Der blinde Spiegel

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BUDWEIS, NOVEMBER 1945

Die grauen Portale, schmucklos und ohne jede Würde, gähnen trostlos in den Novembergassen meines Stadtteils. „Mein Stadtteil“ ist fast fürstlich gesprochen. Seine Hochwohlgeboren lassen sich herab, die Elendsquartiere innerhalb Seines Fürstentums zu beäugen. Oder so ähnlich. Nein, niemals kommt tatsächlich ein Adeliger oder sonst eine Person von Rang und Namen in die Vorstädte von Budweis. Die Inder kennen eine Kaste von Unberührbaren, Parias werden sie genannt, wenn mich meine lückenhaften völkerkundlichen Kenntnisse nicht wieder im Stich lassen. Sammelt alle Parias der Monarchie und pfercht sie in ein paar Städte zusammen, nennt diese Städte Brünn, Prag oder Budweis und schon seid ihr Besitzer der Gegenwart. Mein Stadtteil! Verkommene Bruchbuden, Barackenstädte und Kellerwohnungen, das ist mein Reich. Menschen, die sich längst mit Mäusen, Wanzen und Asseln im Wohnzimmer verbrüdert haben, Menschen, die gelegentlich das stark gebratene Fleisch von Ratten zu würdigen wissen, die aus Buchenmehl trefflich Sonntagsbrot zu backen wissen, weil das Weizen- und Roggenmehl nach Steyr, Pilsen oder Wiener Neustadt geht, sicher nicht nach Budweis. Hungernde Menschen kennen keine Würde, sie kennen nur ihr Leben, das sie aus ungeklärten Gründen von einem Tag auf den nächsten hieven wollen.

Die Nächte im November fallen überraschend schnell.

Heute ist Sonntag, der Tag des Herrn in einem katholischen Land, also ruhen die nicht kriegswichtigen Industrien. Ich bin aber arbeitslos, also habe ich oft die schöne Gelegenheit zu einem Spaziergang. Langsam gehe ich, denn meine Glieder spüren das nasskalte Wetter. Andenken an den vielen Morast in meinem Leben. Ich habe gehört, dass deutsche Industrielle nach Karlsbad fahren, um ihren Rheumatismus mit Schlammbädern kurieren zu lassen. Ob ich das glauben soll? Mein Rheumatismus ist im Schlamm der galizischen Sümpfe erst entstanden. Vielleicht liegt es daran, dass ich kein Industrieller bin, denn für Industrielle tickt die Uhr des Lebens ja anders als für niederösterreichische Landkinder, die das Schicksal in ein tschechisches Elendsquartier geworfen hat.

Schöne Sommer im Marchfeld. Ich habe so viele Erinnerungen in meinem Kopf, Millionen einzelne Lebensfragmente. Warum aber nur so schmerzlich wenige an die Sommer meiner Kindheit? Einmal, zweimal im Jahr schwimmt eine Erinnerung an das Marchfeld hoch, von einem unverständlichen Gefühlsstrom erfasst, überflutet mich, löst Jubel und Festtagsstimmung in mir aus und strahlt helles Licht unbeschwerter Kindheitstage auf mich nieder. Ich bin eine sentimentale Eule. Wogende Getreidefelder, fruchtig rote Punkte in den Kirschbäumen, das rhythmische Scharren, wenn die Schnitter ihre Sensen schärfen für die Mahd. Ja, die Kirschbäume! Ich sitze auf einem Ast, die Mooswinkler Kathi ein Stückchen tiefer. Wir mampfen. Frech spucke ich Kerne hinunter, und sie schimpft, weil ihr Kleid Flecken bekommen könnte. Liebe Katharina, Freundin meiner frühen Sommer, Spielgefährtin und zukünftige Braut, ich wollte dich ja heiraten, später, wenn wir beide erwachsen sein würden, du fandest es zwar gemein, wenn ich dich boxte, konntest aber meinen Heiratsabsichten durchaus etwas abgewinnen. Ist nie etwas geworden, wirst wohl einen anderen geheiratet haben. Sommertage in der weiten Ebene des Marchfeldes. Kostbare und rare Erinnerungen an eine versunkene Welt.

Ich werde wohl den Spaziergang etwas verkürzen, denn die Hüften und die Knie schmerzen immer stärker. Also kriegen wir doch früher als erwartet Regen und Nebel. Vielleicht sollte ich zum Armeewetterdienst gehen. Herr General, meine Gelenke sind heute ganz tadellos, schicken Sie Ihre Bombenflugzeuge los. Nein, damit scherzt man nicht, ich bin so blöd. Erst Ende Oktober hat ein Bomber irrtümlich seine tödliche Last über Budweis ausgeklinkt. Zwanzig Tote hat es gegeben. Na ja, Pilsen oder Steyr erreichen sie nicht, dort stehen Flakbatterien und die Abfangjäger, also schmeißen sie die Bomben irgendwohin, und wenn es sein muss, sogar auf eine industriell so unbedeutende Stadt wie Budweis. Immerhin haben wir hier die Bahnlinie zwischen den k. u. k. Schwerindustriezentren, da lohnen sich vielleicht ein paar vom Himmel fallende Bomben und Knochen amerikanischer Flieger.

Aber was weiß ich von Strategie, ich lebe in einem Kellerloch, zähle meine Brotmarken und hoffe, die Marken tatsächlich in Brot tauschen zu können. Ich bin ein winziges Rädchen einer Staatsmaschinerie, welche den Krieg als Selbstzweck ansieht und danach wirtschaftet. Bald bricht wieder ein neuer Kriegswinter an, und niemand weiß, wie viele noch folgen werden. „Kräftepatt“ sagen die Zeitungen, die Mittelmächte beherrschen Europa und den Mittleren Osten, die Alliierten den Rest der Welt. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben noch den Frieden sehen werde, und ich zweifle, ob es den folgenden Generationen vergönnt sein wird. Alter, klappriger Staat, schon vor fünfzig Jahren hat niemand mehr an eine Weiterexistenz der Donaumonarchie geglaubt, aber dieser Staat ist zäh, dieser Staat lebt durch und für den Krieg, nur der Krieg hält ihn noch zusammen. Die Schwerindustrie in Wien, Pilsen und Linz, die Munitionsfabrik in Wöllersdorf, die Waffenschmiede in Steyr, die Flugzeugwerke in Wiener Neustadt, die Panzerfabrik in Budapest, das sind die tragenden Kräfte dieses Staates. Und der Hochadel und der Generalstab sind die Verwalter. Nibelungentreue auch im zweiten großen Krieg. Deutschland, Österreich-Ungarn und die Türkei, die Bündnispartner des Jahrhunderts. Diese drei Staaten werden noch viele Jahre Krieg führen können. Gewinnen werden sie nicht, daran glaubt niemand, verlieren werden sie aber auch nicht, also wird der Krieg noch manche Tage schmierigen Novemberlichtes erleben.

Ende des Spaziergangs, ich werde mich ins Bett legen und den weiteren Sonntag unter der Decke verbringen. Da ist es nicht so kalt. Der Winter beginnt schlecht, alle werden hungern, viele werden krank werden, manche werden sterben. Und ich soll ein Spion sein? Ich spinne, aber Schachner ist wirklich verrückt. Mit Kryptogrammen gegen die Generäle. Das ist kann doch nur ein bizarrer Witz des Lebens sein. Wenn ich wenigstens Arbeit hätte, da bekäme ich mittags immer Suppe oder Eintopf.

OSTFRONT, APRIL 1915

Bleiche Angst tropft mir kaltes Regenwasser auf den Rücken. Ich nagle meine Augen in die schmatzend feuchte Erde. Nur nicht nach oben schauen, nur nicht nach oben schauen. Geduckt wie ein sich vergrabendes Tier in der Pfütze hocken und hoffen, dass endlich der Regen aufhört. An Schlaf ist nicht zu denken, obwohl meine Lider schwerer noch als die lehmverkrusteten Stiefel nach unten ziehen. Das wäre es überhaupt, sich nach unten in die Erde ziehen zu lassen, tot in den Schoß der Mutter zu sinken. Nein, das Leben bleibt. Und die Angst.

Vorderste Linie, vier Uhr früh. Jedes Geräusch wird zur lebensbedrohlichen Furie, dabei bin ich so gut wie taub und höre nichts. Nein, ich strecke nicht den Kopf hoch, ich bleibe unten, ich schaue nicht in die Welt hinaus, ich schmiege meine Wange an die nasskalte Erde. Ich hocke und hoffe auf das Tageslicht, denn dann bin ich abgelöst und werde nicht mit den Russen ein paar Meter weiter um die Wette lauschen müssen. Im prasselnden Regen hört man ohnedies nichts. Und von Sehen kann nicht die Rede sein. Blind, taub, stumm sind wir. Der Österreicher hier, der Russe dort, blind, taub und stumm. Aber schwer bewaffnet. Gewehr bei Fuß und Munition für eine Woche.

Ob der Schnupfen noch stärker wird? Frühlingserwachen mit Regen und Segen. Nur ist nicht ein einziges Fleckchen an mir nicht durchnässt, kalt, klamm und starr. Melde gehorsamst, Herr Leutnant, das Gewehr ist sauber und funktionstüchtig, nur der Plänkler ist im Schlamm versunken. Hoffentlich kommt nicht eine Lungenentzündung den Schützengraben entlangmarschiert und spießt mich auf ihr Bajonett. Oder sollte ich darauf hoffen, um der vordersten Linie zu entkommen?

Der maßgeblichste Vorzug des Stellungskrieges ist die Überschaubarkeit. Jeder Winkel im Schützengraben ist dem Infanteristen ein Begriff. Dort lag Meier. Kopfschuss, in zehn Sekunden tot. Dort lag Müller. Nasenschuss, in zwei Wochen elend abgekratzt. Dort lag Schmied. Kieferschuss, sein Leben lang entstellt. Dort lag Brunner. Halsschuss, in zwei Minuten tot. Dort lag Steiner. Schulterschuss, in drei Monaten wieder an der Front.

Nur nicht einschlafen, niemals einschlafen auf nächtlichen Wachposten an der vordersten Linie. Selbst wenn das Wetter jede Bewegung, die eigene wie die des Feindes, unmöglich macht.

Alfred steht neben mir, wohl seit einer Stunde verharren wir regungslos nebeneinander. Meine dritte Nachtwache, meine vierte Stellung an der vordersten Linie. Ein paar Schritte weiter steht Otto. Sein Gewehr liegt im Matsch. Der Idiot kann sein Gewehr einfach nicht in der Hand halten. Immer legt er es irgendwo ab, wo es verdreckt. Wie soll er da schießen? Mit verdrecktem Lauf? Idiot. Mit dem Kerl hat das Regiment den kühnsten Streiter in diesem großen Ringen der Völker erhalten. Der größte Held des Kaisers! Beim Anmarsch hat er nach einer kurzen Rast sein Gewehr nicht wieder umgehängt, sondern irgendwo in der galizischen Trostlosigkeit liegen lassen. Erst nach sieben Kilometern Fußmarsch bemerkt der Leutnant, dass ein Plänkler ohne Waffe marschiert. Wo ist dein Gewehr, Infanterist? Otto kriegt große Augen, rennt panisch herum. Er hat das Fehlen seines Gewehrs überhaupt nicht bemerkt. Aber keine Zeit für eine Kehrtwendung, das Marschbataillon muss schnell zum Sammelpunkt, also weiter sich in die dreißig Kilogramm schwere Ausrüstung stemmen und schwitzend, keuchend, wie Ochsen beim Pflügen im Morgengrauen dampfend einen Schritt um den anderen setzen. Voran, voran, der Front entgegen.

 

Am Sammelpunkt gibt es die Standpauke vom Major. So etwas hat er noch nicht erlebt, ein Infanterist, der sein Gewehr ganz einfach vergisst, so etwas hat er noch nie gehört. Wer ist der Kretin? Der Kretin soll vortreten! Otto Drabek kippt fast um vor Angst. Er überragt den Major um eine Kopfhöhe und sein breiter Rücken ist vom Schleppen der Ausrüstung scheinbar nicht gebeugt, aber unter dem Donnerwetter des Majors schrumpft er zum Insekt. Anbinden, der Kerl wird eine Nacht lang angebunden, da wird er den Wert eines Gewehrs zu schätzen lernen. Sagt der Major. Und dabei ist er noch viel zu gut, sagt er, in Wahrheit gehört so ein Kerl vor das Standgericht. Also wird Otto an einen Baum angebunden. Quälend für ihn, beschämend für das Bataillon. Ihr Nichtsnutze habt also auf den Kretin in euren Reihen nicht aufgepasst. Der Major hat sich noch nicht beruhigt. Na gut, Strafexerzieren und verkürzte Menage.

Wir hassen Otto Drabek. Fünfunddreißig Kilometer Eilmarsch mit vollem Marschgepäck und dann noch Strafexerzieren und nur eine halbe Portion zu fressen. Was können wir dafür, dass er ein Idiot ist? Und am Baum hängt ein Kerl von fast neunzig Kilogramm strammer Muskeln und starker Sehnen und heult die ganze Nacht hindurch wie ein kleines Kind. Wäre ich nicht vor Erschöpfung der Bewusstlosigkeit nahe, hätte ich auch geheult. Oder Otto abgestochen. Das Bajonett in den Bauch, nicht in die Rippen. Mit so einem Mann muss ich an der vordersten Linie stehen. Danke lieber Herrgott, dass es regnet und die Russen sich nicht rühren.

Mühsam strecke ich meine Glieder und blicke kurz in Alfreds trübe Augen. Wann kommt endlich die Ablösung? Und wann kommt die Offensive? Bis auf Gewehrduelle und seltene Granatenüberfälle ist die Lage stabil, wie die alten Hasen sagen: ruhig. Aber irgendetwas ist im Gange, so viel ist gewiss. Die Deutschen kommen nämlich. Feldgraue Uniformen mischen sich nach und nach unter die hechtgrauen. Immer mehr preußische, schwäbische und sächsische Regimenter gruppieren sich neben Wiener, Budapester, steirischen und mährischen Regimentern. Und Artillerie kommt heran, unablässig kommt Artillerie heran. Tross um Tross. Merken die Russen drüben etwas davon? Weiß ich nicht, keine Ahnung. Und geschanzt wird, noch ein Graben und noch ein Graben, dort ein Verbindungsgraben. Die Deutschen bringen neuen Schwung.

Zuerst die schweren Niederlagen im Sommer und Herbst letzten Jahres, dann der tödliche Winter, der Fall Przemyśls, die russische Dampfwalze drohte Österreich-Ungarn schon zu überrollen. Aber jetzt kommen die Deutschen. Man merkt, dass die Leutnants, Hauptmänner und Majore der preußischen Infanterieregimenter anders sind als die österreichischen. Nicht so überheblich, nicht so tyrannisch, nicht so launenhaft, nicht so unberechenbar, sondern diszipliniert, streng und hart. Gut, auch die Deutschen haben ihre Idioten und wir auch Führer, die von den Leuten respektiert werden, etwa Oberleutnant Zillner, aber insgesamt ist für uns einfache Soldaten da ein deutlicher Unterschied sichtbar. Und die Artillerie, die die Deutschen bringen! Aber auch unsere Artillerie ist beachtlich. Beim Anmarsch zum gegenwärtigen Grabendienst sind wir an einer Batterie vorbeigekommen. Ungarische Artilleristen haben geschaufelt und geschaufelt, um die Skoda-Kanonen in Stellung zu bringen. Vier 10,4-cm-Kanonen, mit denen man bis in die russischen Reservestellungen feuern kann, und drei fette 15-cm-Feldhaubitzen. Modernste österreichische neben modernster deutscher Artillerie. Wissen die Russen, was da kommen wird? Wir marschieren an den ausgeschanzten Artilleriestellungen vorbei und sehen, wie deutsche Artilleristen kleines Gerät postieren. Neuartige Minenwerfer, die neben den Kanonen wie läppisches Spielzeug aussehen. Wir lachen über diese mickrigen Waffen.

Ruhe vor dem Sturm. Zumindest nachts. Tagsüber tacken die Maschinengewehre. Immer dieses nervtötende Pfeifen, wenn einem die Kugeln um die Ohren fliegen. Meine Feuertaufe war aus größerer Perspektive gesehen ein nebensächliches Scharmützel, aber ich habe mir das Mark aus den Knochen geschwitzt. In den Morgenstunden hat eine russische Granate einen Essenholer zerschmettert, woraufhin ein paar unserer Männer einen schlecht postierten Russen unter Feuer genommen und erschossen haben, woraufhin die drei uns gegenüberliegenden russischen MGs Feuer spien, woraufhin unsere gesamte Besatzung der vordersten Linie das Feuer eröffnet hat und woraufhin die Russen all ihre Gewehre abgefeuert haben. Ich dazwischen, mitten in der Meute. Pepi neben mir reißt sein Gewehr hoch und wirft sich an die Brustwehr. Er schießt und schießt, ein Magazin und noch ein Magazin. Dann wird die Luft um ihn zu dick, Gewehrkugeln prasseln auf uns nieder und ein MG schwenkt sich auf uns ein. Pepis Augen quellen hervor, er atmet kurz und stoßweise. Ich beobachte ihn, er nimmt mich nicht wahr, er nimmt überhaupt nichts wahr außer das Pfeifen, Krachen und dumpfe Pochen vorüberfliegender und in der Nähe einschlagender Kugeln. Ich zittere, wage nicht, mich zu bewegen und halte mein Gewehr schussbereit in der Hand. Auch ich verliere nach und nach jede Wahrnehmung, außer der von Kugeln bewegten Luft. Ich achte nicht mehr auf Pepi, ich höre nur mehr das Krachen der Gewehre. Das Feuer schwenkt weiter, die russischen Gewehre suchen ein neues Ziel, das MG spuckt anderswo Tod und Teufel. Wie auf ein Kommando schnellen Pepi und ich hoch, werfen uns an die Brustwehr, legen an und feuern ein paar Magazine leer. Dann wieder Deckung wegen des MGs. Und so geht es weiter, den ganzen Vormittag. Decken, horchen, ahnen, anlegen, feuern, decken, horchen und so weiter. Verwundete schleppen sich vorbei, meist Kopfschüsse. Walter, einer der wenigen, die den Winter überlebt haben, und der uns Neuankömmlingen viele gute Ratschläge gegeben hat, müht sich gebückt durch den Schützengraben. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Mir schnürt es die Kehle zusammen, als ich ihn erkenne. So viel Blut. Er hält sich mit beiden Händen den Kopf. Dann stolpert er und stürzt auf die Knie. Ich starre auf die aufgeknackte Schädeldecke. Ich sehe ein winziges Stück der Oberfläche seiner Hirnhaut, sie scheint nicht beschädigt zu sein. Nur die Schädeldecke sieht entsetzlich aus, gesplitterte Knochenteilchen. Otto wirft sein Gewehr zu Boden, fasst Walter mit seinen prankenhaften Händen an, als jongliere er rohe Eier, hebt ihn mit einer ebenso überraschenden wie lächerlichen Vorsicht, fast sollte ich sagen Zärtlichkeit, hoch, lädt sich ihn auf den Buckel und trägt ihn nach hinten. Nach wenigen Minuten kommt Otto wieder, läuft durch den Graben, sammelt Verwundete auf und trägt sie davon. Bis am frühen Nachmittag das Gefecht an Heftigkeit verliert, hat Otto den Weg vom vorderen Graben zum Sanitätsplatz elf Mal zurückgelegt. Ausgepumpt, schweißüberströmt und von den Verwundeten blutverschmiert kauert er im Schützengraben. Angeblich soll Fähnrich Bleyer Otto eine Packung Zigaretten geschenkt haben.

Wann endlich der Regen und diese Nacht ein Ende haben werden? Aber soll ich mir das tatsächlich wünschen? Besser die Nacht und der Regen bleiben, denn jetzt ist es still in Galizien, jetzt schweigen die Waffen und gestorben wird heute Nacht nicht. Wer weiß, was morgen ist?

Irgendwann fallen mir meine Augen zu, doch ich schlafe nicht, andererseits bin ich auch nicht wach. Ich pendle trunken zwischen beiden Zuständen. Vielleicht fürchte ich diesen Dämmerzustand mehr als das russische MG, denn die Träume sind besonders klar, stark und einprägsam. Wieder und wieder sehe ich die Schneeschmelze. Die Schützengräben stehen voller Wasser und aus dem Schneematsch und dem zerbröselnden Firn lecken sich langsam und beharrlich bleiche Eisleichen. Starre Hautfetzen werden zusehends weicher und weicher, gefrorenes Blut tüncht Schmelzwasserpfützen rosarot und die kleinen Eisschollen auf den Augen der menschlichen Kadaver tauen. Man glaubt, die Toten weinen. In Wahrheit übergeben sich die noch lebenden Soldaten und versauen noch weiter die Schützengräben. Eines Abends rollte ich mich in den Mantel und schlief auf einem Schneehaufen ein. Nachts kam das Tauwetter und als ich am Morgen aufwachte, fand ich mich von ein paar Kameraden eng umschlungen. Bloß waren diese schon wochenlang erfroren im Schnee versteckt gewesen. Zwei Tage habe ich nach diesem Morgenerwachen weder essen noch schlafen können, zwei Tage war ich wie in Hypnose und sah in den Augen der lebenden Kameraden schon deren Tod. Ich kann mich erinnern, dass Oberleutnant Zillner mich besorgt gemustert hat. Und ich habe nur an die Spannweite der Backenknochen seines Totenschädels denken können.

Alfred stößt mich an und reißt mich aus dem Halbschlaf. Ich sehe, wie ein paar Männer gebückt den Graben hinabmarschieren. Menageträger für den Frühstückskaffee. Der Morgen graut und die Regenfälle verziehen sich langsam, aber sicher.

KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946

Meyendorff strich sich mit den Fingern über das Kinn. Er nickte. Eine gute Rasur. Er zupfte am Ärmel seines Uniformrockes, aber an der Passform gab es nichts auszusetzen. Auf seiner Brust hingen seine Abzeichen. In den Jahren seines Dienstes hatte sich da einiges angesammelt. Natürlich wurden alle Abzeichen von der Goldenen Tapferkeitsmedaille übertrumpft, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sich nur dieses eine Abzeichen auf die Brust geheftet. Aber der General war diesbezüglich unerbittlich, seine Soldaten hatten zu zeigen, was sie an Orden und Abzeichen so zu bieten hatten.

Der Wagen rollte auf den bekannten Platz, Meyendorff hieß den Fahrer warten und stieg aus. Wieder überprüfte er seine Uniform. Sie war aufgebügelt und saß perfekt, er war also für die Matinee gewappnet. Eine Zigarette glühte zwischen seinen Fingern, er ging ein paar Schritte auf und ab, blickte auf die Uhr. Dann sah er einige Frauen aus dem Barackenlager treten. Kirchgängerinnen. Ein Lastwagen wartete bereits, um die Frauen zu einer der katholischen Kirchen Konstantinopels zu bringen.

Die Sonne kletterte hoch. Zum Glück sorgte eine Brise für etwas Kühlung.

Da sah er sie. Und sie sah ihn.

Clarissa senkte kurz den Blick. Sie lächelte, als sie ihre Augen wieder hob. Meyendorff war von ihrer Schönheit verzaubert. Zehn Tage hatte er an nichts anderes denken können als an diesen Moment des Wiedersehens. Sie gingen aufeinander zu.

„Clarissa, ich freue mich, Sie wiederzusehen.“

Er küsste ihre Hand.

„Guten Tag, Hermann.“

„Wie schön Sie gekleidet sind.“

Sie warf kurz den Kopf in den Nacken und lachte.

„Als ich die Einladung zur Matinee des Herrn Generals bekommen habe, musste ich dieses Kleid erst ausbessern und aufbügeln lassen. Zwei Monate hatte es im letzten Winkel meines Spindes gehangen.“

„Der Wagen wird uns bringen.“

Er öffnete die Tür und ließ Clarissa einsteigen, dann eilte er um den Wagen herum und setzte sich neben sie auf die hintere Sitzbank. Der Fahrer legte einen Gang ein und fuhr los.

„Sehen Sie nur, wie alle neugierig schauen.“

Clarissa blickte zum Fenster hinaus. Meyendorff folgte ihrem Blick. Tatsächlich starrten ihnen Dutzende Augenpaare hinterher.

„Ich habe sofort gewusst, dass Sie hinter der Einladung stecken. Ich habe mich sehr gefreut.“

Meyendorff lehnte sich zurück und schmunzelte vor sich hin.

„Wenn Sie wüssten, liebe Clarissa, was es für eine Mühe ist, an der Gräfin Almassy vorbeizukommen.“

„Oh, das weiß ich. Wir haben mit ihren Richtlinien jeden Tag zu leben. Aber man munkelt, die Gräfin wird bald einen Erholungsurlaub antreten. Sie ist nicht mehr die Jüngste.“

„Nun, ich wünsche ihr nur das Beste, aber ich musste mit dem stärksten Geschütz auffahren, um dieses Bollwerk zu durchbrechen.“

Der Wagen rumpelte die mit Schlaglöchern übersäte Straße hinab. Meyendorff erzählte Clarissa, welche Kriegslist er hatte anwenden müssen, um an General Kirnbauer heranzukommen.

„Übrigens, der Herr General kannte Ihren Namen und offensichtlich kennt er auch Ihren Herrn Papa.“

Clarissa nickte.

„Ja, mein Vater kennt viele Herren der Generalität. Ich kann mich nicht erinnern, ob General Kirnbauer schon einmal bei uns zu Gast gewesen war. Ich kann mir unmöglich alle Namen hoher Militärs merken, mit denen Papa verkehrt.“

„Soviel ich in Erfahrung bringen konnte, besitzt Ihr Vater mehrere Fabriken.“

„Ich habe mich nie besonders für die Fabriken meines Vaters interessiert. Ich weiß gar nicht, was da alles produziert wird. Uniformen, Tornister, Fallschirme, irgendwelche Teile für Transportflugzeuge, ich weiß es nicht. Früher gefielen mir die Empfänge, die Uniformen, die galanten Herren, die eleganten Damen. Als Kind habe ich das sehr genossen. Und ich durfte den Gästen am Klavier vorspielen. Später habe ich mich furchtbar über diese lästigen Verpflichtungen geärgert und versucht, mich im Haus zu verstecken. Aber in den letzten Jahren sind die Empfänge im Hause meiner Eltern sehr selten geworden. Mein Vater ist nämlich nicht konvertiert.“

 

Meyendorff blickte kurz zum Fenster hinaus. Ihr Vater war also 1942 nicht zum römisch-katholischen Glauben übergetreten, obwohl das damals alle Juden tun mussten, wollten sie ihre gesellschaftliche Stellung nicht verlieren. Der Druck der deutschen Antisemiten war schließlich auch in Österreich-Ungarn gewaltig geworden. Die allermeisten reichen deutschen Juden hatten in Österreich-Ungarn Zuflucht gefunden, für arme hatte es diese Möglichkeit der Emigration nicht gegeben. Natürlich war die Folge der Auswanderung, dass in Österreich-Ungarn der ohnedies starke Antisemitismus hoffähig geworden war. Der Kaiser hatte zwar nie ein Gesetz zur Konvertierung unterzeichnet, aber auch ungeschriebene Gesetze können verbindlich sein. Und wer nach 1942 noch Jude war, konnte damit rechnen, gesellschaftlich gemieden zu werden. Wie es wohl Wenzel Roth geschehen war. Meyendorff kannte alle diese Zusammenhänge, aber das war Politik und Politik war ihm als Frontoffizier in Wahrheit völlig egal. Ob Clarissa Jüdin, Protestantin, Orthodoxe, Muslimin oder Katholikin war, war ihm einerlei, er liebte sie über alle Grenzen und Konfessionen hinweg.

„In ein paar Minuten werden wir da sein“, sagte er.

Der Wagen fuhr mit flottem Tempo durch das Nobelviertel. Hier lebten die türkische Oberschicht und die Führer der k. u. k. und deutschen Streitkräfte und Verwaltung. Die Straßen waren halbwegs gut gepflastert, die Häuser proper, die Gärten gepflegt.

„In diesem Teil der Stadt war ich noch nicht. Sehen Sie nur die Häuser! Der orientalische Baustil ist faszinierend, nicht wahr?“

Meyendorff genoss Clarissas Begeisterung mehr als das schmucke Viertel. Der Wagen hielt vor einem großen Portal. Meyendorff bezahlte und sie stiegen aus. Eine hohe Steinmauer umfriedete General Kirnbauers Garten. Vor dem Portal standen drei Männer der Garde, ein Korporal mit einer Liste in der Hand und zwei voll adjustierte und stramm stehende Wachen. Der Korporal salutierte.

„Herr Oberleutnant, Ihre Einladung bitte.“

Meyendorff musterte den Mann kurz. Dieser hatte gewiss viel Routine bei der Kontrolle der Einladungen zu den Empfängen des Generals. Er reichte dem Korporal die beiden Einladungen, woraufhin dieser Vermerke auf seiner Liste anbrachte. Hinter ihnen rollten eben drei Autos heran, aus denen Offiziere verschiedener Armeen stiegen. Zwei Österreicher, ein Ungar, ein Deutscher, ein Bulgare und zwei Perser. Meyendorff grüßte die Herren förmlich, öffnete das Portal und ließ Clarissa eintreten.

Sie fanden sich plötzlich in einem kleinen Paradies wieder. Meyendorff war überrascht, aber Clarissa wirklich hingerissen.

„Oh, wie schön es hier ist.“

Hohe Palmen standen entlang eines mit weißem Kies geschotterten Weges, blühende Oleandersträucher, Kakteen, Blumenbeete in tausend Farben, der Garten war ein Refugium der Schönheit und des Luxus. Und dann erst die Villa. Eine Jugendstilvilla mit orientalischen Elementen. Ein kolossales Haus. Meyendorff war für einen Augenblick vom Prunk dieser Wohnstätte geblendet. Der General verfügte wohl über gehörige Mittel. Allein die Anlage des Gartens musste Unsummen verschlungen haben. Er bot Clarissa seinen Arm an, sie hakte sich ein. Der Kies knirschte unter ihren Schritten. Ein livrierter Diener stand am Haustor und nahm Clarissas Täschchen sowie Meyendorffs Mütze und Handschuhe.

Sie traten in das Haus. Schlanke Säulen trugen das Gewölbe der großen Aula. An die fünfzig Personen waren schon anwesend, standen in kleinen Grüppchen beieinander und plauderten. Mehrere Diener gingen mit silbernen Tabletts auf und ab und boten gekühlte Limonade an. Auf einem Sockel standen der General und seine Frau, die eben von einigen türkischen Zivilisten umringt waren. Wahrscheinlich Stadtpolitiker, mit denen der General stets ein gutes Auskommen suchte.

„Da ist General Kirnbauer“, flüsterte er Clarissa zu. „Wir müssen seiner Frau und ihm die Aufwartung machen.“

Clarissa nickte. Ihre Augen glänzten. Obwohl ihr Vater ein reicher Mann und der Wohnsitz ihrer Familie in Lemberg eine ausladende Villa war, hatte sie solchen Prunk bislang nur einmal gesehen, das war im Schloss Schönbrunn gewesen, in der kaiserlichen Residenz.

Beide stellten sich an den Fuß des Sockels und warteten, bis die türkischen Politiker ihr Begrüßungsgespräch mit dem General abgeschlossen hatten. Einer der Türken übersetzte die wortreichen Äußerungen seiner Kollegen. Der General nickte nur, bejahte, lächelte und war sichtbar glücklich. Das war sein Leben, das war seine Lust, rauschende Empfänge, Prunk und Pracht, Luxus und hohe Politik. Die Türken verneigten sich, küssten der Frau ganz im Stile österreichischer Kavaliere die Hand und traten vom Sockel.

General Kirnbauer strahlte wie die Sonne am Bosporus.

„Da sind Sie ja, Herr Oberleutnant. So kommen Sie doch her. Kommen Sie.“

Meyendorff führte Clarissa die drei Stufen hoch.

„Meine liebe Amalie, jetzt kann ich dir endlich unseren Oberleutnant von Meyendorff vorstellen, der sich wochenlang vor seiner Verpflichtung gedrückt hat, uns seine Abenteuer zu erzählen.“

Amalie Kirnbauer war eine überaus attraktive Frau, sie war die zweite Gemahlin des Generals, fünfzehn Jahre jünger als ihr Mann und in früheren Jahren Schauspielerin und Sängerin gewesen. Meyendorff fühlte, wie er taxiert wurde, wie sie mit laszivem Blick seine Jugend und Schönheit verschlang.

„Gnädige Frau, es ist mir eine Ehre.“

Er küsste ihre Hand.

„Ganz meinerseits, Herr Oberleutnant.“

„Und Sie, mein Kind, sind wohl die Tochter von Wenzel Roth.“

Clarissa machte einen höflichen Knicks. Meyendorff bemerkte, dass der General Clarissa einen ähnlichen Blick zuwarf wie zuvor Frau Kirnbauer ihm.

„Wie war gleich Ihr Name?“, fragte der General.

„Clarissa, Herr General.“

„Nun denn, Clarissa, richten Sie Ihrem Herrn Papa schöne Grüße von mir aus und entschuldigen Sie mich bei ihm, ich hätte Sie natürlich viel früher zu einer Matinee einladen müssen. Und übermitteln Sie ihm auch noch meine besten Glückwünsche für eine so bezaubernde Tochter. Da tut’s mir richtig leid, Sie nicht eher kennengelernt zu haben.“

Kirnbauer fasste Clarissas Hand und tätschelte sie. Sein Blick verlor sich begeistert in ihrem wunderschönen Gesicht. Meyendorff verspürte einen Hauch von Ärger. Der Alte trieb es ja ganz schön bunt.

„Man hört, Sie sind ein wahrer Held, Herr Oberleutnant“, säuselte Frau Kirnbauer.

Der General ließ Clarissas Hand los und stellte sich Schulter an Schulter neben seine Gemahlin.

„Gnädige Frau, ich habe nur meine Pflicht getan.“

„Papperlapapp!“, empörte sich der General lautstark. „Unser junger Freund und eine Handvoll seiner Männer haben in wochenlanger Gefahr bewiesen, dass die k. u. k. Luftflotte über eine Mannschaft verfügt, vor der sogar die Preußen ihre Hüte ziehen müssen.“

Der General wuchs sichtlich, er hatte so laut gesprochen, dass der Trupp von Offizieren, der nun am Fuße des Sockels stand, alles genau hören konnte. Auch der deutsche Offizier hatte nichts versäumt.