Der blinde Spiegel

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Meyendorff wusste gar nicht recht, was er tat, er dachte nicht, er hielt sich nicht unter Kontrolle, er vergaß Disziplin und Anstand, er schlüpfte aus seinem Uniformrock und warf ihn in den Sand, dann zog er Hemd und Unterhemd aus und ließ sie fallen. Dabei lösten sich seine Augen nicht von den ihren. Er öffnete den Gürtel. Auch Clarissa begann sich zu entkleiden. Ihr Kleid lag bald im Sand. Meyendorff stieg aus seinen Uniformhosen. Er trug nur mehr seine Unterhosen, Clarissa nur mehr ihr Unterhemd. Sie standen knapp beieinander. Sie roch seinen Duft, sah seine kräftigen Arme, seine Schultern, die Narben eines Kriegers, sie spürte das Verlangen eines zum Anführer geborenen schönen jungen Mannes. Clarissa streifte das Unterkleid ab. Seine Blicke liebkosten ihre Haut wie sanfte Küsse. Meyendorff hätte auf die Knie fallen und vor Glück weinen wollen, sie war jung, geschmeidig, stark und doch weich und zart. Und sie war nackt. Er konnte nicht mehr anders, er musste sie haben. Jetzt.

Da lief sie plötzlich los, hüpfte mit langen Schritten ins Wasser und schwamm ein Stück hinaus. Sie kreischte vor Vergnügen.

Meyendorff entledigte sich seiner Unterhose, schaute kurz auf sein erregtes Glied, suchte nach ihrem Blick, aber sie schwamm hinaus, also rannte er ebenfalls los und tauchte ins Wasser. Mit ein paar kräftigen Tempi hatte er sie eingeholt.

„Das Wasser ist wunderbar. Wie tief man sehen kann!“

Meyendorff war ein ausgezeichneter Schwimmer, in der Kadettenschule hatte er bei Schwimmwettkämpfen immer Spitzenplätze belegt.

„Ich tauche hinunter und hole einen Goldschatz herauf“, sagte er.

Sie lachte.

„Aber lassen Sie sich nicht von den Wassermännern fangen.“

„Keine Angst, denen gebe ich Saures.“

Er holte tief Luft und tauchte ab, schnell sackte er zu Boden, griff nach einem beliebigen Stein, drehte um und stieß sich ab. Über sich sah er Clarissa, nackt, offen, nahe. Er tauchte hoch, schnappte nach Luft.

„Hier, der Goldschatz.“

Er präsentierte ihr den Stein.

„Oh, der ist aber kostbar. Sehen Sie nur, da ist eine kleine Muschel daran. Nein, sogar mehrere.“

„Den heben wir uns auf“, meinte er und schleuderte den Stein zum Strand. Knapp über der Wasserlinie fiel er zu Boden, sie würden ihn also leicht finden.

„Schwimmen wir ein Stück hinaus?“, fragte sie.

Er blickte sich um.

„Lieber nicht, weiter draußen könnte man uns sehen. Schwimmen wir hier ein bisschen auf und ab.“

„Hier ist es viel schöner als bei meinem ersten Bad im Meer. Ich habe Ihnen davon erzählt. Da wurden wir so scharf kontrolliert. Hier ist es großartig.“

Einige Minuten schwammen sie knapp vor der Bucht hin und her.

„Sie sind eine sehr gute Schwimmerin, Clarissa.“

„Schon als Kind konnte ich schwimmen. Und reiten. In der Schule war ich eine der Besten im Turnen.“

„Ich auch.“

„Am Anfang ist das Wasser sehr angenehm, aber langsam wird es kalt“, sagte sie.

„Kein Wunder, es ist erst Frühling. In Wien tragen alle noch Mäntel und wir baden.“

Beide lachten, dann schwammen sie in Richtung Strand. Clarissa lief prustend aus dem Wasser, schüttelte ihre Glieder, griff nach ihren Kleidern und drückte diese an sich. Hermann ging langsam heraus, er trat an sie heran. Beide waren vom Schwimmen noch ein wenig außer Atem. Er legte seine Arme um ihre Hüften und zog sie heran. Sie waren hungrig nacheinander, und sie waren alleine.

„Clarissa, ich … ich liebe Sie“, flüsterte er.

„Wirklich?“, hauchte sie fragend.

„Ja, ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich dich liebe.“

Sie blickten einander lange in die Augen. Die Zeit verfloss süß und zäh wie Honig. Die Sonne wärmte sie, trieb wonnige Schauer über ihre Haut.

„Ich liebe dich auch.“

Sachte, ganz behutsam rückten ihre Köpfe näher, Clarissa ließ ihr Kleid fallen und ihre Lippen trafen sich. Da brach es über sie herein. Hermann packte sie und drückte sie an sich, Clarissa bog sich fordernd gegen ihn, trank gierig seine Sehnsucht, lieferte sich seiner Kraft aus. Hermann hob sie hoch, und ohne zu denken und zu schauen, trug er sie zur Decke in den Schatten der Pinie. Sie rollten über die Decke und küssten sich stürmisch, drängend, leidenschaftlich. Es war wie nie zuvor, es war schöner als alles in seinem bisherigen Leben, nein, es war zu schön für irgendwelche Vergleiche. Clarissa stöhnte, kleine Schreie entglitten ihr. Sie rollten über die Decke, dann war er über ihr, sie beugte ihren Rücken, ihre Brüste hoben und senkten sich atemlos und sie öffnete sich ihm weit. Taumelnd fielen sie in die Ekstase der Liebe. Es war ein Vulkanausbruch, ein Erdbeben, ein Orkan auf hoher See.

BUDWEIS, DEZEMBER 1945

Und noch ein Schuss kracht in der Ferne.

Schaut nicht gut, nein, schaut ganz und gar nicht gut aus. Die Polizisten sammeln sich ein paar Straßen weiter und wollen endgültig für Ordnung sorgen. Aber was sollen die Leute sonst tun? Ist der Hunger schneidend genug, ist der Mensch nicht zu halten.

Wir rennen die Gasse hinunter, ein berittener Polizist hinter uns her. Er schwingt den Säbel, aber er drischt nicht hoch zu Ross auf uns herab, sondern treibt uns nur voran.

Eine Hungerrevolte schon im Dezember. Das kann ein feiner Winter werden.

Karel packt mich am Arm und zieht mich in einen Hauseingang. Wir drücken uns in den Schatten. Mein Puls rast und mein Atem rasselt. Der berittene Polizist galoppiert an uns vorbei. Wir warten, bis in dieser Gasse der Trubel vorbei ist. Jetzt erst sehe ich das halbwüchsige Mädchen neben uns alten Männern im Schatten des Hauseinganges. Sie scheint kaum verängstigt zu sein. Naja, der Polizist ist ja schon vorbei und außerdem hat die Jugend heutzutage eine dicke Haut. Muss sie auch haben, sonst fliegen nämlich die dürren Knochen auseinander.

„Völliger Schwachsinn, das Bezirksamt anzuzünden“, flüstere ich Karel zu. „So werden wir auch nicht satt.“

„Das wieder nicht, aber jetzt wissen die in Prag wenigstens, dass Budweis nicht noch länger hungern kann. Weil sonst bald wieder etwas brennt, dann müssen sie noch mehr Polizisten und vielleicht sogar Soldaten schicken, die sie doch an der Front ganz dringend brauchen. Außerdem hast du nicht das Bezirksamt angezündet und ich habe das Bezirksamt nicht angezündet und unsere kleine Nachbarin hat das Bezirksamt auch nicht angezündet, der Blitz hat es angezündet. Das wissen alle Österreicher von Innsbruck bis nach Czernowitz. Man braucht nur die Morgenpost von übermorgen lesen. Da steht es schwarz auf weiß.“

Karel hat natürlich Recht, in der Zeitung wird garantiert nichts von einer Hungerrevolte stehen, und wie oft der Blitz einschlägt, ist wirklich ein Wunder der Natur.

Wieder kracht ein Schuss in der Ferne. Ich hoffe nur, dass es ein Warnschuss war. Wir warten weiter im Schatten auf die kommenden Ereignisse.

Mit ein paar Waggonladungen Rüben wäre das alles nicht passiert. Schon frühmorgens war die Masse vor den verschlossenen Läden unruhiger als in den Tagen davor geworden. Kein Wunder auch, denn im Bezirksamt hatte man der Bevölkerung die seit zwei Wochen fällige Lieferung von fünf Tonnen Rüben verbindlich zugesagt. Und die Leute, so auch ich, stellten sich in der Schlange an und warteten die ganze Dezembernacht auf die versprochenen Rüben. Und nichts war gekommen, keine Rüben, kein Ersatz, nicht einmal der Zug, den das Bezirksamt mit Rüben volllügen hätte können. Nichts. Budweis lag einsam und verlassen in der Landschaft und nichts rührte sich. Außer der Volkszorn, der begann sich bald zu regen. Kein Zug mit einer Wagenladung feiner ungarischer oder rumänischer Rüben, kein Marchfelder Kommissbrot, kein Fett, kein Fleisch, nur Hunderte verdörrte Darmwindungen tschechischer Senioren, Frauen und Kinder. Zur Mittagsstunde brach die Verzweiflung und Wut los und entlud sich in Gewalt. Fensterscheiben waren eingeschlagen worden und die paar Landsturmmänner mussten vor der immer rasender werdenden Meute Fersengeld geben. Bald ging von Mund zu Mund, dass das Bezirksamt heute nicht ungeschoren davonkommen darf, also rottete sich die Meute zusammen und marschierte los. Sprechchöre dröhnten durch die Gassen, Fäuste wurden geschwungen, irgendwoher kamen Fackeln in die Hände der Leute. Vor dem Amtshaus füllte sich rasch der Platz, rund fünftausend Menschen waren gekommen, mit jeder Sekunde wurden es mehr. Ich steckte mittendrin, obwohl ich lieber nach Hause gegangen wäre. Das ging aber nicht mehr, ich war in der Masse eingekeilt. Also skandierte ich mit: „Rüben her! Rüben her!“

Eilig formierte sich die Polizei, aber sie war nicht schnell genug, denn schon flogen die ersten Pflastersteine durch die Fenster des Amtshauses. Die Fackeln folgten stehenden Fußes. Polizei und Landsturm marschierten auf, alle hatten sie Gewehre in den Händen. Da warf einer eine Flasche Benzin. Weiß der Teufel, woher das Benzin stammte, war wohl rechtzeitig für Anlässe wie diese eingelagert worden. Die Kanzlei stand in hellen Flammen, das Feuer drohte auf andere Räume überzugreifen. Die Polizisten jagten eine Salve knapp über unsere Köpfe hinweg, was seine Wirkung nicht verfehlte. Die Masse begann zu türmen. Die Jagd durch die Budweiser Gassen ging los. Planlose Hetze auf und ab, klapprige Knochengerüste mit dürren Sehnen stelzten herum, hinter ihnen die Uniformen der Polizei und des Landsturmes. Ich rannte mal dahin, mal dorthin. Karel neben mir. Wir sahen die hohe Rauchsäule, das Bezirksamt brannte also tatsächlich, sie haben den Brand nicht unter Kontrolle bringen können. Das ärgerte mich, freute mich aber auch. Dann galoppierte der säbelschwingende Polizist auf uns zu und trieb uns durch die Gegend. Jetzt stehen wir hier.

 

Irgendwo in der Ferne knallt wieder ein Schuss. Wir stecken die Nasen hervor und spähen die Gasse auf und ab. Alles ruhig. Auch aus anderen Verstecken lugen Menschen. Vorsichtig kehrt das Leben in die Häuser zurück, mehrere Fenster werden geöffnet.

„Das Rathaus muss auch angezündet werden.“

Karels und mein Blick begegnen einander. Oh ja, die Jugend heutzutage hat eine dicke Haut. Das kleine Mädchen schaut uns mit hartem Blick an. Bei diesem Blick traue ich dem Kind jederzeit zu, eine Flasche mit Benzin zu werfen.

„Aber damit warten wir lieber bis morgen“, sagt Karel, „denn morgen werden wir auch Hunger haben.“

„Nein, sofort“, kontert das Mädchen barsch.

Sie drängt sich an mir vorbei und flitzt davon. Ich sehe sie um eine Ecke verschwinden und hoffe, dass sie nicht versuchen wird, das Rathaus zu entflammen. Jetzt, wo der Landsturm bereitsteht. Im Getümmel kann es schon vorkommen, dass sich ein Bajonett in den Leib eines halbwüchsigen Mädchens verirrt. Aber es wird schon nichts passieren, dafür ist sie zu schlau.

„Ob der Polizist zurückkommt?“, fragt eine ältere Frau mit traurigen Augen.

„Wer weiß, immerhin ist er zu Pferd, da kann er kommod die historischen Bauten der immer sehenswerten Vorstadt begutachten“, antwortet Karel.

Karel ist gewiss einer der fähigsten Schwarzhändler Südböhmens, denn er verliert nie seinen Humor. Dennoch sind wir beide ziemlich ratlos. Keine Ahnung, wie wir heute schlafen sollen. Völlig ausgehungert schläft es sich schlecht. Das wird ein harter Winter.

KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946

Meyendorff kniff die Augen zusammen. In der Finsternis war so gut wie nichts zu erkennen. Er wartete ungeduldig. Bald würde die Sonne aufgehen, er hatte also nicht mehr besonders viel Zeit, schon in einer Stunde musste er seinen Dienst antreten und in der Kanzlei waren alle auf Pünktlichkeit eingestellt. Grundsätzlich schätzte er Pünktlichkeit, aber manchmal konnte es doch Wichtigeres geben. Clarissa müsste schon da sein, vor zehn Minuten war ihr Dienst zu Ende gegangen. Er hasste ihre Nachtschicht, aber wohl noch viel mehr hasste Clarissa diese selbst. Meyendorff griff nach seinen Zigaretten, da hörte er Stimmen. Immer diese Verdunkelung, dieser verdammte Krieg ging ihn überhaupt nichts mehr an. Alles, was sich zwischen ihn und Clarissa stellen konnte, hasste er. Die Zigaretten blieben in der Rocktasche, er trat auf den Fußweg. Finstere Silhouetten huschten an ihm vorbei, geisterhaft und doch menschlich, die weiblichen Schreibkräfte, deren Nachtschicht nun endete. Ein paar dünne Lichtspuren brachen in die Dunkelheit, die Frauen beleuchteten den Weg mit den Luftschutztaschenlampen. Meyendorff reckte seinen Hals. Wo war sie?

Ein Schatten sprang auf ihn zu und zog ihn fort.

„Da bist du endlich“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Sie umschlangen sich, küssten sich drängend.

„Ich habe den ganzen Tag an dich gedacht“, sagte sie. „Immer wieder musste ich daran denken.“

Oh ja, er dachte seit drei Tagen ohne Pause an die Motorradfahrt vom letzten Sonntag, an den schönsten Tag seines Lebens. Er küsste sie stürmisch, Clarissa kicherte leise.

„Hast du geschlafen?“, fragte sie.

„Kaum, ich konnte nicht. Ich habe stundenlang auf die Uhr gesehen und gewartet.“

Sie ließen einander nicht los, eng umschlungen gingen sie ein paar Schritte.

„Bist du müde?“

„Wenn ich bei dir bin, kann ich gar nicht müde sein. Unmöglich.“

„Aber ich bin müde, oder vielmehr, ich war müde. Zuvor an der Schreibmaschine wäre ich um ein Haar eingeschlafen. Aber jetzt bin ich wach.“

In einiger Entfernung startete ein Lkw, jener Lkw, mit dem die Schreibkräfte in die Baracken gebracht wurden. Auch das Geklapper einiger Fahrräder war zu hören.

„Wie lange hast du Zeit?“, fragte er.

„Ich muss spätestens in einer Stunde in der Baracke sein.“

„So wenig Zeit.“

„Und du, wann beginnt dein Dienst?“

„Auch in einer Stunde. Das heißt, wir haben höchstens eine Viertelstunde für uns. Eine Dreiviertelstunde brauche ich für die Fahrten. Es geht nicht schneller, wegen der Verdunkelung.“

Clarissa zog ihn ganz nahe an sich heran, sie hauchte ein wenig verschämt in sein Ohr:

„Mehr als eine Viertelstunde brauchen wir ja gar nicht.“

Meyendorff nickte verlegen. Er überlegte fieberhaft, aber er fand keine Lösung. Die Zeit und der Ort waren für ein Stelldichein absolut unpassend. Dennoch trieb der Gedanke daran seinen Puls in die Höhe. Er zog sie an sich und küsste sie wieder und wieder.

„Clarissa, jetzt erst weiß ich, dass ich lebe.“

Der Lkw fuhr los und entfernte sich, es wurde still um sie. Die beiden hielten sich an den Händen, sie bewegten sich nicht, einige Minuten lang, schließlich eine Viertelstunde. Weit im Osten hob sich allmählich die Sonne. Eine schützende Aura der Zärtlichkeit hüllte sie ein und bewahrte sie vor der Welt rund um sie. Dann riss sich Meyendorff los, er konnte nicht anders, er musste vernünftig sein. Sein Blick fiel auf die Armbanduhr.

„Wir müssen schauen, dass wir weiterkommen.“

Clarissa nickte. Hand in Hand gingen sie zum Motorrad.

In das Morgengrauen hallte das ferne Dröhnen von Flugzeugmotoren.

OSTFRONT, SOMMER 1915

Die Hitze in Galizien hält sich heute in Grenzen. Immerhin ein Vorteil der Lage, aber schon der einzige. Das Regiment ist in offenes Feld abkommandiert worden. Wir schaufeln nur kleine Gräben. Der Feind steht in der Nähe, also muss nachts gegraben werden. Der Rückzug der Russen ist an den meisten Punkten der näheren Umgebung beendet, sie beginnen sich wieder zu verschanzen, also schanzen wir auch. Es kann in Galizien sehr heiß werden, allerdings nur ein paar Wochen im Mittsommer. Diese Wochen haben wir hinter uns.

Unsere Versorgungslinien sind elend lang. Von Eisenbahnschienen in dieser Gegend keine Spur, also müssen die Pferde ackern. Nur sehr langsam kommen die Versorgungstrosse und wir Soldaten der Frontlinie müssen wieder einmal die Gürtel enger schnallen.

Und die vielen Verluste. Wie viele Männer habe ich in den letzten Wochen fallen sehen? Darf gar nicht daran denken. Einfach nur weitermachen. Das Marschgepäck schleppen, ich weiß gar nicht mehr, wie es ist, ohne dreißig Kilo Schulterlast zu marschieren. Zum Glück sind meine Sehnen stramm und die Knochen massiv, sonst könnte ein Leichtgewicht wie ich die Strapazen gar nicht ertragen. Pepi etwa trägt sein Gepäck, als wiege es kaum etwas. Ein kräftiger Kerl und verlässlicher Kamerad. Ohne Kameradschaft wären wir alle schon verrückt geworden, wenn wir uns nicht blindlings aufeinander verlassen könnten, wären wir schon längst aufgerieben worden. Dennoch ist die Schar der Männer unseres Regiments schmal geworden.

Oberleutnant Zillner hat vor dem Abmarsch in die unwegsame Gegend hier noch ein Dutzend Neuzugänge bekommen. Unser Posten ist wichtig für den Frontverlauf. So hat es geheißen. Neben den Leuten gab es auch vier MGs.

Wir graben wie die Maulwürfe leichte Deckungen, jeder schaufelt nach Leibeskräften. Wir wissen, schon in den Morgenstunden könnten die Gräben unser Leben retten. Wir wittern die Gefahr, die russischen MG-Nester sind in der Nähe. Diese müssen wir bekämpfen. Immer ran an den Feind. Wir können zwar von Glück reden, dass die Russen hier keine Artillerie stehen haben, aber wer weiß, wie lange das noch so ist. Immer das Messer an der Gurgel, so ist unser Leben.

Dem 1. Bataillon ist ein merkwürdiger Mann zugeteilt worden. Sein Name hat sich bei uns schnell herumgesprochen. Karl Nechleba. Angeblich war er in Zivil Krimineller, was er getan hat, weiß niemand. Beim Marsch habe ich ihn kurz gesehen. Mitte zwanzig, dunkles Haar und bleiches Gesicht. Eigentlich kein auffälliger Mann, ein Soldat wie viele andere auch. Er wurde für die Tapferkeitsmedaille eingereicht, hat sich aber dann mit einem Leutnant verkracht und sie nicht bekommen. Deshalb ist er von seinem Regiment abgegeben worden. Ein einfacher Soldat soll die Tapferkeitsmedaille bekommen. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise bekommen Offiziere solche Medaillen, wenn sie ihre Männer forsch in den Tod getrieben und dabei militärisches Glück gehabt haben. Man munkelt, Nechleba habe zwanzig Russen erschossen. Mit dem Gewehr in mehreren Gefechten. Wenn diese Zahl stimmt, wünsche ich mir nie einen Russen, der wie Nechleba schießt und mir über den Weg läuft.

Der Morgen graut und das Bataillon hat auf einem flachen Hang Stellung bezogen. Wir haben es nicht mehr geschafft, die einzelnen Gräben zu einer durchgehenden Linie zu verbinden, daher ist unser Posten alles andere als gesichert. Wobei die Mulden es nicht verdienen, Schützengräben genannt zu werden. Mehr als eine unterschaufelte Brustwehr ist das nicht. Und schon die ersten Sonnenstrahlen des Tages verraten uns die Anwesenheit des Feindes. Gewehre knallen und ein MG feuert. Allerdings ist die gegnerische Linie vergleichsweise weit entfernt im flachen Gebiet. So irritieren uns die russischen Salven kaum. Sie haben schlauerweise nicht gleich am Ende des Hanges, dort wo ein Bächlein fließt, Stellung bezogen, sondern weiter hinten im Flachland. Wir können die paar Höhenmeter unserer Position nicht ausnützen. Für ein Gefecht müssen wir über den Bach und ins Flachland. Der Bach liegt natürlich in der Reichweite ihrer MGs. Die Russen verstehen ihr Handwerk.

Der Bach ist ein kleiner Zubringer zum Fluss Styr. Knapp drei Tagesmärsche entfernt liegt die Stadt Luck und wir hören von dort steten Kanonendonner. Wir stehen also auf russischem Boden.

Kundschafter streifen durch das Umland. Einen Vorteil hat die erhöhte Lage, denn mit dem Fernglas können wir die gegnerische Linie genau beobachten. Oberleutnant Zillner zeichnet den Vormittag über die beobachteten Posten auf seine Karte und schickt Meldegänger los. Ich atme erleichtert durch, heute wird es keinen Angriff geben, heute bleibt es bei Geplänkeln. Ich rolle mich hinter die Brustwehr und lasse mich von der Sonne braten. Neben mir der ganze Haufen ebenso. Das Wichtigste heute ist, zeitgerecht Menage fassen zu können. Gegen drei Uhr Nachmittag kommen unsere Essenholer und bringen Polenta und Brot. Das reicht für einen schnellen Happen und die Beruhigung des Magens.

Das Donnern bei Luck nimmt zu. Alfred schätzt, dass fünf weitere Geschütze ins Gefecht eingegriffen haben. Der Rhythmus der Detonationen klingt in jedem Fall nach dicker Luft. Keine Ahnung, welche Seite jetzt mit mehr Kanonen schießt.

Knapp nach fünf läuft Oberleutnant Zillner auf unsere Schanze zu. Er sammelt Männer für einen Flankenvorstoß. Ich packe mein Gewehr und starre konzentriert nach Osten, um ja nicht aufzufallen. Ich habe gar keine Lust zu irgendwelchen Vorstößen, Flanke oder nicht, mir ist alles egal. Hoffe, der Oberleutnant sieht mich nicht.

Da fallen Namen. Pokorny, Krammer, Kellermeier, Seethaler und Drabek. Also der harte Kern um Pepi. Vielleicht sollte ich mir neue Freunde suchen, welche, die nicht zu jeder Patrouille abkommandiert werden. Also packe ich meine Sachen und laufe gebückt mit den anderen zur Sammelstelle. Dort finden sich zwanzig Mann ein. Fähnrich Bleyer vom 1. Bataillon erklärt uns den Auftrag. Der Fähnrich ist noch jünger als ich, aber er hat sich bewährt, daher schickt ihn Zillner als Kommandant des Stoßtrupps vor. Ich höre zwar die Erklärung des Fähnrichs, aber in erster Linie mustere ich Nechleba. Er hockt mit ausdruckslosem Gesicht am Boden und starrt in den Himmel.

Zum Glück ist Otto wieder dabei. Unser Otto. Er sieht aus wie ein verlauster Steppenwolf, unrasiert, dreckig und sonnenverbrannt, wie wir alle. Nachts sollen wir über den Bach und seitlich durch ein Wäldchen möglichst nahe an zwei knapp beieinanderliegende MG-Stellungen heran. Um sechs Uhr morgens wird das Regiment frontal vorgehen und wir sollen mit gezieltem Flankenfeuer die MGs niederhalten. Der Haken an der Sache ist die Nähe zum russischen Schützengraben. Wenn beim Ende des Wäldchens zwanzig russische Gewehre schussbereit liegen, ist unser Vorstoß ein Himmelfahrtskommando. Soll der Angriff überhaupt gelingen, dann muss er möglichst schnell durchgeführt werden, denn die Russen haben ihre Gräben noch nicht sehr tief ausheben können, und noch verfügen sie über nicht genug MGs für alle Frontabschnitte. Und russische Artillerie gibt es auch noch keine. So etwas kann sich rasch ändern.

 

Wir bekommen noch eine Extraration Kaffee.

Kaum ist die Nacht über uns gesunken, geht es vor. Wir tragen nur leichtes Sturmgepäck, den Tornister, Patronen, kleine Essensrationen und ein wenig Verbandszeug. Fähnrich Bleyer, Otto und drei weitere Männer sind mit Pistolen und Handgranaten ausgerüstet. Der Bach ist stellenweise ziemlich tief, bis zur Hüfte reicht das Wasser. Also nasse Schuhe. Die Nacht ist verdächtig still, sogar das ferne Kanonengrollen versinkt in der Stille. Dann setzt leichter Regen ein. Ich ducke mich unter der Kappe und schleiche durchs Gehölz. Mit mir zwanzig Mann. Wer sich in dieser Gegend nicht verrennt, muss schon hier geboren worden sein. Aber irgendwie bleiben wir halbwegs auf Kurs. Zuerst ein gutes Stück nordwärts, dann in östlicher Richtung weiter. So marschieren wir rund um das ebene Feld vor den MG-Posten herum. Drei Stunden hastiger Nachtmarsch mit langsam durchnässten Kleidern. Zwei Mal gehen alle in Deckung, weil man gegnerische Patrouillen vermutet. Aber die befürchtete Schießerei bleibt aus. Wir atmen alle durch. Die Russen haben uns also nicht vorzeitig entdeckt.

Gegen drei Uhr morgens kommen wir an eine Waldschneise. Vor uns rund zweihundert Meter freies Feld, dahinter liegt ein Waldstück. Dieses Waldstück ist unser Ziel, von dort muss unser Flankenangriff ausgehen. Aber ich spüre am Kribbeln in den Beinen, dass es Ärger geben wird. Kaum zieht Fähnrich Bleyer das Fernglas, wissen wir über den russischen Schützengraben seitlich von uns Bescheid. Er kann nicht breit und tief sein, aber liegt genau längs unserer Vormarschrichtung. Und er ist besetzt. In der Finsternis ist nicht auszumachen, wie viele Russen hier liegen. Wir wissen auch nicht, ob sie MGs haben. Wenn ja, dann gute Nacht, liebes Flankenfeuer.

Unser Stoßtrupp deckt sich am Waldrand. Wir sind einsatzbereit, die Gewehre geladen, die Sinne geschärft.

„Bald wird der Regen aufhören“, flüstert Alfred.

„In einer halben Stunde gibt es Licht“, antworte ich. Pepi und Otto hocken beieinander. Der schlaue Fuchs und der tapsige Bär. Am liebsten würde ich rauchen, aber das ist jetzt absolut unmöglich. Eine glühende Zigarette im Nachtgefecht bedeutet leichte Beute für die russischen Jäger. Tatsächlich bläst der erste Morgenwind die Regenwolken auseinander. Zum Glück sind wir die ganze Nacht über im Unterholz gewesen, so waren wir gegen den leichten Regen halbwegs geschützt. Nass bis auf die Haut sind wir trotzdem. Pepi ist so etwas wie Ottos Leibschütze. Damit kein Russe unseren besten Granatenwerfer abknallt, steht einer unserer besten Schützen immer in seiner Nähe. Auch Pepi hat einen Nutzen davon, allemal, sollte nämlich eine Handvoll Gegner unseren Korporal mit ihren Bajonetten aufspießen wollen, werden sie von gezielt geworfenen Handgranaten empfangen. Ich wundere mich nicht, dass Oberleutnant Zillner die beiden ständig für solche Einsätze abkommandiert. Alfred und ich sind die Dauerläufer.

Der Morgen graut. Wir ducken uns ins Unterholz, nur die Späher halten ihre Köpfe hoch. Der Fähnrich kriecht zu uns.

„Kleine Brustwehr seitlich, zwanzig Mann, kein MG“, flüstert er.

Was gebe ich dafür, dass der Mann gute Augen hat.

„Hinter uns in hundert Metern Entfernung ein Graben. Besatzung unbekannt.“

Das ist schlecht, das ist sehr schlecht. Einen gleich starken Gegner überraschend von der Flanke zu packen könnte klappen, aber das Feuer von hinten könnte mörderisch sein. Vielleicht liegen dort hundert Mann und wir servieren uns auf dem Silbertablett. Pepi, Otto und fünf Weitere sollen hinter die gegnerische Brustwehr und das Feld zwischen den beiden russischen Linien decken, der größere Rest soll auf die erste Linie losgehen. Ein brauchbarer Plan, sofern nicht die zweite Linie stark ist und Pepi und seine Leute abgeschossen werden wie Tauben. Wir müssen schnell sein.

Ich blicke nicht um mich, ich weiß, die Gesichter der Kameraden sind angespannt wie meines. Dennoch erhasche ich einen Blick in Nechlebas Gesicht. Er ist verschlossen, starr und völlig unnahbar, vielleicht auch ein wenig traurig. Dann läuft Pepi los. Mit ihm sein kleiner Trupp. Fähnrich Bleyer ist ein Milchgesicht, aber der Bursche hat Talent zum Frontschwein. Er winkt zum Angriff.

Ich haste los. Alfred neben mir. Hinaus aus dem schützenden Unterholz in das noch spärliche Licht des Tages.

Bizarre Silhouetten geistern über das Feld, laufende Schatten in Menschengestalt. Noch singen die Morgenvögel, gleich lärmt der Krieg.

Stimmen. Hier lang. Vorwärts. Russische Stimmen. Knappes Geschrei. Die ersten Schüsse.

Die Russen sind überrascht, aber sie sind wach wie wir. Ich hüpfe durch hohes Gras wie ein Ziegenbock. Und sehe vor mir eine grüne Uniform. Also liege ich flach. Alfred nur ein paar Schritte neben mir. Ich feuere irgendwohin. Ich versuche die Stellung zu erahnen, von welcher aus der Russe mir Kugeln über den Kopf jagt. Die Kugeln pfeifen schrill. Da, ein zweiter Schütze. Auch Alfred feuert, ohne genau zu zielen. Wir hängen fest, die Kugeln streifen knapp über uns hinweg. Da kracht ein Gewehr knapp hinter mir. Ich blicke mich um. Nechleba. Ich habe nicht bemerkt, wie er einem Schatten gleich hinter mir hergelaufen war. Er schießt und trifft. Die gegnerische Salve stockt, also hüpfen Alfred und ich ein paar Schritte weiter. Die paar Schritte genügen und wir bekommen schon wieder Feuer. Ich blicke nach hinten. Tatsächlich, Nechleba hängt wie eine Klette an mir. Ich liege im Feuer und er zielt. Ein Schuss. Ich springe auf und renne. Kaum stehe ich, sehe ich zwei Russen vor mir liegen. Glatt abgeschossen. Zwei Russen. Dabei hat Nechleba nur drei Kugeln gebraucht. Und einen lebenden Schutzschild, der das gegnerische Feuer auf sich zieht und ihn in Reichweite bringt. Ich hoffe, der Mann bleibt immer in meiner Nähe, mir ist es egal, ob er finster schaut und kaum spricht. So einen Schützen möchte ich immer in meiner Nähe. Aber ich bin ihm egal, denn als Alfred mich überholt, hängt sich Nechleba an ihn.

Handgranaten explodieren in unmittelbarer Nähe, aber auch etwas weiter entfernt. Das heißt, Otto ist an der Arbeit. Der Fähnrich reicht Seethaler die Handgranaten, der sie schleudert. Seethaler ist ein kräftiger Mann und kann so weit werfen wie Otto. Zwei Russen werden von der Detonation umwolkt. Eine Kugel schlägt in Seethalers Brust. Der nächste Schuss gehört dem russischen Schützen, Nechleba hat ihn aufs Korn genommen.

Der überrumpelte Rest der Besatzung will nach hinten ausbüchsen, sie rennen mit fliegenden Beinen. Wir feuern hinterher. Fähnrich Bleyer galoppiert auf das kleine Wäldchen zu, wir folgen ihm. Als Pepi zu uns stößt, fehlen zwei seiner Männer und einer ist blutüberströmt. Otto und ein anderer tragen den Verwundeten. Schulterschuss, nicht sofort tödlich, aber wir kämpfen um sein Blut. Bis zum Abend muss er in ein Lazarett, sonst schafft er es nicht mehr. Also haben wir drei Tote und einen Verletzten.

Zwei Russen haben ihre Gewehre samt Munition liegen lassen. Ich schüttle den Kopf, denn eines der Gewehre ist ein österreichisches. Entweder noch ein Vorkriegsmodell oder im Kampf erbeutet. Jetzt wieder rückerbeutet. Ich packe die Gewehre und die paar Kugeln. Wir verteilen uns im Wäldchen. Seitlich vor uns steht ein MG. Aber es schickt uns nicht seine Geschossgarben, sondern dem Regiment im Vorfeld. Oberleutnant Zillner ist also vorgegangen. Wir richten unser Feuer auf das von uns aus nur halb gedeckte MG. Männer fallen, andere ducken sich. Der Schützengraben ist an der engsten Stelle vierzig Meter von uns entfernt, das MG steht in siebzig Metern Entfernung. Ich weiß nicht wie und warum, aber ich sehe, wie sich drei Gestalten aus dem Wäldchen lösen und geduckt im vollen Lauf das freie Feld überlaufen. Ich schieße den Gewehrlauf heiß, Feuerschutz. Einer der drei ist Nechleba, das erkenne ich mit einem kurzen Blick. Ich kann gar nicht daran denken, was es für eine hirnverbrannte Idee ist, quer über das Feld zu laufen. Und einer der drei fällt auch schon. Aber die anderen beiden erreichen den Graben, springen hinein. Ich sehe nicht, was passiert, ich schieße Sperrfeuer. Handgranaten explodieren im Graben, eine Minute später schwenkt das MG von uns fort. Fähnrich Bleyer gibt ein Handzeichen, wir stürmen vor, erreichen den Graben. Alfred und ich rennen eng beieinander. Das Gewehrfeuer ist gewaltig, Gewehre, MGs, alles, was das Herz begehrt. Aber das 4. Bataillon rückt schnell auf, wir haben für sie eine Bresche geschlagen. Im Graben liegen acht tote Russen, einige von den Handgranaten zerfetzt, einige erschossen. Letzteres war Nechlebas Handschrift. Ich versuche nicht zu rechnen, wie viele Männer er an diesem jungen Tag erschossen hat. Eine Kugel streift mich. Ich rieche verkohltes Leder, der Gurt meines Tornisters ist lädiert, aber meine Schulter heil. Ich renne in Richtung erbeutetes MG, werfe mich nieder, da stolpert Alfred über mich. Er fällt so merkwürdig, das bemerke ich sofort. Ich sehe Alfreds zerstörtes Gesicht.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?