspräsidenten in Arnsberg ernannt anstelle des jüngeren Bruders meines Vaters, der das Finanzministerium in Berlin übernahm. Auch dieser Posten war ihm recht, und er hat ihn mit größter Freudigkeit und Treue die zwei letzten Jahre seines Lebens verwaltet.

Etwa ein Jahr vor der mir ganz überraschend gekommenen Todesnachricht hatte mich schon einmal ein Brief der Mutter plötzlich den weiten Weg von Gramenz nach Westfalen machen lassen. Die Mutter schrieb, daß der Vater tödlich erkrankt sei und die Ärzte wenig Aussicht für sein Leben ließen. Als ich nach Berlin zu meinen Verwandten kam, war die dort eingetroffene Nachricht noch hoffnungsloser, sodaß ich nichts anderes mehr erwarten konnte, als des Vaters Antlitz hienieden nicht mehr zu sehen.

Ich kam von Soest mit der Post abends zehn Uhr in Arnsberg an, wo das elterliche Haus dicht bei der katholischen Kirche an einem freien Abhang gelegen war. Der Mond stand hell am Himmel. Ich traute mich zunächst nicht in das Haus hinein, sondern ging von allen Seiten herum, um an den etwa vorhandenen Lichtern zu erkennen, was ich darin wohl vorfinden würde. Noch stand ich einen Augenblick an das Geländer des Abhangs gelehnt, als plötzlich die Haustür aufging und ein Mann heraustrat. Es war der Doktor. Ich lief ihm nach und faßte ihn beim Arm. „Gehen Sie nur getrost hinein,” sagte er, „seit heute mittag ist die Krisis zum Leben eingetreten.”

Drinnen fand ich außer der Mutter und den beiden Schwestern auch meine beiden Brüder, die bereits vor mir eingetroffen waren, Franz von seiner Oberförsterei, Ernst, der den Soldatenstand erwählt hatte, von seiner Garnison in Frankfurt a. M. Ich war der weiteste und letzte. Am Morgen nach meiner Ankunft hörte ich, an der Tür stehend, den Vater zur Mutter sagen: „Frau, was machst du für ein Gesicht! Ich glaube, der Friedrich ist auch da.” So mußte ich denn hinein. Dann haben wir miteinander, wie schon so oft, die selige Zeit der Wiedergenesung des Vaters mit innigster Dankbarkeit und Freude gefeiert. Denn sobald die Krisis eingetreten war, ging es bei der kräftigen Natur des Vaters meist schnell wieder mit ihm aufwärts. Es war dies das letzte Zusammensein, das ich auf Erden mit dem teuren Vater hatte. Noch einmal kosteten wir alle mit vollen Zügen das friedsame Glück unseres Familienlebens.

Bei Gelegenheit dieser seiner Erkrankung hatte Vater vor der Feier des heiligen Abendmahls einmal gesagt: „Herr, wenn du siehst, daß es mir und den Meinen heilsam ist, daß ich noch bleibe, so will ich wohl bleiben; wenn du aber siehst, daß ich von dir abkommen sollte, so nimm mich nur gleich dahin!” Dem Pastor Bertelsmann aber sagte er damals: „Ein armer bußfertiger Sünder stirbt allezeit in Frieden.” Von dieser Zeit ab äußerte er öfter das Verlangen, daß ihm Gott doch ein langes untätiges Alter ersparen möchte und, wenn er nicht mehr arbeiten könne, mit ihm eilen möchte aus der Zeit in die Ewigkeit.

Besonders schwer lag meinem Vater meine Zukunft auf der Seele. Weil er arm war und mir kein eigenes Gut kaufen konnte, mich auch die Bewirtschaftung unseres kleinen Familienbesitzes Velmede nicht hätte befriedigen können, so hatte ich meinem Vater öfter erklärt, daß ich gern mein Leben lang als Verwalter fremder Güter arbeiten wolle. In der Tat erscheint mir das noch jetzt viel leichter, als selbst Besitzer zu sein, wenigstens unter den Verhältnissen, in denen sich die meisten Besitzer der östlichen Provinzen befinden. (1884 geschrieben.) Einmal ist es die Last der Sorge, die einen großen Teil von ihnen drückt, da sie mit Schulden beladen sind. Aber noch mehr sind die Umstände qualvoll, daß sie sich immer in den Gewinn der Ernte gewissermaßen mit den Tagelöhnern zu teilen haben und dabei der beständige Kampf nicht aufhört, wieviel sie diesen geben, wieviel sie selbst behalten sollen. Für einen Verwalter fremden Gutes, der keinen eigenen Gewinn für sich daraus zu ziehen hat, ist dagegen die Lage unvergleichlich leichter, und die Sorgen sind so viel geringer.

Gleichwohl war dieser Gedanke meinem Vater schwer; und er hatte den Wunsch, da meine Gesundheit sich inzwischen wieder vollkommen gekräftigt hatte, daß ich noch einmal eine Universität beziehen möchte. Was ich aber nach seiner Meinung studieren solle, sagte er nicht. Bloß wenn vom juristischen Studium die Rede war, sagte er: „Junge, das ist für dich zu trocken, das hältst du nicht aus.” – So blieb diese Frage offen. Ich reiste von Arnsberg nach Pommern zurück, um zunächst meine dortige Arbeit fortzusetzen, in der ich dann, ein Jahr später, durch die Nachricht von dem Tode meines Vaters überrascht wurde.

 

Durch eine Hungersnot, die infolge einer Mißernte im südlichen Teil des Regierungsbezirks Arnsberg herrschte, hatte Vater im Frühling 1854 eine ihn besonders bedrückende Last auf sich liegen. Er liebte es nicht, solche Nöte vom grünen Tisch aus zu bekämpfen, sondern hatte sich persönlich nach dem armen Wittgensteiner Land aufgemacht. Er hatte zu Fuß die armen Ortschaften durchwandert und war selbst in die Hütten eingetreten, an deren Tür der Hunger klopfte, um nach eigenem Augenschein desto leichter und gründlicher Abhilfe schaffen zu können.

Eines Nachmittags wurde er von einem Regenschauer überrascht, sodaß er durchnäßt in dem kleinen Städtchen Medebach anlangte. Dort war es, wo ihm Gott seine Sterbestunde bescherte. So wie er es sich gewünscht hatte, wurde er mitten aus seiner frischen, fröhlichen Arbeit herausgerufen. Die Mutter konnte auf die Nachricht von seiner Erkrankung noch zu ihm eilen und einige Tage das ihr allezeit köstliche Glück genießen, ihn selbst pflegen zu dürfen und mit ihm stille, selige Stunden zu feiern. Sie war diesmal voller Hoffnung, daß es wieder zum Leben gehen würde. Dann aber war plötzlich Lungenschlag eingetreten, der beiden nur eben so viel Zeit ließ, voneinander Abschied zu nehmen, ohne daß zu einem langen schmerzlichen Scheiden Zeit geblieben wäre.

Als beide Schwestern, Frieda und Sophie, die zuerst die Trauernachricht erreichte, in das Zimmer traten, wo die Mutter neben der Leiche des Vaters saß, da sahen sie zu ihrem Erstaunen nicht ein von Schmerz zerrissenes, sondern von Dank verklärtes Antlitz, ebenso voll Frieden als das verblichene Antlitz des Vaters selbst. „Aber du weinst ja nicht?” fragt eine der Schwestern. „Wie sollte ich weinen,” war ihre Antwort, „da Gott ihn mir 28 Jahre lang gelassen hat und wir so unbeschreiblich glücklich zusammen gewesen sind!” Es war freilich noch etwas Größeres, das ihre Tränen stillte und ihre Traurigkeit in Freude verwandelte: Sie wußte, daß sie nicht in Ewigkeit geschieden waren, sondern vielmehr im Vaterhause ewig verbunden sein sollten.

Ich mußte manches entbehren von dem Segen, der meinen Geschwistern in diesen Tagen geschenkt wurde. Der Brief meiner Mutter nach Gramenz hatte nahezu drei Tage gebraucht, und wiewohl ich mich auf der Stelle aufmachte und Tag und Nacht reiste, so fand ich doch nur das bereits mit Erde zugedeckte Grab meines Vaters. Und doch waren es Tage unerwartet reichen Segens und Friedens, die uns um das Grab versammelten Geschwistern zuteil wurden, als wir noch einige Tage bei der Mutter blieben. Bei unserer lieben Mutter war es immer so, daß gerade während der Zeit des ersten und tiefsten Schmerzes der Glaube in ihr sich am sieghaftesten bewies und die Freude über die Tröstungen Gottes viel größer war als der Schmerz. Besonders groß aber war ihre Freude, als sie während unseres Beisammenseins merkte, daß wir fünf Geschwister alle uns mit ihr auf demselben Wege befanden und ihren Glauben und ihre Hoffnung teilen konnten.

Jedes von uns Geschwistern hatte in jener Zeit in großer Versuchung und Gefahr gestanden oder doch in ernster und schwerer Entscheidung seines Lebens. Noch vor dem Tode des Vaters hatte sich meine Schwester Sophie mit dem Landrat Julius von Oven, mein Bruder Franz mit Clara von Hymmen verlobt. Mein jüngster Bruder Ernst stand bei den Jägern in Frankfurt a. M. Wir Geschwister waren nie gewohnt gewesen, uns über alles auszusprechen, was den tiefsten Herzensgrund bewegte. Aber diesmal öffnete uns die ernste große Stunde den Mund. Mehr wie jemals sonst konnten wir einander ins Herz sehen lassen. Es war uns allen zu Mute, als wenn der Vater, den doch keiner von uns vor seinem Sterben gesehen hatte, noch vorher jedem seine Hände aufs Haupt gelegt und jedem einen ganz besonderen Segen mitgegeben hätte, und wir konnten uns vorstellen, daß er das, was er leiblicherweise zu tun nicht mehr vermocht hatte, doch im Geiste getan hatte und daß er jetzt im ewigen Vaterhause unser aller segnend und liebend gedenke.

Acht Tage dauerte dies unser köstliches Beisammensein. Dann mußte ich in meine große schwere Arbeit zurück. Während der Reise war es nicht eigentlich meine Sorge, wie ich die noch übrigen fünf Monate bis zur Rückkehr meines Freundes Ernst die Verwaltung des großen Gutes leiten sollte, sondern ein anderes bedrückte mich. Mehr wie je vorher hatte ich ein Verlangen nach einer stillen Stunde der Einkehr, zu der während der Arbeitslast der Woche keine Zeit war. Am Sonntag hätte es ja sein können. Aber es war ja unsere Gewohnheit, daß wir jungen Leute den ganzen Sonntagnachmittag auf der schönen Kegelbahn zubrachten, die auf der Insel im Garten recht traulich angelegt war. Und wer wollte uns jungen Leuten diesen Zeitvertreib verargen? Trotzdem hätte ich mich gar zu gern hiervon freigemacht, um den Sonntagnachmittag still für mich allein zu haben. So bat ich Gott, er möge mir einen Weg zeigen, wie ich davon loskäme, ohne eine Unwahrheit zu sagen und ohne mehr von mir zu verlangen, als ich damals öffentlich zu bekennen die Kraft hatte.

Da sah ich es denn als eine Erhörung meines Gebetes an, was mir gleich bei meiner Ankunft in Gramenz widerfuhr. Mein Pferd, der Soliman, ein ausgezeichnetes, ausdauerndes Roß, war während der langen Ruhezeit übermütig geworden. In dem Augenblick, wo ich mich zum erstenmal wieder in seinen Sattel schwang, stieg das Tier steil in die Höhe und überschlug sich rückwärts, sodaß ich unter das Pferd auf das Steinpflaster des Hofes zu liegen kam. Ich hatte weiter keinen Schaden genommen, als daß mein rechter Ellbogen kräftig blutete und der Knochen etwas verletzt war. Aber ich mußte doch meinen Arm mehrere Wochen lang in der Binde tragen; und während der Gramenzer Zeit erstarkte er überhaupt nicht wieder so weit, daß ich eine Kegelkugel damit hätte schieben können. So hatte ich den mir erbetenen stillen Sonntagnachmittag.

Gott schenkt uns mitunter Zeiten in unserer Pilgerschaft, wo wir nicht im dunklen Glauben, sondern im seligen Schauen seiner Gnadenwege einhergehen können und wo jeder Tag uns ein neuer Beweis seiner Barmherzigkeit und Treue ist. Solch eine Zeit brach jetzt für mich an. Ich benutzte sogleich meinen ersten Sonntag, um mich, während die andern Kegel schoben, still in Gottes Wort zu vertiefen, das mir seit meiner frühsten Kindheit ja genug gepredigt worden, mir aber nicht wieder recht persönlich nahegetreten war. Ich stand auch wochentags eine Viertelstunde früher als sonst auf, um unter den alten Linden im Garten auf- und abzuwandeln und dort ungestört meine Morgenandacht zu halten. Jedes Wort der Schrift – ich pflegte jedesmal ein Kapitel aus dem Neuen Testament zu lesen – sah ich nun mit ganz andern Augen an als je zuvor.

Dazu kam noch ein Erlebnis eigener Art. Ich hatte seit einiger Zeit die Gewohnheit, den Kindern, die mir beim Reinigen der großen Zuckerrübenfelder halfen, außer ihrem Lohn einen der kleinen Traktate zu geben, die entweder aus Stuttgart oder Straßburg oder auch aus Basel stammten und die ich von dem Kolporteur bezog, den der alte Herr von Senfft angestellt hatte. Viele Tausende dieser Traktate hatte ich schon verteilt, doch selbst gelesen hatte ich noch keinen.

Eines Sonntagnachmittags aber, als die andern wieder am Kegelschieben waren, fiel mein Blick auf einen dieser kleinen Kindertraktate. Er hieß: „Tschin, der arme Chinesenknabe”, und kam aus Basel. Er erzählte von einem armen Chinesenkinde, das englische Soldaten während des bekannten Opiumkrieges der Engländer gegen China in Schutz genommen hatten, nachdem des Kindes Vater, weil er den Engländern Dienste geleistet hatte, von den Chinesen ergriffen und hingerichtet worden war. Um das arme Waisenkind zu retten, brachten es die Soldaten mit nach England. Hier nahmen sich christliche Freunde des armen Knaben an, er wurde treulich unterrichtet, kam zum kindlichen Glauben und wurde getauft. Dann aber erkrankte er, wie so viele Kinder des Südens, die in unser kaltes Land kommen, an der Lunge und siechte langsam dahin. Er hatte aber beständig nur ein Verlangen, nämlich daß er seinen Landsleuten auch von dem Heiland sagen könnte, den er selbst gefunden hatte, und er sprach es einmal mit großem, heiligem Ernst aus: „Was soll ich einmal am Tage des Gerichts sagen, wenn meine Brüder mich fragen würden, warum ich, obwohl ich den Weg des Heils gewußt, ihnen solches nicht mitgeteilt hätte?”