Der blinde Spiegel

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KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946



Langsam wurde er nervös. Er blickte auf die Uhr. Wenn Wildenstein nicht in den nächsten zwei, drei Minuten anrief, würde es peinlich werden. Clarissa bemerkte Meyendorffs Nervosität.



„Und dann, lieber Herr Oberleutnant, habe ich vom bulgarischen Vizekonsul erfahren, dass wir die Ölförderungen in Rumänien heuer um fast dreißig Prozent erhöhen werden können. Um dreißig Prozent! Ich sage Ihnen, die halsstarrigen, kulturlosen Amerikaner werden uns nie in die Knie zwingen. Nie!“



Meyendorff hörte kaum das langweilige Gewäsch des feierlich dozierenden Hofrats. Das war einer dieser leitenden Beamten des Außenamtes, die sich in der Öffentlichkeit liebend gern neben hoch dekorierten Soldaten blicken ließen, um ihnen mit ausschweifenden Monologen die Zeit im Hinterland zu vergällen. Auch Clarissa lauschte nur aus Höflichkeit.



Es war mittlerweile fast elf Uhr, Wildenstein hätte längst anrufen sollen. Ein paar Minuten noch und die Frau des Generals würde im Musiksalon ihre Gesangskünste vernehmen lassen. Und die Arien der Frau General zu stören galt als bodenlose Frechheit. Also, wo blieb Wildensteins Anruf?



„Dabei hat der Vizekonsul die besten Informationen, und ich darf behaupten, ich bin seine Vertrauensperson. Erst neulich traf ich ihn in Sofia. Im Hotel Orient. Sehr exklusiv. Waren Sie schon einmal in Sofia, Herr Oberleutnant?“



Meyendorff bemerkte in letzter Sekunde, dass er befragt wurde.



„Äh … in Sofia? Doch, Herr Hofrat, ich war schon in Sofia.“



Der untersetzte, dickliche Mann lächelte breit.



„Eine wunderbare Stadt. Großartiges Nachtleben. Nicht so streng wie Konstantinopel. Oh Verzeihung, gnädiges Fräulein, ich wollte nicht …“



Der Hofrat kam nicht mehr dazu, seine schlüpfrigen Andeutungen Clarissa gegenüber zu rechtfertigen, denn ein livrierter Diener schritt feierlich durch die Räume.



„Die erlauchten Gäste werden in den Musiksalon gebeten.“



Immerzu wiederholte der Diener seine Kundmachung. Er fluchte in sich hinein. Der Hofrat funkelte Clarissa begeistert an, küsste ihre Hand, nickte Meyendorff zu und suchte nach seiner Gemahlin, um im Musiksalon noch gute Sitzplätze zu ergattern.



„Was haben Sie denn, Hermann?“, fragte Clarissa.



„Das erkläre ich Ihnen später. Kommen Sie, wir müssen uns einen Platz suchen.“



Sie hakte sich bei ihm ein, gemeinsam gingen sie hinter den zum Musiksalon strömenden Gästen einher. Meyendorff war enttäuscht, gleichzeitig aber auch wütend auf Wildenstein. Er hatte geglaubt, Wildenstein wäre zuverlässig. Offensichtlich hatte er sich getäuscht. Der General stand an der Tür zum Musiksalon und spielte mit großmütigem Lächeln den Platzanweiser. Unter beiläufigem Geplauder und Sesselrücken nahmen die Gäste nach und nach Platz. Ein Pianist ordnete am Flügel sitzend seine Notenblätter.



Da hastete ein Diener heran. Er blickte sich in der Menge um. Der General entdeckte seinen Lakaien und winkte ihm.



„Was soll das? Was gibt’s?“



„Dringender Anruf für Oberleutnant von Meyendorff“, sagte der Diener.



„Sapperlot, was soll denn das? Ich kann Störungen meiner Matinee nicht ausstehen. In Gottes Namen, da ist der Oberleutnant.“



Meyendorff atmete innerlich auf, als er den Diener beim General sah und der General auf ihn zeigte. Der Diener kam flott heran.



„Herr Oberleutnant werden dringend am Telefon verlangt.“



Meyendorff runzelte verärgert die Stirn, entschuldigte sich bei Clarissa, nickte dem streng blickenden General zu und folgte dem Diener in forschem Tempo. Sie kamen in ein kleines Dienstbotenzimmer.



Meyendorff nahm den Telefonhörer.



„Lassen Sie mich bitte alleine“, sagte er zu dem Diener, welcher diskret die Tür hinter sich schloss.



„Oberleutnant von Meyendorff.“



„Hallo Hermann, bist du alleine?“



„Ja.“



„Hier also mein Anruf.“



„Du rufst spät an, ich sitze hier auf Nadeln.“



„Na, du bist gut, seit einer halben Stunde versuche ich schon eine Leitung zu kriegen. Aber nichts geht mehr, das Telefonnetz ist völlig überlastet.“



„Werner, ich danke dir.“



„Ich bin viel zu gutmütig.“



„Nein, wirklich, du hast etwas gut bei mir.“



Wildenstein ließ sein typisches sonores Lachen hören, diesmal klang es diabolischer als sonst.



„So etwas sollte niemand zu mir sagen. Ich nutze das schamlos aus.“



„Ich danke dir.“



„Scheiß drauf, Kamerad. Wer dem Alten einen Streich spielt, hat immer meine Unterstützung.“



Eine Dienstbotin trat ein, erschrak, als sie den Oberleutnant telefonieren sah, und schritt schnell durch das Zimmer.



„Jawohl Herr Hauptmann, wird sofort gemacht. Selbstverständlich“, sagte Meyendorff im typischen, schneidigen Rapportton. Wildenstein am anderen Ende der Leitung lachte wieder.



„Und Herr Oberleutnant“, brüllte er plötzlich. „Sie führen meinen Befehl auf der Stelle aus. Wir haben keine Zeit für Firlefanz!“



Wildenstein warf den Hörer auf die Gabel. Meyendorff legte ebenfalls auf. Er versuchte das Lächeln aus seinem Gesicht zu verbannen, möglichst ernst, hart und militärisch auszusehen. Auf Wildenstein war also doch Verlass. Mit strammen Schritten eilte er in Richtung Musiksalon. Clarissa stand etwas verloren noch im Flur, sie wusste nicht, was da vorging.



„Ich muss leider dringend fort“, sagte er zu ihr und ein spitzbübisches Lächeln entglitt ihm. Clarissa war verwirrt.



Im Musiksalon hatten alle schon Platz genommen, der Pianist wartete ungeduldig auf seinen Einsatz, und die Frau des Generals hinter den Kulissen erst recht, aber Kirnbauer hatte den Beginn der Aufführung noch hinausgezögert. Er entdeckte Meyendorff und winkte ihn herbei. Er huschte auf den General zu.



„Es tut mir schrecklich leid, Herr General. Ein Anruf meines ehemaligen Geschwaderkommandanten“, flüsterte er.



„Ist etwas passiert?“, flüsterte der General ebenso.



„Soviel ich hörte, leider ja. Amerikanische Jäger.“



„Schwere Verluste?“



„Zum Glück nicht, aber mein Kommandant ist schwer verwundet nach Konstantinopel gebracht worden. Er bittet um meinen Besuch. Er hat mich alles gelehrt.“



Meyendorff wunderte sich über sich selbst. Er hätte niemals geglaubt, als Schauspieler so talentiert zu sein. Aber ein hohes Ziel erforderte hohen Einsatz.



„Herr Oberleutnant, ich befehle Ihnen, sich um Ihren Kameraden zu kümmern. Die Kameradschaft ist unser heiligstes Gut. Wegtreten.“



Meyendorff salutierte der Situation gemäß, ohne mit den Hacken zu knallen.



„Herr General, darf ich vorschlagen, Fräulein Roth am Weg ins Krankenhaus in ihrer Unterkunft abzusetzen?“



Die Gäste wurden unruhig und musterten den tuschelnden General und Oberleutnant.



„Machen Sie, dass Sie rauskommen.“



Damit war die Sache für den General erledigt. Meyendorff zog sich diskret zurück. Der General winkte dem Pianisten zu und dieser spielte den Radetzkymarsch an, gab somit das Signal für den Auftritt der Frau General. Er schloss hinter sich die Tür zum Musiksalon, blickte um sich, sah, dass er und Clarissa alleine waren und lächelte bis über beide Ohren. Clarissa wurde ein wenig rot.



„Was treiben Sie hier für ein Spiel, Hermann?“



„Ein gewagtes.“



„Und was nun?“



Er bot ihr den Arm an, sie hakte sich ein und eilig marschierten sie los.



„Jetzt machen wir den versprochenen Ausflug.“



Clarissas Augen weiteten sich.



„Nein“, hauchte sie entgeistert.



„Aber natürlich. Vorausgesetzt Sie wollen.“



Ein Diener händigte Meyendorff die Kappe und die Handschuhe sowie Clarissas Täschchen aus, sie liefen über den Kiesweg zum Torportal. Er stemmte sich gegen das Tor, Clarissa trat auf die Straße.



„Ah, Gerhard ist schon da.“



Meyendorff zeigte auf einen Unteroffizier, der in einiger Entfernung bei einem Motorrad mit Beiwagen stand.



„Sind Sie schon einmal in einem Beiwagen mitgefahren?“



Clarissa strahlte, sie war schöner denn je.



„Nein, noch nicht.“



„Dann darf ich bitten.“



Sie eilten auf den Unteroffizier zu.



„Alles wie besprochen, Gerhard?“



„Jawohl Herr Oberleutnant. Hier die Staubmäntel, die Brillen, der Picknickkorb. Und der Tank ist voll.“



Clarissa musterte Meyendorff von der Seite. Sie war begeistert.



„Gerhard, auf Sie ist Verlass. Das wird ein Nachspiel haben.“



Der Unteroffizier grinste breit, salutierte und trat ab.



„Liebe Clarissa, darf ich um das Vergnügen bitten, Sie ans Meer zu fahren?“



Meyendorff war irgendwie nicht mehr er selbst, er war nicht mehr der korrekte, schweigsame junge Soldat mit adeligem Stammbaum, er war ein glücklicher Mensch.



„Hermann, Sie sind wunderbar.“






2. Teil

TROMMELN IM FELD

OSTFRONT, SOMMER 1915



Vor ein paar Tagen wurde die Parole ausgegeben, den Russen gehe die Munition aus. Wir merken nichts davon. Das ist wieder so eine Latrinenparole, von der Armeeleitung zur Stärkung der Kampfkraft ausgegeben. Fadenscheiniges Gefasel, mit dem man die Leute in den Gräben nur verärgert. Wir haben hier täglich weißes Schrapnell und überraschend viel Langrohr, weit und breit kein Granatenengpass bei den Russen. Eher bei uns, denn eine Festung mit sechs MGs zusammenschießen zu wollen kann nur eine Idee unseres Oberkommandos sein. Dementsprechend ist die Stimmung in unseren Reihen. Pepi ist pausenlos am Fluchen. Er ist jetzt Korporal und dafür zuständig, dass unser Frontabschnitt immer gut besetzt ist. Hurra, da trommelt das russische Langrohr und Pepi darf die Knochen sammeln. Und unsere Artillerie funkt irgendwo bei Lemberg herum, also steht unsere Infanteriedivision mit nacktem Hintern vor der russischen Prügelmaschine. Das kennen wir schon, die Russen gehen ohne schwere Artillerie ins Feld, aber ihre Bollwerke starren vor mittlerem und großem Kaliber. Im Feld konnten wir sie schlagen, aber an den Bollwerken holen wir uns blutige Köpfe. Das ist alles nur eine Frage des Langrohrs.

 



Erst recht geflucht wird, wenn es heißt, Spähtrupp vor. Die russische Linie muss ausgekundschaftet werden. Wer lässt sich schon gern freiwillig auf ein Bajonett spießen? Unsere Verluste sind hoch. Alle fürchten schon den Sonnenuntergang, weil da die Sache mit den Spähtrupps losgeht. Hirnverbrannte alte Schreibtischhengste, das sind unsere Anführer, mittlerweile wissen wir sehr gut, wie stark die Russen hier sind, aber unser Divisionskommandant bildet sich täglich fester ein, die russische Linie sei in Bewegung, weshalb wir unser Blut für sinnlose Patrouillen riskieren müssen. In Wahrheit bewegt sich seit einer Woche nichts in den gegnerischen Linien, sie haben genug Artillerie, genug MGs, genug Besatzung. Unsere Divisionsleitung will den richtigen Zeitpunkt für einen Angriff erkunden. Nämlich, wenn der Feind am stärksten ist, um den Stier bei den Hörnern zu packen. So heißt es zumindest. Haben die in fast einem Jahr Krieg nichts gelernt? Wir alle meinen, man soll den Feind angreifen, wenn er am schwächsten ist, aber unsere Meinungen werden ja nicht gehört, wir sind ja nur das Fußvolk, das sich in den Entscheidungsschlachten verschleißt. Und jede Nacht bleiben ein paar Kameraden vor der russischen Linie liegen. Die Russen warten ja nur auf das nächtliche Freischießen. In unserem Regiment dampft die Wut. Unser Glück, dass wir Otto haben.



Mittlerweile ist Otto nicht mehr der Regimentsidiot. Vor ein paar Tagen hat es sogar eine Rauferei mit ein paar Tirolern gegeben, weil sie gedacht haben, sie könnten den beschränkten Wiener verschaukeln. Aber unsere Leute haben Otto verteidigt. Otto ist so etwas wie das Regimentsmaskottchen, solange Otto dabei ist, geht das Regiment nicht unter. Und mein Glück ist, dass Otto sogar in meinem Zug steht. Er kann nicht getroffen werden, so viel steht fest. Otto ist von der Natur mit einem schwachen Verstand benachteiligt, aber vom Schicksal mit Unverwundbarkeit begnadet. Fünf Mann hocken zusammen in einem Graben, vorderste Linie, schweres MG-Feuer und klopfende Granaten. Einer wird getroffen und blutet. Was macht Otto? Er packt den Mann, wirft ihn sich über die Schulter und rennt los wie vom Teufel gehetzt. Erst durch die Gräben, aber als es zu langsam vorangeht, springt er aus dem Graben und läuft und läuft. Die Kugeln pfeifen ihm um die Ohren, aber Otto wird nicht getroffen. Niemand weiß, wie oft Otto schon Verwundete auf diese Art in Sicherheit gebracht hat. Jeder andere bekäme zehn Kugeln in den Rücken. Otto nicht. Und was ist mit den drei Männern im vorderen Graben? Kaum ist Otto fort, wühlt eine Granate den Graben um und die Männer sind hin. Otto aber bringt den Verwundeten ins Lazarett. Angeblich soll der Mann wieder genesen sein. So etwas macht Legenden, und wir Soldaten sind abergläubisch wie alte Fischweiber. Wenn eine nächtliche Patrouille rausmuss, beten alle, Otto möge dabei sein. Und tatsächlich hat es noch keine Verluste bei Patrouillen mit Otto gegeben, während andere fast immer zumindest Verwundete haben. Ernsthaft kann das niemand erklären, und zu sagen, der Mann hat ein besonders ausgeprägtes Gespür für dicke Luft, ist keine Erklärung, also sind wir auf den Aberglauben angewiesen. Und ein Soldat im Grabenkrieg klammert sich an jeden Strohhalm, solange er nur mit dem Leben davonkommt.



Mit dem Leben ist das so eine Sache. Merkwürdig, merkwürdig.



Wer will nicht leben? Alle wollen wir leben, egal ob graue oder grüne Uniform, egal ob Österreicher oder Russe. Aber was tun wir? Wir bedienen Werkzeuge, deren Zweck es ist, Leben zu zerstören. Vor drei Tagen habe ich getötet. Eigenhändig. Es war die von mir abgefeuerte Kugel, die den Hals des Mannes zerrissen hat, nicht irgendeine Kugel im Geplänkel, sondern meine Kugel.



Wir gehen hinaus zur Nachtpatrouille, vier Mann, auch Toni war dabei. Vorwärtsrobben, den Schädel in den Staub und Stückchen für Stückchen voran. Oberleutnant Zillner hat schon ein Dutzend Mal gesagt, dass seine Leute für Patrouillen Pistolen und Handgranaten brauchen, weil Gewehre so unhandlich sind, aber Erfolg hat er bisher keinen damit gehabt. Also müssen wir mit den sperrigen Gewehren ins Niemandsland. Wir liegen im Gestrüpp, die Sterne blicken fern und bleich vom Himmel herab und in unmittelbarer Nähe hören wir eine dünne Stimme. Auf Nachtpatrouille hat jeder Mann extrem geschärfte Sinne. Jede Sekunde vergeht wie ein Jahr, jeder Regenwurm in der Erde rumort wie eine Dampfmaschine, jede menschliche Stimme pfeift wie ein Schiffshorn. Und wir hören diese dünne Stimme überdeutlich, und wir erkennen den Klang der russischen Sprache. Weiß der Teufel, wie ein plappernder Russe mitten ins Niemandsland kommt, aber er ist da. Und wo einer ist, sind vielleicht auch mehrere, und wo mehrere sind, ist vielleicht ein ganzes Regiment, und wo ein Regiment ist, ist vielleicht eine ganze Division, und wo eine Division ist, ist auch die gesamte russische Armee, die Dampfwalze aus dem Osten. So zumindest war uns zumute, vier Mann gegen die ganze russische Armee. Wir frieren im Sommer am Boden fest und wünschen uns, nicht atmen zu müssen. In der Ferne bellt ein MG und wummern leichte Granaten.



Mein Gehör ist mittlerweile in allen Tonlagen des Krieges geschult. Ich kann alle gefährlichen Geräusche von ungefährlichen unterscheiden. Große, schwere Granaten fahren wie Güterzüge durch die Luft, sind also leicht zu berechnen. Ungefährlich für die Nerven, man hört gleich, ob sie nah oder fern einschlagen. Bei Ferneinschlägen zieht man den Kopf ein und die Sache ist erledigt. Bei Naheinschlägen erspare ich mir das Kopfeinziehen, weil da bin ich erledigt, aus und fertig, braucht man nicht viel zittern dabei. Gut, dass mich die großen, schweren Brummer noch nicht in der Nähe besucht haben. Nur die kleinen Granaten sind Biester, surren aus dem Nichts daher und knallen frisch drauflos. Das macht Nervenflattern. Wer immer ein helles Surren hört, muss in derselben Sekunde schon bäuchlings die Erde küssen. Fehlende Arme, offene Rücken, gespaltene Schädel sind das Mindeste für Schläfer, die ihren Ohren nicht trauen. Und marschiert man im Trupp und einer fliegt flach zu Boden, muss der ganze Trupp forsch folgen. In Sekundenschnelle, sonst gibt es wieder einen Engpass im Lazarett.



Das 2. Bataillon hat einen Mann gehabt, Schmidtleitner, der hat alle in den Wahnsinn getrieben. Er hat seinen Frontkoller ausgefasst und ständig pfeifende Granaten gehört, wo keine waren. Und immer geht er flach, immer, und mit ihm das ganze Bataillon. Mitten in der Nacht, alles schläft, brüllt plötzlich Schmidtleitner: „Granaten!“ Er rennt los und mit ihm das ganze Bataillon. Ein Mann mit Frontkoller kann ein ganzes Bataillon anstecken. Die Männer waren alle am Überschnappen und hätten ihn beinahe füsiliert. Im letzten Moment ist er ins Lazarett gesteckt worden, zu den Nervenkranken. Kaputte Seele, wen wundert’s? Ist eine Verwundung wie jede andere auch. Kaputte Seele, kaputte Beine, kaputte Augen, kaputter Hals. Wie mein Russe, kaputter Hals.



Wir liegen im Gestrüpp und zittern. Ein MG schickt fragmentarisches Sperrfeuer über unsere Köpfe hinweg und das Plappern verstummt. Das kann zweierlei bedeuten, der Russe ist in seinen Graben zurückgekrochen oder er schleicht auf unsere Linie zu.



Gleißendes Licht flammt am Himmel auf. Eine und noch eine Leuchtpatrone. Unsere oder feindliche? Keine Ahnung. Licht plötzlich in meinen Augen, Licht. Nur ein paar Schritte vor mir aber ein schmutziger Schatten im Lichtvorhang. Ein Kopf. Ich bringe mein Gewehr nicht zum Anschlag, denn der Himmel oder auch die Hölle will, dass es schon richtig liegt. Zwei Schultern, ein Kopf, eine russische Mütze und ein Gewehr, das in Panik herumgeworfen wird. Er oder ich, die ewige Frage im Zweikampf. Mein Gewehr liegt zufälligerweise richtig. Also ich. Im letzten Schein der Leuchtpatrone sehe ich eine dunkle Fontäne aus dem Hals des Mannes brechen. Toter Russe, meine Kugel hat ihn getroffen. Er hätte nicht plappern dürfen, er hätte es nicht dürfen, denn dann wäre vielleicht ich der Tote gewesen. Jetzt aber gibt es Zores, jetzt aber los, zurück zum Schützengraben, denn die Russen mögen es gar nicht, wenn knapp vor ihrer Linie einer ihrer Kameraden erschossen wird. Gewehre bellen uns hinterher. Wir stürzen in Panik, zum Glück aber nicht kopflos zurück. Toni kriegt einen Streifschuss am linken Unterarm. Nur eine Schramme, kleiner Verband und in einer Woche weiß er nichts mehr davon.



Im Unterstand flirrt mir die Schattenfontäne vor den Augen. Ich kenne mich da aus, ich weiß, wie ein Gewehrschuss Wirkung zeigt. Hat einer einen Halsschuss mit so einer Fontäne, ist es vorbei mit ihm, da hilft kein Beten, da hilft kein Stabsarzt, da ist die Sache abgeschlossen. Ich kenne das, Halsschuss ist selten, weil der Hals so schlank ist, aber wenn er sitzt und die Fontäne kommt, hat der Mann den Krieg hinter sich. Ja, jetzt habe ich auch einen Mann getötet. Bin bleich im Gesicht, als sickerte mein Blut in den Acker. Pepi steckt mir eine brennende Zigarette zwischen die Lippen.



„Hab schon drei. Besser er als du.“



Das ist alles, was er sagt, aber Pepi hat recht, Pepi hat immer recht. Das hier ist der Krieg, morgen bin ich vielleicht schon tot. Wie gut die Zigarette schmeckt.





KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946



Das Leben ist ein Wettlauf mit der Zeit. Meyendorff blickte kurz auf die Armbanduhr. Die Zeit lief und lief. Er drehte am Gasregler, der Motor heulte auf, die Straße vor ihnen war in halbwegs gutem Zustand, also drückte er aufs Gas. Er war auf die Straße konzentriert, auf den Lkw vor ihm, auf das Überholmanöver, auf die zum Glück seltenen Schlaglöcher, dennoch spähte er seitwärts zum Beiwagen des Motorrades. Clarissa klammerte sich an den Griffen fest, sie duckte sich in den Beiwagen. Die Motorradbrille und die Ledermütze verhüllten zwar ihr Haar und ihre Augen, aber Meyendorff sah, dass sie lächelte. Der Fahrtwind hatte ein paar ihrer Locken unter der Ledermütze hervorgezupft und spielte damit.



Die Matineen des Generals dauerten normalerweise bis zwei Uhr Nachmittag, danach gab es ein Galadiner für ausgewählte Gäste, zu denen Meyendorff und Clarissa nicht zählten. Die Hyänen im Barackenlager wussten gewiss ebenfalls über diesen Zeitverlauf Bescheid, also würden sie Clarissa spätestens um drei Uhr zurückerwarten. Sie hatten für ihre Fahrt ins Blaue nicht viel Zeit, dreieinhalb Stunden. Einerseits war das furchtbar wenig, andererseits unendlich viel, weil sie jetzt erstmals richtig zusammen waren, und da zählte jede Sekunde wie eine Ewigkeit.



Meyendorff sah das geschotterte Teilstück der Straße schon von Weitem, aber er reduzierte das Tempo kaum.



„Vorsicht!“, rief er. „Festhalten!“



Clarissa duckte sich wieder in den Beiwagen und klammerte sich fest. Die Reifen des Motorrades rumpelten über den Asphalt, sprangen in den Schotter, bissen und keilten sich in den holprigen Untergrund, schlugen Steine hoch. Das Motorrad wurde hin und her geworfen, die Federung knarrte bedenklich. Ein heller Schrei entfuhr Clarissa. Erschrocken blickte Meyendorff nach ihr, aber es war kein Schrei der Angst, sondern Clarissa johlte vor Vergnügen. Das Motorrad flog über die Schotterpiste, hinter ihnen wirbelte Staub hoch. Er musste das Tempo reduzieren, ein Federbruch oder ein Reifenschaden war das Letzte, was er sich für diesen Sonntag wünschte. Kaum war er wieder auf der Asphaltfahrbahn, gab er erneut Gas. Konstantinopel verschwand hinter ihnen, das Umland nahm sie auf, führte sie durch kleine Wäldchen, an Feldern und Olivenhainen vorbei. Er wusste ungefähr, wohin er fuhr, er hatte sich die Fahrtroute auf der Karte angesehen und eingeprägt, aber tatsächlich kannte er das Umland von Konstantinopel genauso wenig wie Clarissa.



Sie rollten eine Anhöhe empor, schlängelten sich durch ein paar Kurven, fuhren durch ein Waldstück und fanden sich plötzlich am Scheitel der Anhöhe. Meyendorff hielt den Atem an. Er bremste, lenkte das Motorrad an den Straßenrand und stoppte. Clarissa erhob sich im Beiwagen und riss sich die Brille vom Kopf.



Das Meer. Blau und ewig lag es vor ihnen. Plötzlich war es so still, dem Dröhnen des Motors folgte der leise Hauch einer lauen Brise. Weit entfernt schrien Seevögel, segelten hoch, stießen herab und segelten wieder hoch. Das Sonnenlicht flackerte in tausend Brechungen auf der Wasseroberfläche. Weit draußen zog still ein Dampfer langsam in die Ferne.

 



„Wie schön dieser Ausblick ist“, sagte Clarissa versonnen. „So wunderschön.“



Meyendorff nickte zustimmend, der Ausblick war wirklich wunderschön, aber nichts gegen ihre Schönheit beim Anblick des weiten Meeres. Er konnte seine Augen nicht von ihr lösen.



„Schauen Sie, Hermann.“ Sie deutete aufgeregt in eine Richtung. „Dort, diese Landzunge. Dort müssen wir hin. Da ist sogar ein Weg.“



Hermann trat an die Klippen heran. Ja, die Landzunge führte hinunter ans Meer und der Weg schien passierbar.



„Gut, dann wollen wir mal.“



Beide setzten wieder die Brillen auf, Hermann startete das Motorrad und wendete. Er fuhr die Anhöhe wieder hinab und bog von der Straße in den Weg. Langsam rumpelte das Motorrad auf die bewaldete Landzunge zu. Über ihre Köpfe zogen drei in enger Formation fliegende Transportmaschinen dahin. Die beiden achteten kaum darauf, sie sahen nur knorrige Bäume, dichte Büsche und das helle Sonnenlicht. Meyendorff spähte nach irgendwelchen Verbotsschildern, fast erwartete er schon die Warntafeln der Armee, Vorsicht Schießgelände, Vorsicht Minenfeld, Vorsicht Sperrgebiet, aber nichts dergleichen war zu sehen. Das Motorrad verschwand im Gehölz, der Weg führte hinab, dem Meer zu. Von der Straße aus waren sie nun nicht mehr zu sehen. Der Weg wurde immer holpriger, an eine Weiterfahrt war nicht mehr zu denken, also stoppte er die Maschine.



„Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter.“



Clarissa sprang aus dem Beiwagen, streckte ihre Beine.



„Ja, ein Mercedes ist bequemer“, lachte Meyendorff.



Clarissa lachte ebenfalls.



„Nur ist eine Fahrt mit einem Mercedes niemals so lustig.“



„Da, Clarissa, da!“



Meyendorff starrte und zeigte gebannt zum zwischen den Bäumen durchschimmernden Meer. Sie waren also schon ganz nahe am Ufer. Clarissa entledigte sich der Ledermütze und des Staubmantels, sie stand in ihrem Galakleid mitten im Wald. Sie wirkte wie eine Prinzessin, die mit dem Ritter von der Festtafel des Königs geflohen war.



Sie verstauten die Motorradkleidung im Beiwagen, Meyendorff lud sich den Picknickkorb auf, Clarissa nahm die Decke. Das Zirpen der Zikaden erfüllte den Wald. Meyendorff marschierte voran, hinunter zum Meer. Die sanfte Brandung leckte an den Felsen, sie traten aus dem Schatten der Bäume in die Mittagssonne.



„Oh, wie sehr habe ich mir das gewünscht.“



Clarissa schien zu schmelzen. Sie hockte sich nieder und tauchte die Hände ins Wasser.



„Wie warm das Wasser ist. Lädt zum Baden ein. Und die frische Luft. Ich liebe den Süden.“



Und ich liebe dich, dachte Meyendorff.



„Kommen Sie, Clarissa, gehen wir da entlang. Hier sind die Felsen ziemlich schroff, vielleicht finden wir dort vorne einen offenen Strand.“



Sie kletterten über die Felsen, schlängelten sich durch enge Klüfte, hüpften über Spalten. Meyendorff stieg auf einen hohen Stein, sein Blick fiel auf ein kleines, verstecktes Paradies. Er lächelte, er war glücklich, er fühlte sich nun mit der Welt im Einklang.



„Hermann, das ist großartig! Das ist ja wie ein Traum!“ Clarissa schlüpfte an ihm vorbei, sprang flott und gewandt über ein paar Felsen und landete im Sand.



Die kleine Bucht war zum Land hin von einem dicht bewaldeten Steilhang und zu beiden Seiten der Küstenlinie von den Felsen abgeschirmt. Der Strand bestand aus grobem Sand und feinen Kieseln, das Wasser war smaragdgrün, mit einem Blick sah Meyendorff Fische in die Tiefe tauchen. Niemand konnte sie hier sehen. Clarissa schleuderte ihre Schuhe von sich, raffte ihr Kleid und rannte durch den Sand. Quietschvergnügt tapste sie ins Wasser, die leichte Brandung umspülte ihre Beine. Er hatte nicht gewusst, dass ein Fräulein so schön und begehrenswert sein konnte, dass er nur vom Hören ihres Lachens in ein Glück versetzt werden konnte, von dem er nicht geglaubt hatte, es jemals zu erfahren. Er war in manchen Stunden schon der Meinung gewesen, dass es wahre Liebe seit dem Mittelalter nicht mehr gab. Und nun war Clarissa in sein Leben getreten und hatte mit einem Augenaufschlag seine Hoffnungslosigkeit hinweggewischt.



„Das müssen Sie probieren, Hermann. Das Wasser ist wunderbar.“



Clarissa trippelte durch das seichte Wasser, zwar hielt sie das Kleid hoch, spritzte es aber trotzdem voll. Sie achtete nicht darauf. Meyendorff konnte nur unter größter Mühe den Blick von ihren Waden und Knien wenden. Was für schöne Beine sie hatte, schlank und straff.



„Ich schlage vor, wir platzieren die Decke hier.“ Er zeigte auf ein schattiges Plätzchen unter einer ausladenden Pinie. „Haben Sie Hunger, Clarissa?“



Sie eilte herbei und ließ sich auf die ausgebreitete Decke fallen.



„Oh ja, Riesenhunger. Was haben Sie denn eingepackt?“



Er entlud mit großer Geste den Korb.



„Nicht viel, nur ein paar Happen. Brot, Käse, ein paar Oliven, eine Flasche Wein.“



„Oliven? Ich mag eigentlich keine Oliven. Die schmecken so merkwürdig.“



Meyendorff lachte, packte die Oliven aus, schnappte sich eine und warf sie sich in den Mund.



„Kosten Sie nur. Für uns Österreicher schmecken Oliven merkwürdig, aber nur die ersten. Wenn Sie einmal auf den Geschmack gekommen sind, werden Sie Oliven lieben.“



„Glauben Sie wirklich?“



„Ich bin mir sicher, Clarissa. Völlig sicher. Vor allem bei Ihnen. Sie lieben ja den Süden, und die Oliven sind die Früchte des Südens. Da, probieren Sie eine. Hören Sie nicht auf zu essen, bis die Oliven Ihnen schmecken. Und Sie werden Ihnen schmecken. Mir ging es auch so.“



Er offerierte ihr eine ausgesucht dicke Olive. Clarissa runzelte die Stirn, langte aber schließlich doch zu und kaute mit gerunzelter Stirn.



„Es ist sehr heiß“, sagte Meyendorff und überlegte, ob es unschicklich wäre, sich den Uniformrock aufzuknöpfen.



Clarissa sprang hoch und eilte zu einem flachen Stein, setzte sich darauf und ließ sich von der Sonne anlachen. Sie achtete, wie ihm auffiel, nicht im Geringsten auf ihr Kleid, denn ein Zipfel hing ins Wasser. Plötzlich schob sie das Kleid hoch, über ihr Knie, bis zu den Oberschenkeln, sie raffte die Ärmel und genoss die Sonne auf ihrer Haut. Meyendorff starrte gebannt auf die Meerjungfrau auf dem Stein, auf die schönste Tochter des Poseidon. Er war erregt, er war fast außer sich, er wusste nicht mehr, ob ihm wegen der Mittagshitze oder ihrer nackten Beine so heiß war. Ohne es zu bemerken, knöpfte er nun doch den Uniformrock auf.



Clarissa blickte zu ihm hinüber.



„Kommen Sie auch ins Wasser, Hermann. Es ist himmlisch.“



Wieder stakste sie durch das seichte Wasser. Meyendorff schlüpfte aus seinen Schuhen, krempelte die Hosenbeine hoch und folgte ihr.



„Sie haben recht, es ist himmlisch.“



Clarissas Blick verlor sich in der Tiefe vor ihnen.



„Ob es hier Haie gibt?“



„Glaube ich kaum, und wenn, sind sie klein und ungefährlich.“



„Dann müssen wir unbedingt schwimmen. Meinen Sie nicht?“



„Aber wir haben doch keine Handtücher dabei“, warf Meyendorff ein.



Clarissa lachte.



„Egal, die Sonne wird uns schon trocknen. Was meinen Sie, sollen wir?“



„Wir haben ja gar keine Badekleidung mit.“



Clarissa zeichnete mit der Zehenspitze halbkreisförmige Linien in den Sand.



„Das stimmt natürlich. Aber hier sieht uns doch niemand.“



Sein Puls raste. Schwimmen mit Clarissa! Ohne Badekleidung!



„Ach kommen Sie, Hermann, seien Sie kein Spielverderber.“



Meyendorff wagte nicht zu denken, was passieren konnte, wenn Clarissa jetzt aus ihrem Kleid schlüpfte. Er stand wie angewurzelt da. Sie war so lebensfroh, so drall inmitten der Freude, der glücklichen Stunde so nahe. Hermann bewunderte ihre naive und beglückende Freiheit. Sie nahm hungrig und offen, was da kam, kein unrechter Gedanke, keine heimtückische Absicht, kein linkischer Winkelzug trübte ihr Denken und Handeln. Sie war rein und frei, si