Die Gräfin von New York

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Nein, das konnte nicht sein.

Der Sheriff fand einfach keinen einzigen überzeugenden Anhaltspunkt, der ihn schnell auf eine erfolgversprechende Fährte geführt hätte. Also spannte er den Bogen weiter.

Zu Beginn seiner Aktivitäten als Züchter hatte John viel Geld auf seine eigenen, schnellen Pferde gesetzt. Die waren vor den ersten Rennen noch völlig unbekannt gewesen und liefen daher anfangs immer als krasse Außenseiter.

Nur John und seine engsten Vertrauten rund um das Gestüt wussten von ihrer außergewöhnlichen Schnelligkeit.

Seine hohen Summen auf den Sieg dieser Neulinge bei den Galoppern brach so manchem Betreiber von Wettbüros finanziell das Genick.

Manche von ihnen hatten nach ihrem Ruin sogar in aller Öffentlichkeit Rache dafür geschworen. Einige hatten sich in der ersten Erregung sogar dazu hinreißen lassen, damit zu drohen, ihn umzubringen.

Aber selbst finanzieller Ruin konnte einfach nicht der Grund dafür sein, John gleich in einer derartigen Raserei die Gedärme aus dem Leib zu reißen. Oder etwa doch?

Carmen Mendez riss Delano aus seinen Überlegungen, indem sie sich besorgt zu Wort meldete: „Mister Sheriff, wird Missi wieder gesund? Wird Missi weiterleben?“

Sie schaute dabei abwechselnd von der Verletzten zum Sheriff und wieder zu ihrer Herrin, deren Schenkel jetzt wieder anfing, leicht zu bluten.

Paco hatte ihr bereits, noch bevor er in höchster Eile in die Stadt gefahren war, um den Sheriff zu holen, die Angst um ihrer beider Jobs mit seinen schwarzmalerischen Bemerkungen in hoher Dosis eingeimpft.

Gregory Delano hatte Sandra Freyman inzwischen ebenso ausgiebig wie fachmännisch beschaut und Verletzungen und Blutverlust mit dem Blick seiner fast zehn Jahre andauernden Erfahrung abgeschätzt.

Leicht genervt wegen des rüden Fahrstils ihres Mannes antwortete er auf Carmens Frage.

„Wenn dein Mann uns mit seiner Fahrweise nicht alle umbringt, dann hat sie vielleicht Chancen.“

Carmen musste erst eine Weile überlegen, was er denn mit dieser Aussage meinte.

Der Unmut in Gregory Delanos Stimme war ihr nicht entgangen. Warum aber sollte der immer so gutmütige Paco sie alle umbringen wollen? Das verstand sie einfach nicht. Dafür hatte er doch keinerlei Grund?

Gut, öfter war er aufbrausend, manchmal gar gemein ihr gegenüber, aber richtig bösartig war Paco nie gewesen.

Nach einigem Grübeln dämmerte es ihr schließlich, was der knurrige Sheriff mit seiner Aussage gemeint hatte. Sie reagierte umgehend darauf.

„Paco, mach vorsichtig, fahr doch nicht so schnell“, rief sie nach vorne ins Fahrerhaus.

Auch sie war darauf konditioniert, jeden, der eine hellere Haut hatte, als sie selbst, als natürlichen Befehlsgeber zu sehen. Und der jetzt von ihr erkannte Sarkasmus zählte für sie zu einer Art Befehl, dem Folge zu leisten war.

„Keine Sorge, Carmencita! Hab‘ alles im Griff. Ich pass schon auf. Ich werde aber trotzdem das Gas etwas zurücknehmen“, beruhigte sie ihr Ehemann.

Paco dachte gar nicht daran, langsamer zu fahren.

Im Gegensatz zu Gregory Delano, der inzwischen überzeugt war, Sandra Freyman sei nicht ganz so schwer verletzt, dachte Paco immer noch, sie wäre dem Sterben näher als dem Leben und könne nur durch schnellsten Transport zum Arzt noch gerettet werden.

Außerdem hatte er doch die letzten zwei Jahre hintereinander das örtliche Geschicklichkeitsfahren der Chauffeure gewonnen; jeweils als schnellster und ohne einen einzigen Strafpunkt war er ins Ziel gekommen. Dieses Rennen fand immer beim neuerdings eingeführten jährlichen Autocorso zu Ehren des Stadtgründers Clark Henderson statt.

Einer der Söhne von Henderson, der ältere, Vincent Henderson, hielt dabei die erste von etlichen salbungsvollen Reden. Die Honoratioren der Stadt führten hinterher stolz ihre neuesten, auf Hochglanz polierten und mit Blumen geschmückten Automobile vor.

Ihre Angestellten und deren Freunde durften an diesem Tag mit den älteren Karren aus den Vorjahren ihre Geschicklichkeit auf einem mit zahlreichen bunten Wimpeln abgesteckten Terrain beweisen.

Von Pacos Siegen wusste natürlich auch Sheriff Delano, und so ließ er ihn in seiner Hatz gewähren, auch wenn er und Carmen alle Hände voll zu tun hatten, sich selbst, und vor allem auch die verletzte Sandra Freyman, in ihrer jeweiligen Position einigermaßen festzuhalten.

„Ist es so besser?“, schrie Paco seine Frage nach hinten, ohne dass er den Fuß auch nur um ein Jota vom Gaspedal genommen hätte.

„Ja, ist schon besser, nicht viel, aber wenigstens werden wir jetzt nicht mehr gar so arg durchgeschüttelt“, rief Carmen ihm über die Schulter zurück.

Paco grinste in sich hinein. Ihm war klar, dass sie der Suggestion erlegen war, bei der die nur scheinbare Veränderung einer Eigenschaft das gleiche Gefühl einer Auswirkung hervorruft wie eine tatsächliche Änderung. Ein Placebo-Effekt, den der sonst grundehrliche Paco bei vielen möglichen Gelegenheiten nutze, um anderen zu seinem eigenen kleinen Vorteil etwas vorzutäuschen.

Die scharfe Rechtskurve an der Brücke über den Beaver Creek war die letzte und auch die größte Herausforderung an Pacos Fahrkünste. Das rechte Hinterrad hob sich bedrohlich von der Straße ab, als er im Karacho in die Straße zur Stadt einbog.

Die zwei auf der Ladefläche hatten dabei alle Mühe, sich und die bewusstlose Frau festzuhalten.

Das Gewicht des Wagens schob die beinahe quer gestellten Vorderräder fast ganz hinüber an das Bankett der anderen Fahrbahnseite. Der Reifengummi des linken Vorderrades drückte, halb platt gepresst, gegen die innere Felgenschulter und war kurz davor, vom Rad zu rutschen.

Mit einem schnellen Schlenker am Steuer und sofortiger Korrektur wieder in die vorherige Richtung brachte Paco den Wagen im letzten Augenblick zurück in die Spur.

Hinter der Reihe von Büschen am linken Straßenrand konnte man jetzt sehen, wie sich Fetzen einer dunklen Rauchfahne zum Boden niedersenkte. Andere Teile dieser schwarzen Wolke führte ein leichter Wind mit in die Höhe hinauf und zog sie dort zu dünnen Schwaden auseinander.

Der gerade einfahrende Frühzug aus New York gab seine spezifischen Rauchzeichen ab.

Während der Lokführer damit begann, sein Tempo bei der Einfahrt nach Hendersonville langsam zu drosseln, hielt Paco den Druck aufs Gaspedal unverändert an.

Als sie die ersten Häuser von Hendersonville erreichten, schlug die Uhr am Giebel der City Hall gerade neun. Jetzt erst nahm Paco den Fuß etwas vom Gaspedal, schaltete hastig einen Gang herunter. Aber erst auf den letzten Meter vor dem Haus des Arztes bremste er den Wagen vollständig ab.

Doktor Igor Smirnow bewohnte eines der Häuser in der Main Street, zwei Blocks vom Hauptplatz entfernt. Genauer gesagt, das Eckhaus, vor dem die Derby Street rechts abging und im weiten, halbkreisförmigen Bogen um die neue Post-Station herumführte.

Er war etwas ungehalten, als er das ungestüme Klopfen an seiner Tür hörte. Für sein Empfinden eine unangenehme, viel zu frühe Störung, während er sich noch seinem Frühstück hingab. Und das war ihm heilig.

Er ließ sich jeden Morgen von seiner Haushälterin ein exquisites Gedeck kredenzen. Er verlangte es in einer Weise angerichtet, dass es auch eines Zaren würdig gewesen wäre.

Um diese unchristliche Zeit für Patientenbesuche pflegte er nach seinem mit Kaviar gefüllten Bliný noch in aller Ruhe eine zweite Tasse Schwarztee einzunehmen.

Und auf dem Schild an der Tür stand schließlich für jeden deutlich lesbar, dass seine Sprechstunde erst ab zehn Uhr begänne. Sein Gesicht drückte den Widerwillen über die Belästigung deutlich aus, als er vor die Tür trat.

Mit nur einem einzigen Blick erkannte er aber, dass es nicht um eine übliche Konsultation ging, sondern um einen dringenden Notfall.

In der blutüberströmten Verletzten glaubte er bei näherem Hinsehen überdies Sandra Brown zu erkennen, jetzt die Frau von John Freyman.

Sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr.

Aber keineswegs wegen der Erkenntnis, dass sein Frühstück damit nicht nur unterbrochen, sondern nun definitiv vorbei sei. Das war ihm schon auf den ersten Blick klargeworden.

Nein, die Ursache war seine tiefe Betroffenheit und die große Besorgnis um den offenbar sehr schlechten Zustand der mit Blut verschmierten Patientin.

Dr. Smirnow war Arzt mit Leib und Seele.

„Dawai, dawai, bringt sie herein, legt sie im Nebenzimmer auf die Liege, macht schnell!“, ordnete er in einem reichlich forsch klingenden Ton an.

Dabei drückte seine rau fordernde Stimme nur die empfundene Anteilnahme aus. Man nahm sie nur deshalb als so resolut, fast unfreundlich, wahr, weil der härtere Klang seiner russischen Muttersprache seinem Englisch nach wie vor maßgeblich den Stempel aufdrückte.

Einige wenige Passanten, die um diese Zeit schon auf der Straße unterwegs waren, standen mittlerweile neugierig um den Lieferwagen postiert und wollten sehen, wer hier angekarrt wurde.

In dem jämmerlichen Zustand, in dem sich Sandra Freyman befand, konnte sie jedoch keiner der schaulustigen Gaffer erkennen. Ihr blutverschmiertes blondes Haar hing jetzt in Strähnen über ihr in der Stadt allgemein als ‚engelsgleich‘ bezeichnetem Gesicht und verdeckte es beinahe völlig.

„Kannst du uns nicht helfen, Igor?“, rief der Sheriff, als er sah, dass der Doktor zurück ins Haus gegangen war und sich anschickte, seinen Arztkoffer zu öffnen, um die benötigten Instrumente daraus hervorzuholen.

Der Sheriff und der Arzt kannten sich seit Jahren und sie waren auch bestens befreundet. Gregory hatte Doktor Smirnow immer mit den Worten seines Landsmannes Tolstoi aufgezogen.

Der nämlich hatte in einigen seiner Bücher die von ihm offensichtlich nicht so hoch geschätzte Kunst der Ärzteschaft immer wieder süffisant aufs Korn genommen. ‚Trotz aller Bemühungen der Ärzte wurde Iwan wieder gesund‘, flocht er zum Beispiel in beißendem Spott in den Text eines seiner Romane. In einigen anderen Schriften formulierte er es nicht ganz so bissig, der süffisante Tenor war aber stets der gleiche. Gregory Delano hatte diese Formulierung, wenn sich während ihrer häufigen Unterhaltungen oder einer der sporadischen Konsultationen die Gelegenheit ergab, dann immer umgemünzt in den frotzelnden Satz:

 

‚Trotz aller ärztlichen Bemühungen des Igor wurde Gregory schnell wieder gesund‘.

Dr. Igor Smirnow hatte ihm darauf regelmäßig mit einem gutmütigen Brummeln und einem mittelkräftigen Knuff an die Schulter geantwortet.

Zu Späßchen dieser Art war ihnen in der jetzigen Situation aber absolut nicht zumute.

„Ach ja, natürlich, warte kurz, ich komm schon“, rief Doktor Smirnow auf die Frage Gregory Delanos zurück, und schob seinen Koffer schnell wieder von sich weg.

Er knöpfte eilig seinen Kittel zu und eilte hinaus zu den Männern am Wagen vor der Tür.

„Jetzt geht doch mal zur Seite!“, fuhr der Sheriff die mehr als zehn Leute an, die sich mittlerweile am Wagen eingefunden hatten und sich den angespannten Akteuren in den Weg drängten. Widerwillig wichen sie zurück und machten dem Arzt und seinen beiden Helfern Platz.

„Wer ist die Frau denn, Sheriff?“, fragte einer der Umstehenden. Gregory Delano beachtete ihn gar nicht weiter, schüttelte nur verständnislos den Kopf.

Gemeinsam hoben die drei Männer Mrs. Freyman vom Wagen und verbrachten sie behutsam in das Behandlungszimmer. Dort legten sie die Verletzte, die jetzt wieder stark aus dem Oberschenkel blutete, auf die Patientenliege.

Carmen Mendez blieb auf der hinteren Kante der Ladepritsche sitzen und betete jetzt unablässig vor sich hin. Verschämt die Hände gefaltet, still - nur ihre Lippen bewegten sich im Takt der Strophen: ein Vaterunser für Sandra Brown, eines für Sandra Freyman, und zwei für den Erhalt ihrer Arbeitsstelle.

Und dann wieder von vorne.

Zu allererst kümmerte sich der Arzt um die blutende Wunde. Jeder weitere Blutverlust könnte Mrs. Freyman dem Tod ein Stück näher bringen.

Fachgerecht und in geübter Routine legte der Doktor Verbandszeug an.

„Sie kann es überleben - vielleicht“, sagte Dr. Smirnow zu Gregory gewendet, nachdem er Sandra an der Halsschlagader den Puls gefühlt, andere relevante Stellen am Körper abgetastet und eine Weile den frisch verbundenen Oberschenkel und den blutverkrusteten Arm taxiert hatte.

„Neben den Schnittwunden, die mir gar nicht gefallen, scheint sie keine anderen Verletzungen zu haben, vor allem keine inneren.

Aber der Blutverlust war erheblich - und wenn sich die Blutung nicht bald stoppen lässt…“

Er sprach nicht weiter, ließ das Ende des Satzes offen.

Der frische Verband hatte sich schon wieder leicht rot gefärbt. Der Doktor bedeutete Paco Mendez, den Behandlungsraum zu verlassen, bevor er Mrs. Freyman das leichte Nachthemd noch weiter nach oben schob, bis hinauf an die Hüfte, um sich der Wunde an ihrem Oberschenkel noch einmal gründlich annehmen zu können.

Indessen beauftragte der Sheriff den Verwalter, der sich schon zum Gehen gewandt hatte, den Leichenbestatter aufzusuchen und John Freyman so schnell wie nur irgend möglich aus dem Landhaus abholen zu lassen.

Paco drehte sich in der Tür nochmal um und bestätigte kurz seinen Auftrag, bevor er das Behandlungszimmer verließ. Kaum draußen auf der Straße, gab er die Anordnung umgehend und im gleichen Wortlaut an seine Frau weiter, die immer noch auf der Ladefläche des Pickups hockte.

Nachdem er Carmen noch schnell erklärt hatte, wo der Bestatter zu finden sei, steuerte er direkt und ohne Umschweife auf den Saloon zu, der nur zwei Häuser weiter auf der gleichen Straßenseite lag, um sich dort einen Drink zu genehmigen, oder auch zwei.

Er fand, den habe er sich nach all der Aufregung an diesem Morgen redlich verdient.

An der Theke angelangt bestellte er sich gleich einen doppelten Brandy. Als er den in sich hineingeschüttet hatte, fing er auch schon an, sich mit seinen brühwarmen Neuigkeiten beim Barkeeper und den noch wenigen anderen Gästen im Lokal wichtig zu machen. Jedem erzählte er, was er wusste, ob der es wollte oder nicht.

Georgios Asterion, in Personalunion Herausgeber, Chefredakteur und Bote des ‚Hendersonville Chronicle‘, der gerade dabei war, in der Bar sein Frühstück einzunehmen, hörte ihm aufmerksam zu. Als er vernahm, dass noch immer Lebensgefahr für Mrs. Freyman bestand, beschloss er, so lange zu warten, bis der Sheriff wieder im Büro war.

Erst dann wollte er ihn für ein Interview aufsuchen.

Asterion, von manchen scherzhaft ‚El Greco‘ genannt, erst in zweiter Generation in den USA, war zwar durch und durch Journalist, der mit dem virtuosen Umgang der Sprache seines neuen Heimatlandes die Bürger von Hendersonville begeisterte, aber in erster Linie war er Mensch.

Carmen rannte inzwischen eiligst die Hauptstraße hinunter. So wie es ihr aufgetragen war. Kurz vor den Koppeln hielt sie an. Dort, wo Carl Simpson, etwas abseitig vom Zentrum, seine Werkstatt und seinen Laden hatte.

Die selbst gezimmerten Särge mit den schön geschnitzten Applikationen waren im Verkaufsraum ausgestellt. Einige der prächtigsten Exemplare konnte man auch schon von außen durch das große Schaufenster bewundern.

Simpson war ein geachteter Bürger der Stadt - zu tun haben wollte man mit ihm allerdings so wenig wie nur irgend möglich. Das hatte nichts mit ihm persönlich zu tun. Ganz im Gegenteil. Man konnte seinen Särgen ansehen, mit welcher Hingabe und Respekt vor den Toten er sie fertigte.

Aber sein eigenes, ebenso natürliches wie unausweichliches Ende wollte man dann doch lieber verdrängen und gefälligst nicht daran erinnert werden. Da war man froh, dass er sein düsteres Geschäft etwas außerhalb betrieb.

Carmen riss die Tür zum Laden auf und stürmte hinein. Ungeduldig wartete sie darauf, bis Simpson auf das Scheppern der Türglocke hin nach einer Weile aus seiner Werkstatt herauskam.

Mit Holzhammer und Stemmeisen noch in der Hand ging er einige Schritte auf sie zu und sah sie fragend an. Als Interessentin für eines seiner Werkstücke schätzte er Carmen nicht ein.

Noch ganz außer Atem platzte die nun heraus:

„Mister, schnell, bitte schnell, holen Sie die Missis ab, sie ist ganz tot, im Casa draußen bei Señor Freyman - ach so, lo siento, nein, nicht die Missis, der Master ist tot, richtig tot. Draußen, im großen Haus, am Fluss, ganz tot. Por diós, madre ayúdanos, er ist tot, para siempre.“

Mr. Simpson reagierte so gelassen und ruhig, wie es sein der Pietät verpflichteter Beruf so mit sich bringt:

„Beruhige dich, Mädchen, ganz ruhig. Also, wer ist tot, und wer soll wo abgeholt werden?“

„Der Master, Master Freyman ist tot, soll von seinem Haus abgeholt werden, sagt Paco, draußen am Fluss.“

Carmen hatte sich wieder etwas gefangen, atmete tief durch, war jetzt ein bisschen ruhiger geworden. Simpson mochte kaum glauben, was sie sagte.

„Mr. Freyman? Mr. John Freyman? Bist du ganz sicher?“

Carl Simpson hatte guten Grund für seine Nachfrage. John Freyman war gerade mal dreiunddreißig, sportlich und, soweit er wusste, bei allerbester Gesundheit.

Hatte er etwa einen Unfall mit dem Automobil gehabt? Zu schnell gefahren? Oder vielleicht einen Reitunfall? Das Genick gebrochen? John war ihm allerdings keineswegs als besonders unvorsichtig oder gar als Draufgänger bekannt. Ganz im Gegenteil.

Einmal hatte er John sogar auf offenem Gelände mit dem Pferd abgehängt.

Sie hatten sich zufällig draußen hinter den Weideplätzen beim Ausritt getroffen und ohne viele Worte, nur mit herausfordernden Blicken und beiderseitig zustimmendem Kopfnicken, ein kleines Rennen verabredet.

Am Tag zuvor hatte es stark geregnet, der Boden war tief. John hatte mehr als zwei Pferdelängen Rückstand gehabt am Ziel. Auf Simpsons schelmische Stichelei zu seinem kleinen Triumph hatte John nur gelacht und einen Satz gesagt, an dem er Johns generelle Vorsicht festmachen konnte: ‚Auf einem so schwierigen Boden werde ich lieber zweiter im Rennen als erster in deinem Sarg. Carl, da halte ich mich lieber zurück. Hals- und Beinbruch ist ein netter Spruch, an mir selbst will ich ihn nicht wahrmachen. Sorry, mein Lieber, aber mit mir wirst du so schnell kein Geschäft machen‘.

Carmen riss ihn aus seiner Erinnerung.

Der zweifelnden Nachfrage hatte sie entnommen, dass der Bestatter eventuell nicht so ganz ernst zu nehmen schien, was sie ihm gerade vorher berichtet hatte.

„Der Sheriff schickt mich, sagt Paco; der Sheriff sagt, Master Freyman ist tot. Der Sheriff hat es selber gesagt.“

„Wer bist du eigentlich? Wie heißt du denn?“, hakte Simpson ungeachtet ihrer Beteuerung noch einmal nach.

„Ich bin die Frau von Paco, wir sind Angestellte des Master Freyman und jetzt auch seiner neuen Esposa, der Missis. Der Sheriff hat gesagt, wir sollen ihnen Bescheid geben, dass der Master se murió.“

„Und wo ist der Sheriff jetzt?“

„Er ist im Haus des Doktors - bei der Missis. Die Missis ist auch krank; muy krank.“

„Gut, sag dem Sheriff, ich komme gleich vorbei.“

„Gracias, muchas gracias, danke Mr. Bestatter, ich sage es Paco, der sagt es dem Sheriff.“

Simpson hatte immer einen Sarg in Durchschnittsgröße auf seinem Bestattungswagen liegen, für den Fall der Fälle. Also könnte er losfahren, beim Doc vorbeischauen und sich vergewissern, dass dies alles auch kein makabrer Scherz oder nur ein bloßes Gerücht war.

Wenn doch, dann hätte er keinen großen Weg umsonst gemacht. Und wenn die Geschichte wahr sein sollte, dann konnte er gleich weiterfahren, hinaus zum Anwesen der Freymans. In den Sarg auf dem Wagen müsste John jedenfalls passen, fürs erste. Soviel Augenmaß für seine potenziellen Fahrgäste bekommt man als Bestatter mit der Zeit.

Und später könnte er seinen Angehörigen das teuerste Exemplar verkaufen, das er auf Lager hatte, oder für weiteres Aufgeld extra einen anfertigen. Die Freymans würden sich bestimmt nicht knausrig zeigen.

Dann könnte er jetzt, entgegen Johns damaliger Worte, doch schon jetzt sein Geschäft machen mit ihm. Früher als dieser gedacht hatte. Viel früher.

Während der pedantische Bestatter sich noch Gedanken darüber machte, ob sich seine Fuhre lohnen könnte oder nicht, rang Doktor Smirnow nach wie vor um das noch so junge Leben der verletzten Sandra Freyman.

Der Sheriff stand neben ihm, bereit, dem Arzt mit jeglicher Art von Handreichung behilflich zu sein.

Er wirkte etwas nervös, wollte etwas hinter sich bringen.

„Igor, kann ich dein Telefon benutzen, oder brauchst du mich hier noch unbedingt?“

„Die Gräfin, nicht wahr?“ Smirnow sah ihm ins Gesicht. „Bin froh, dass ich das nicht tun muss. Ich glaube aber, du solltest es ihr besser persönlich sagen, meinst du nicht auch? Geh‘ lieber rüber zu ihr ins Hotel.“

Der Sheriff nickte nur ein paarmal nachdenklich, während er die Lippen zusammenpresste. Er sollte Mrs. Freyman ins Gesicht sagen, dass ihr Sohn tot sei?

„Ich glaube nicht, dass ich es kann, Igor. Ich kann es nicht. Nur einen Tag nach der Hochzeit eine solche Nachricht überbringen? Mensch Igor, ich kann das einfach nicht. Ich ruf sie lieber an.“

„Dann mach nur zu Greg, hier kannst du mir ohnehin nicht mehr helfen. Du weiß ja, wo das Telefon steht.“

Der Sheriff hatte nun die bittere Pflicht, Johns Mutter und ihren beiden Töchtern im nahegelegenen Grand Hotel die Nachricht über den Tod ihres Sohnes zu überbringen.

Vergessen war in diesem Moment völlig, was zwischen ihm und Mrs. Freyman, der Gräfin, vor schon längerer Zeit in New York vorgefallen war.

Einer fremden Person den Tod eines Angehörigen von Angesicht zu Angesicht nahezubringen, das hatte er in New York oft genug gemacht. Das gehörte schließlich zu seinen Aufgaben. Es war jedes Mal unangenehm genug.

Aber die jetzige Situation, sein vertrauliches Verhältnis zu den Hinterbliebenen, machte es ihm völlig unmöglich.

Er suchte nach möglichen Formulierungen, um Mrs. Freyman die schreckliche Nachricht so schonend wie nur möglich beizubringen. Noch hatte er die Hoffnung, sie sei gerade nicht erreichbar. Dann wäre ihr die schlimme Neuigkeit vielleicht schon vor seinem nächsten Kontakt mit ihr bereits durch jemand anderen übermittelt worden.

Beklommen wählte er die Nummer der Vermittlung.

Seine Hoffnung auf ihre Abwesenheit erstarb in dem Moment, als nach einer kurzen Pause sich die Gräfin gut gelaunt aus ihrem Zimmer meldete.

Sie war erfreut über seinen Anruf - aber auch leicht verwundert über dieses ungewohnt frühe Telefonat.

 

Was mochte es so Wichtiges geben, dass Gregory sich um diese Uhrzeit schon bei ihr meldet?

„Guten Morgen, Gräfin, ich möchte – äh, nein - ich muss Sie darüber in Kenntnis setzen…“

Aus dem gedrückten Tonfall Gregorys und seiner förmlichen, fast gestelzten Ausdrucksweise hörte sie eines sofort heraus: Gregory Delano hatte ihr mit diesem so frühen Anruf alles andere als eine gute Nachricht zu bestellen.

Wie schrecklich aber die Unglücksbotschaft tatsächlich war, konnte sie sich nicht vorstellen.

Erst nachdem der Sheriff ihr mit stockender Stimme eröffnet hatte, was vorgefallen war, schien sie langsam zu begreifen. Im so knapp wie möglich gehaltenen Bericht des Sheriffs waren immerhin die grausamen Details über den Tod ihres Sohnes ausgelassen.

Nach einer kurzen Pause, in der sie wohl erst lernen musste, das Gehörte in seiner ganzen Tragweite zu erfassen, stammelte sie zuerst nur: „Grischa, sag mir bitte, dass das alles nicht wahr ist…“.

Sie verwendete den nur von ihr benutzten Kosenamen, als könne sie ihn dadurch eher dazu bewegen, das eben Gesagte wieder zurückzunehmen.

Gleichzeitig spürte sie jedoch, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllen werde. Es war einfach viel zu unwahrscheinlich, als dass Gregory sich ihr gegenüber mit solchen Aussagen eine Posse erlauben würde.

Der Sheriff war heilfroh, als er nach dem ersten Ausbruch ihres unsäglichen Schmerzes - und ein paar tröstenden Worten seinerseits - das Gespräch auf formalere Angelegenheiten bringen konnte.

Zum Beispiel auf die Zusicherung, für sie und ihre Töchter mit Anhang sofort Zimmer auf ‚Three Oaks‘ herrichten zu lassen und den Umzug der Familie vom Hotel in Johns Haus zu organisieren, da sie nun ja doch noch länger bleiben wollten. Oder sich auch sonst weiter um alle jetzt nötigen Maßnahmen zu kümmern.

Natürlich auch mit dem festen Versprechen, das er sich auch schon selber gegeben hatte, nämlich Johns Mörder gnadenlos zu verfolgen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Und zwar umgehend, ohne Verzug, und ohne auch nur die geringste Zeit zu verlieren.

Noch bevor die Gräfin mit Anhang auf ‚Three Oaks‘ angekommen war, ließ der Sheriff sich selber wieder zum Ort des Geschehens hinausfahren.

Auch um seinen eigenen Wagen abzuholen, aber vor allem, um den Tatort noch einmal genauestens unter die Lupe zu nehmen. Noch bevor er diesen aus Rücksicht auf Johns Mutter und seine Schwestern in einen Zustand bringen ließ, der nichts mehr - oder so wenig wie möglich - von dem tragischen Vorgang in der Nacht zuvor preisgab.

Zwei seiner Beamten halfen ihm eifrig bei der Suche nach vielleicht aufschlussreichen Hinweisen.

Er selber forschte zuerst nach möglichen Fußspuren, untersuchte eingehend die Stelle unter dem Balkon des Schlafzimmers. Da es schon eine Weile her war, seit der letzte Regen niedergegangen war, fanden sich keine brauchbaren Abdrücke im trockenen Erdreich. Die Konturen einiger Fußabdrücke, offenbar allesamt schon älteren Datums, waren bereits bis zur Unkenntlichkeit zerbröselt.

Auf dem Rasen waren keinerlei frisch eingedrückten Gräser zu erkennen, die einen Schluss auf ein kürzlich erfolgtes Begehen zugelassen hätten. An dem Wilden Wein, der sich mit seinen kaum noch sichtbaren winzigen Knospen bis zum Geländer hinaufrankte, war kein einziger abgerissener oder verletzter Ast zu sehen.

Akribisch suchte der Sheriff im Haus nach halbwegs frischen Blutspuren, die der Mörder bei seiner Flucht doch irgendwo hinterlassen haben musste. Zu seinem Leidwesen waren nirgends welche zu finden.

Es gab mehr Rätsel als Hinweise.

Delano befragte ausführlich die beiden Stallburschen, noch eindringlicher Paco und seine Frau, die ja diese unheilvolle Nacht im Haus gewesen waren.

Er verbrachte Stunden mit seinen Nachforschungen.

So lange, bis die Familie ankam und er der Gräfin jetzt von Angesicht zu Angesicht sein erkennbar aufrichtiges Mitgefühl beteuerte. Stumm, mit steinerner Miene, als Ausdruck seiner eigenen Betroffenheit, schüttelte er Mary-Ann und Rose die Hand. Nicht die Spur eines Gedankens an diesem so fürchterlichen Tag an die fröhliche Ausgelassenheit und Frivolität auf früheren gemeinsamen Festen.

Der Tod ist ein echter Spielverderber.

Den von ihm unbehelligt gebliebenen in seinem aktuellen Wirkungskreis ist die Lust an einer Partie gründlich vergangen - mindestens vorübergehend; dem Betroffenen selbst fehlt die Möglichkeit der Teilnahme daran – für immer.

Der Abschied von der Familie Freyman erfolgte, wie auch anders, in tief bedrückter Stimmung. Der Sheriff versicherte der Familie noch einmal, sich weiterhin um sie und die nötigen Formalitäten zu kümmern. Die gegenseitigen Umarmungen waren heute intensiver und dauerten etwas länger als sonst üblich.

Gedankenverloren fuhr Gregory Delano bald darauf wieder zurück in die Stadt, wo er als erstes in das Haus des Arztes zurückkehrte. An dessen Eingangstür hing seit dem Morgen ein großer Zettel mit der Mitteilung, dass am heutigen Tage keine Sprechstunden stattfänden.

Drinnen lag immer noch Sandra Freyman. Jetzt in einem Bett direkt neben dem Behandlungszimmer.

Dr. Smirnows Befürchtungen hatten sich zum Glück nicht bestätigt. Sie lebte noch.

Sie war jetzt auch ansprechbar.

Es ging ihr nicht besonders gut, entsprechend der Verletzungen, die sie sich zugezogen hatte. Aber sie sagte dem Sheriff, sie wolle ihm auf alle seine Fragen antworten, so lange sie dazu imstande sei.

Eine geschlagene Stunde dauerte die Vernehmung.

Wer alles am betreffenden Tag auf dem Gestüt war; mit wem John die letzten Tage Kontakt gehabt hatte; ob er irgendwelche Andeutungen gemacht habe, die ihr unerklärlich waren; ob sie wüsste, dass er Feinde habe…

Vor allem wollte Delano wissen, an welche Vorgänge dieser tragischen letzten Stunden sie sich erinnern könne.

„Sandra, versuche dich an möglichst alles zu erinnern. Jede Einzelheit, auch die, die du selber vielleicht für unwichtig erachtest; sie könnte trotzdem wichtig sein. Und wenn es zu viel für dich wird, sag es mir bitte. Ich will dich in deinem Zustand nicht unnötig quälen.“

Geduldig beantwortete sie seine Fragen, in dem Umfang, in dem sie sich daran zu erinnern glaubte.

Es war nicht viel, was sie noch wusste.

Ihren Angaben zufolge musste der Täter sie auf irgendeine Weise narkotisiert haben, da sie vom Mord an John gar nichts mitbekommen hatte.

„Greg, ich weiß einfach nicht, was gestern Nacht geschehen ist. Erst dachte ich, der Täter hätte mich vor der Tat bewusstlos geschlagen. Dr. Smirnow aber sagt, ich habe nicht die Spur einer Verletzung am Kopf. Und, kein Wunder, ich spüre auch keinerlei Schmerz, außer an Arm und Bein.

Er kennt aber genug Mittelchen, wie er sagte, die durch Einatmen sehr schnell eine tiefe Ohnmacht herbeiführen können. Auch solche Präparate, die völlig geruchsfrei sind.“

Die Vernehmung, eigentlich war es nicht mehr als eine Unterredung unter guten Bekannten, half dem Sheriff keinen Schritt weiter. Auch nicht einen kleinen.

Er verabschiedete sich von der Frau, die er so lange und so gerne als seine eigene Frau gesehen hätte. Eigentlich schon vom ersten Moment an in seinem Leben, als er sie aus dem Zug steigen sah. Er versicherte auch ihr, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den Mord an ihrem Mann so bald wie möglich aufzuklären.

„Sandra, ich finde Johns Mörder. Ich verspreche es dir.“

Am nächsten Tag suchte Delano nach und nach Johns härteste Konkurrenten auf. Verlangte nach Auskunft über ihr Verhältnis zu Mr. Freyman und erkundigte sich wie ganz nebenbei nach ihren Alibis für den Mordzeitpunkt, falls sie welche hätten.

Die Vernommenen waren alles andere als erfreut, sich im Kreis der Verdächtigen wiederzufinden.

‚Alles reine Routinefragen‘, versicherte er daher den Herren beflissen und beruhigte sie darüber hinaus mit den Worten: ‚Das ist selbstverständlich keine Vernehmung. Ich sammle lediglich Informationen. Ich muss für einen vollständigen Bericht einfach nur jeden Einzelnen von Ihnen auf meiner Liste abhaken können‘.