Der blinde Spiegel

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BUDWEIS, SEPTEMBER 1945

Wir blicken uns im kleinen Wäldchen um.

„Die Luft ist rein. Sagen Sie mir, was Sie loswerden wollen.“

Schachner kratzt sich am Kinn. Seine Anspannung ist mit Händen zu greifen. Er ermannt sich erst nach einiger Zeit.

„Die Deutschen investieren wieder viel Mühe in die Modernisierung ihrer Panzerwaffen. Wo werden sie die neuen Panzer einsetzen? Im Osten natürlich. Deutschland hat kein Interesse, uns Österreichern die Italiener vom Hals zu schaffen. Im Gegenteil. Solange die Amerikaner die Italiener durchfüttern müssen, geht ihnen viel Material für den Krieg gegen das deutsche Mutterland ab. Also darf die Südfront, solange sie nicht in ernsthafter Gefahr schwebt, in Europa ruhig bestehen bleiben. Was den Deutschen Kopfzerbrechen macht, ist vielmehr der Osten. Den Sowjets ist es gelungen, hinter dem Ural ihre Industrie neu aufzubauen. Der europäische Teil der Sowjetunion ist ja durch den ewigen Bürgerkrieg in den Zwanzigerjahren und durch die Offensiven der Mittelmächte weitgehend totes Land. Sie waren drauf und dran den Krieg zu verlieren, aber Stalin hat es geschafft, die Industrie in Westsibirien aufzubauen. Wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis sie sich mit der Industrie Deutschlands oder Großbritanniens wird messen können. Und die Rote Armee modernisiert sich, das weiß man, die Rote Armee rüstet zur Rückeroberung der russischen Weiten. Es ist anzunehmen, dass Deutschlands allmächtiger Reichskanzler, dieser antisemitische, oberösterreichische Dreckskerl Adolf Hitler, seinen Drang nach Osten durch einen Sieg gegen die Sowjetunion endlich ausleben möchte. Nordafrika ist für die Mittelmächte verloren, aber Nordafrika ist für die Kaiser in Berlin und Wien und ihre mächtigen Reichskanzler ohnedies nicht sehr interessant. Es gibt einfach zu wenige Rohstoffe. Anders aber im Mittleren Osten und in Russland. Man schätzt, dass die größten Rohstofflager der Welt in diesen Regionen zu finden sind. Der Mittlere Osten gehört den beiden Kaisern und dem türkischen Sultan. Aber Russland? Was ist mit Russland? Die deutschen und ungarischen Panzer haben in Westeuropa keine Gegner mehr und im Mittleren Osten wird sich in der nächsten Zeit nicht viel tun. Die Nachschublinien der Alliierten sind schon so gewaltig ausgestreckt, dass selbst die Amerikaner Schwierigkeiten haben werden, genug Material gegen die Levante zu schicken. Was also tun mit all den neuen Panzern und den schwer bewaffneten Infanteriedivisionen? Die Weite Osteuropas ruft, und deren Bodenschätze. Noch ist die Sowjetunion besiegbar, noch ist die Rote Armee ungenügend ausgerüstet, in zwei Jahren ist das vielleicht anders. Wir erwarten, dass die Deutschen und Ungarn noch einmal alles gegen die Sowjetunion werfen werden. Sie wollen die Sowjetunion endlich niederringen. Hitler wird dem Kaiser wieder einmal die Faust ans Kinn setzen und ihn zwingen, die Offensivpläne zu unterschreiben, davon bin ich überzeugt. Spätestens in drei Monaten rollen die modernsten deutschen Panzer gegen die Sowjetunion. Die Sowjets wissen das auch, also müssen sie etwas unternehmen.“

„Jetzt frage ich Sie einmal, was wir beide tun sollen? Zwei hungernde, zerlumpte österreichische Pazifisten mitten in einer tschechischen Bretterstadt. Was hat das alles mit mir zu tun? Und selbst wenn ich etwas tun könnte, warum sollte ich Stalin helfen? Er ist ein Diktator und sicherlich dem fetten Kriegstreiber Churchill und dem Massenmörder Hitler nicht unähnlich. Wahrscheinlich träumt er von einem Raubzug durch Deutschland, bloß fehlen ihm noch ein paar Waffen. Außerdem weiß man sogar in Budweis, dass es in der Sowjetunion Lager gibt. Wieso soll ich einem Regime helfen, das Lager unterhält?“

„Lager gibt es überall. Auch die prodeutsche Minderheit in Nordamerika steckt in Lagern, dabei predigt der Präsident der USA ständig Freiheit und Demokratie. Die Welt ist schlecht, die Kaiser, Reichskanzler, Präsidenten, Parteivorsitzenden, Premierminister, weiß der Teufel, wie die Kerle überall heißen mögen, sind Verbrecher und Mörder, und daran können wir nichts ändern. Dennoch ist die Sowjetunion in höchster Gefahr. Millionen Russen wollen keinen noch längeren Krieg, sie wollen die Wunden der letzten blutigen Jahrzehnte heilen. Aber die Feldherren der Welt haben kein Interesse an einem großen Volk, das in Frieden lebt und sich wirtschaftlich und kulturell erholt, sonst könnte ja die Wehrkraft der eigenen Armeen geschwächt werden. Und, lieber Valentin, Sie wissen genau, wo die verbohrtesten Feldherren ihre Wohnsitze haben: in Berlin, Wien und Konstantinopel. War es nicht der preußische Militarismus, der in den Dreißigerjahren zum Wettrüsten mit den USA geführt hat? War es nicht der k. u. k. Militarismus, der Italien permanent gedemütigt hat, bis Italien selbst zur Militärdiktatur wurde? War es nicht der türkische Militarismus, der Bulgarien, Serbien und Griechenland gezwungen hat, die Balkanentente zu bilden? Und war es nicht die Hochkonjunktur des mitteleuropäischen Militarismus, die zum zweiten großen Weltenbrand geführt hat? Wir beide sind Pazifisten in einem Land, in dem die Bezeichnung Pazifist das schlimmste aller Schimpfwörter ist. Unsere Gegner, nämlich Ihre und meine, sind nicht die Italiener, Engländer, Amerikaner oder Russen, unsere Gegner sind die deutschen, österreichischen und ungarischen Generäle. Gegen diese müssen wir kämpfen. Sie sagen richtig, ein General kann nur von einem General besiegt werden, niemals von einem Dichter, aber der Dichter kann dem General vielleicht einen Hinweis geben.“

Ich musste ihn unterbrechen, das war ja nicht länger auszuhalten.

„Guter Mann, sagen Sie mir, warum ich einem sowjetischen General helfen soll, einen österreichischen zu besiegen. General bleibt General, welche Farbe seine Uniform hat, ist gleichgültig. Begreifen Sie das nicht?“

„Doch, aber wir müssen die Russen warnen. Wir müssen ihnen helfen, vom Militarismus unseres Landes nicht überrollt zu werden.“

„Vielleicht ist es besser, wenn die Russen nicht kämpfen. Sollen sie doch die deutschen und ungarischen Panzer in einem Schwung bis nach Sibirien fahren lassen. So ersparen sich die Russen neuerliches Blutvergießen.“

Schachner hält inne und blickt um sich. Als er sieht, dass wir alleine sind, zieht er aus der Innentasche seiner Jacke eine kleine Broschüre.

„Lesen Sie das. Das ist mir in die Hände gekommen. Fast zufällig. Lesen Sie es und verbrennen Sie es sofort. Niemand darf wissen, dass Sie diese Broschüre je gesehen haben. Das ist ein Geheimpapier, verfasst von einer Abteilung des deutschen Propagandaministeriums. Es ist keine visionäre Schrift. Derzeit üben sich die Nazi-Intelligenzler in Deutschland in der Verwirklichung ihrer Visionen. Ein kurzer Bericht über den Einsatz von geheimen deutschen Truppenverbänden in Russland. Und einige Ausführungen über die Rolle des russischen Volkes in einem deutschen Reich, welches sich vom Ärmelkanal bis zum Ural erstreckt. Lesen Sie diese Schrift, und Sie werden verstehen, warum wir den Russen helfen müssen. Ich sage nur so viel: Versklavung und systematische Ausrottung.“

Ich lasse die Broschüre in meinem Rucksack verschwinden.

„Und was soll ich tun? Wer steht hinter Ihnen?“

„Ich kann nicht viel sagen, aber das Netzwerk steht schon fast. Ich bin nur ein Glied in der Kette und nicht einer der Köpfe. Stellen Sie sich ein Sammelsurium von pazifistischen Intellektuellen vor, von denen die meisten in Lagern gewesen sind. Jedes Kettenmitglied kennt nur die angrenzenden Glieder und trägt einen Decknamen. Ich bin Grillparzer. Und es gibt den Namen Neidhart. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Unsere Möglichkeiten sind beschränkt, es geht nicht um militärische Informationen, da haben wir keinen Zugang, sondern um Wirtschaftsdaten. Das Ziel ist die Sowjetunion, aber der Weg führt über Prag. Und da kommt Nestroy ins Spiel. Nestroy ist eine Schaltstelle, jemand, der Nachrichten in drei Sprachen übersetzen kann. Deutsch, Tschechisch und Russisch. Dass Sie Deutsch und Tschechisch können, weiß ich, aber wie steht es mit Ihren Russischkenntnissen?“

„Verbesserungswürdig, aber ich habe Tolstoi und Dostojewski im Original gelesen und einigermaßen gut verstanden.“

„Das ist gut, das ist sehr gut. Valentin, Sie sind Nestroy. Wir brauchen Sie.“

„Und wenn ich Nein sage?“

„Bin ich traurig und muss weitersuchen. Aber ich verschweige Ihnen nicht, dass unsere russischen Freunde verärgert sein könnten.“

Ich bleibe stehen.

„Sie Hund, die knallen mich ab!“

„Weiß ich nicht. Wie gesagt, wir sind nicht so wichtig, wir liefern nur Wirtschaftsdaten. Aber möglich ist es.“

„Ich drehe Ihnen den Kragen um.“

„Eine Kugel mehr oder weniger ist in unserer Zeit egal, selbst wenn es um das eigene Leben geht. Oder nicht? Haben Sie etwas zu verlieren? Hängen Sie an etwas? Na also. Aber wenn Sie Nein sagen, abtauchen und schweigen, wird nichts geschehen. Ich helfe Ihnen. Das verspreche ich.“

„Auf so ein Versprechen pfeife ich. Und bevor ich Sie zum Teufel jage, noch eine Frage.“

„Ich höre.“

„Gibt es ein Zauberwort?“

Josef Schachner fixiert mich scharf, dann huscht ein dünnes Lächeln über sein von tiefen Falten zerklüftetes Gesicht.

„Ich habe gewusst, dass Nestroy kein Schwachpunkt sein wird. Wir leben im Schatten und arbeiten in der Nacht; das Zauberwort lautet: Schattennacht.“

KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946

Anfangs hatte es noch einen gewissen Reiz gehabt, den Leuten die goldene Auszeichnung unter die Nase zu halten. Der Anblick der Auszeichnung half Meyendorff, die unzähligen neuen Gesichter einzuschätzen. Und er erlebte die gesamte Klaviatur menschlicher Regungen, Neid, Heuchelei, ehrliche Bewunderung, kollegiales Einverständnis, Ignoranz, alles, was man sich vorstellen konnte. Die Medaille provozierte, ein Blick in das Innere der Leute wurde möglich. Anhand dieses Blickes beurteilte Meyendorff die Offiziere, Soldaten, Beamten des Fliegerquartiers Süd. Aber mit der Zeit nutzte sich der Effekt ab, zum einen kannten viele Meyendorff bald, zum anderen maß er selbst dem Orden nicht mehr so viel Bedeutung bei.

 

Er stand im Gang vor der Kantine, zupfte an seinem Rock, öffnete den Nadelverschluss der Medaille und ließ das Ding in der Tasche verschwinden. Es war später Nachmittag, also würde in der Kantine nicht mehr viel los sein, dennoch wollte er nicht durch den Orden auffallen. Er wollte einfach nur einer von vielen sein, ein Bediensteter des Fliegerquartiers unter anderen.

Meyendorff versuchte sein Bein möglichst nicht nachzuziehen, sondern gerade und aufrecht zu gehen. Er zog an der Tür zur Kantine, der Geruch von gesottenem Gemüse strömte ihm entgegen. Wie üblich gab es irgendeinen Eintopf mit türkischem Gemüse. Meyendorff schätzte die türkische Küche sehr, aber wenn böhmische Köche mit türkischem Gemüse und Fleisch kochten, kamen meist keine besonderen Delikatessen dabei heraus. Aber satt wurde man davon. Immerhin. Nicht alle Soldaten des Kaisers wurden immer satt, in Mesopotamien etwa war die Versorgung jämmerlich.

Meyendorff bevorzugte es, seine Mahlzeiten in der Kantine zu sich zu nehmen, er mied das Offizierskasino, so gut es ging. In der Kantine war er anonym. Im Kasino tummelten sich die Etappenhengste, schlürften Schnaps und hatten stets den aktuellsten Soldatentratsch auf Lager. Hast du gewusst, dass Oberstleutnant Soundso ein Affärchen hatte? Der Feinspitz, jetzt ist er über der Ägäis abgeschossen worden. Hast du gewusst, dass Major Dieserundjener neulich zehntausend Kronen beim Hasard verspielt hat? Und so weiter. Meyendorff konnte wahrlich nicht behaupten, die Gesellschaft der Kasinoplatzhirsche wäre ihm angenehm. Da mischte sich der Herr Graf lieber unters Volk. Die einfachen Leute ließen ihn wenigstens in Ruhe. Dass er überall gemustert wurde, störte ihn nicht, daran war er gewöhnt. Die Offiziere munkelten natürlich über den jungen Graf von Meyendorff und seine Vorliebe für das niedere Volk in der Kantine, aber das war ihm auch ziemlich egal. Natürlich fand er so keine Freunde, natürlich blieb er so isoliert, aber gerade das wollte er ja. Er brauchte niemanden in seiner Nähe, zumindest keine Etappenoffiziere mit ihren Allüren.

Meyendorff zückte die Essensmarken, reichte sie der Küchenkraft, die im Gegenzug einen Teller mit einem dicken Eintopf auf ein Tablett stellte und es ihm zuschob. Er fasste in den Besteckkorb, nahm einen Löffel und trat an die Brotausgabe.

„Könnte ich bitte zwei Scheiben haben?“, fragte er den einarmigen Mann.

Strenge, graue Augen musterten Meyendorff. Der Mann hatte slawische Gesichtszüge und dunkles, grau durchzogenes Haar. Wahrscheinlich ein Kroate oder Bosniake. Falten schnitten tief in das Gesicht des Mannes, Falten, die zeigten, dass dieser Mann lange dem Tod näher als dem Leben gewesen war. Wortlos legte er zwei Scheiben Brot auf Meyendorffs Tablett. Danach stellte er einen Blechbecher mit kaltem Apfeltee dazu. Eintopf mit Brot, dazu Apfeltee, also irgendwie ein türkisches Mahl, dennoch aber ein österreichisches. Meyendorff nahm das Tablett und schlurfte davon. Er wusste, dass der Mann an der Brotausgabe ihm nachblickte, also vertuschte er unbewusst sein Hinken nicht. Der Krieg schlägt allen Wunden, egal ob kroatischer Kleinhäusler oder österreichischer Graf, der Stand war egal, solange man für das Vaterland Dienst leistete. Das signalisierte Meyendorff dem Mann, ohne darüber nachzudenken.

Er sah sich im Saal um. Vereinzelt saßen noch Leute herum. Sein Blick wanderte umher, da kreuzte ein Blick den seinen. Er erschrak. Ihm wurde heiß.

Da saß sie! Jawohl, da saß sie und schaute zu ihm herüber. Sie und zwei andere junge Frauen flüsterten miteinander. Meyendorffs Hände wurden feucht. Sollte er sich einfach zu ihnen an den Tisch setzen? Ein schneidiger Offizier würde das tun. Keine Frage, ein schneidiger Kerl ginge hin, setzte sich zu den jungen Frauen und unterhielt sie mit flotten Anekdoten aus dem Soldatenleben. Meyendorff zweifelte, ob er überhaupt nur einen einzigen Satz würde hervorbringen können.

Nun blinzelten die anderen beiden Frauen zu ihm herüber und musterten ihn neugierig. Wenn er noch länger ratlos herumstünde, machte er sich lächerlich, also schritt er los. Je näher er dem Tisch kam, desto heftiger pochte sein Puls. Er wusste wirklich nicht, wie er es schaffen sollte, das Wort zu erheben, aber irgendwie klappte es doch.

„Entschuldigen Sie bitte. Ist an diesem Tisch noch ein Platz frei?“

Er zitterte innerlich, als ihm das Fräulein ein strahlendes Lächeln schenkte. Wie glücklich musste ein Mann sein, den morgens dieses Lächeln begrüßte. Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden.

„An den anderen Tischen sind noch mehr Plätze frei“, plapperte eine Stimme ebenso kokett wie herausfordernd.

Meyendorff löste mit Mühe seinen Blick von dem Fräulein. Er wandte sich der Sprecherin zu.

„Ich wollte natürlich nicht aufdringlich sein. Wenn Sie lieber alleine zu speisen gedenken, suche ich anderswo einen Platz.“

Die Sprecherin war gewiss nicht älter als zweiundzwanzig. Sie war von großer Statur, nicht gerade hübsch, aber auch nicht hässlich. Ein Mädchen mit losem Mundwerk, wohl nicht dumm oder ungeschickt, aber für Meyendorff völlig uninteressant. Außer natürlich sie stellte sich zwischen das Fräulein und ihn.

„Sie können sich gerne setzen, Herr Oberleutnant“, sagte sie. „Wir sind schon fertig und müssen wieder los.“

Meyendorff blickte erst jetzt auf die Tabletts auf dem Tisch. Tatsächlich, sie hatten ihr Mahl schon beendet. Die drei jungen Frauen erhoben sich.

Kurz entschlossen stellte er sein Tablett ab, ging um den Tisch herum auf das schöne Fräulein zu und nahm Haltung an.

„Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Von Meyendorff. Hermann von Meyendorff.“

Sie reichte ihm verlegen lächelnd die Hand, er ergriff und küsste sie.

„Clarissa Roth“, flüsterte sie.

Dann trugen die drei jungen Frauen ihre Tabletts fort. Im Gehen tuschelten sie miteinander.

Clarissa Roth. Jetzt kannte er ihren Namen. Clarissa Roth. Immer wieder sagte er ihn still vor sich hin. Clarissa Roth. Und wie strahlend schön sie lächelte!

Meyendorff sah nicht, dass alle Anwesenden in der Kantine die Szene genau verfolgt hatten. Er setzte sich und aß, ohne zu bemerken, dass er aß. Langsam und versonnen löffelte er den Eintopf. Fortwährend klang der leise Hauch ihrer Stimme in seinem Ohr. Clarissa Roth.

„Das kann ich dir schon sagen, Hermann, wenn man alles zusammenrechnet, ist der Krieg nichts anders als eine Täuschung. Eine Illusion. Man bildet sich den ganzen Zirkus bloß ein. Die Waffen, die Flugzeuge, die Ehre, die Tapferkeitsmedaillen, das ist alles Einbildung. Das einzig Wirkliche am Krieg sind diese Dinger hier. Das ist alles.“

Meyendorffs Gast zeigte auf die Beinprothese, die auf dem Teppich lag.

Die Luft im Zimmer war zum Schneiden, dicke Rauchschwaden nebelten alles ein. Die beiden Männer rauchten dennoch im Eilzugtempo weiter. Hauptmann Werner Freiherr von Wildenstein-Glawogger hatte zwei Flaschen Raki und türkische Zigaretten mitgebracht. Meyendorff füllte erneut die Gläser.

„Diese Bude hier, dieses stinkende Kaff, die Hitze, das brackige Wasser am Bosporus, das ist alles nur Mumpitz. Dein lächerlicher Orden da auf dem Tisch ist wertloser Kram. Du warst in der Zeitung, Herr Oberleutnant? Na bravo! Du bist in der ganzen Monarchie berühmt? Sehr gut, Herr Graf! Sehr gut! Heute bist du berühmt, weil du Glück gehabt hast, wo andere Pech hatten, aber morgen bist du tot. Du kriegst eine ehrenvolle Nennung in der Zeitung und hopp, vergessen bist du. Das ist sogar die bessere Variante für dich. Die schlechtere ist, wenn du ein Krüppel bist. Helden mit zwei Armen, zwei Beinen und einem feschen Gesicht gehört die Welt. Helden im Rollstuhl mag man gar nicht. Die will man vergessen. Und die sogenannte Öffentlichkeit vergisst Helden, denen irgendwo ein Körperteil abhandengekommen ist, verflucht schnell. Das Dumme daran ist, dass die Helden noch leben, als Krüppel zwar, aber sie leben. Und sie können nicht vergessen.“

Mit stoischer Ruhe ertrug Meyendorff die bitteren Worte seines einzigen Freundes in Konstantinopel. Er wusste noch sehr gut, wie der damalige Rittmeister von Wildenstein mit einer Etrich E-100 von Luftsieg zu Luftsieg geflogen war. Wildenstein war der erste österreichische Jagdpilot, der mit einem Düsenflugzeug über einhundert Abschüsse erzielt hatte. Insgesamt gehörte er mit 147 Abschüssen zu den größten Fliegerassen der k. u. k. Luftflotte. Als er selbst zum vierten Mal abgeschossen worden war, war es nicht so glimpflich wie die drei Male zuvor ausgegangen. Dem Heldentod knapp entkommen, war sein linkes Bein nicht mehr zu retten gewesen. Meyendorff hatte es immer wieder erlebt, manche Männer konnten nach einer Amputation ungeahnte Kräfte und Energien freisetzen, sie gierten nach dem flüchtigen Leben, die meisten allerdings wurden bitter. Wildenstein gehörte zur zweiten Gruppe, er war voller Wut auf sich und die Welt.

Wildenstein griff nach dem Glas und kippte den Raki rasch hinunter. Er verzog das Gesicht, heiß brannte der Schnaps in der Kehle. Dann langte er nach den Zigaretten.

„Los, Herr Oberleutnant, rauch noch eine. Das ist ein Befehl!“

Wildenstein sog den Qualm kräftig ein.

„Das Einzige, was einem Krüppel noch Spaß macht, ist guter Tabak und starker Schnaps. Zum Teufel damit!“

Meyendorff starrte auf die Beinprothese, die Wildenstein abgeschnallt und mitten auf den Teppich geworfen hatte. Er dachte an sein verbranntes Bein. Unwillkürlich griff er danach, gleichsam um sich zu versichern, dass die Prothese nicht doch ihm gehörte. Wildenstein verfolgte die Bewegung.

„Und, hast du Schmerzen?“

Meyendorff schreckte ein wenig hoch, ihm war seine Bewegung gar nicht bewusst gewesen.

„Nein, nein. Zumindest jetzt nicht.“

Wildenstein schnippte die Asche achtlos auf den Teppich. Ihm fiel so etwas gar nicht auf, genauso wenig wie ihm auffiel, dass seine Uniform längst einmal gereinigt gehörte, dass er einen Haarschnitt und eine Rasur brauchte, dass seine Fingernägel geschnitten werden sollten. Sehr nachlässig wirkte der Hauptmann, auf dessen Brust alle nur erdenklichen Orden glitzerten.

„Du hast Schwein gehabt, Hermann, riesiges Schwein. Brandwunden heilen, Narben bleiben, aber du bist nicht beschädigt. An dir ist alles dran. Du hast großes Schwein gehabt.“

Wildenstein inhalierte und hielt den Rauch lange in der Lunge, ehe er ihn wieder ausblies.

„Nur wie lange wirst du Schwein haben? Irgendwann schicken sie dich wieder hinaus. Irgendwann sitzt du wieder in deinem Bomber und wirst kein Schwein haben. Das ist das Gesetz des Krieges. Und wenn dich das Schwein verlässt, du aber Schwein hast, wirst du tot sein. Wenn du aber doppeltes Pech hast, wirst du ein Krüppel sein. Prost.“

Meyendorff war betrunken, was ihm half, das ewige Gejammer des Hauptmannes mit der Prothese nicht zu hören. Er dachte an Clarissa. Er dachte an die gestrige Begegnung in der Kantine. Er dachte an ihr Lächeln. Noch nie waren seine Gedanken von einem Fräulein so gefesselt gewesen. Er konnte es nicht anders nennen, er war verliebt. Er saß ruhig auf seinem Stuhl, regte sich nur, wenn er nach Zigaretten oder dem Schnapsglas griff. Auf dem Stuhl gegenüber saß Wildenstein und redete und redete. Vielleicht war es Wildenstein egal, ob Meyendorff zuhörte oder nicht, solange der Vortrag nicht gestört wurde. Und Meyendorff hörte nicht mehr zu, vielmehr lauschte er einem geflüsterten Namen. Clarissa Roth.

„Ich hab dich etwas gefragt, Hermann!“, fauchte Wildenstein mürrisch.

Er schrak aus seinen Träumen hoch, er blickte in die müden Augen des fünfundzwanzigjährigen Greises in seinem Zimmer.

„Gehst du ins Bordell?“, wiederholte Wildenstein seine Frage.

„Nein, gehe ich nicht. Also zumindest derzeit nicht.“

„Zumindest, zumindest, ständig sagst du Nein und zumindest“, keifte Wildenstein.

„In Wien war ich gelegentlich im Café Rosa in der Zirkusgasse.“

„Und jetzt gehst du nicht?“

Meyendorff griff zu einer Zigarette. Sein Hals fühlte sich kratzig an, eigentlich hatte er für drei Tage genug von Tabak, dennoch entflammte er die Zigarette. Er antwortete nicht auf Wildensteins Frage. Eine Minute herrschte Schweigen zwischen den Männern.

 

„Und wie heißt sie?“, fragte Wildenstein lapidar.

Eine Ewigkeit verstrich ehe Meyendorff antwortete.

„Clarissa Roth.“

Wildenstein kippte sein Glas.

„Wie lange kennt ihr euch?“

„Ich kenne sie nicht. Noch nicht.“

Wieder verstrich eine Minute des Schweigens. Wildenstein streckte sich und angelte nach der Prothese. Er band die Gurte an den Beinstumpf. Er flüsterte.

„Sie ist sehr hübsch, nicht wahr?“

Es war zwar nicht unmöglich, dennoch schwierig, die Dienstzeiten von Angestellten anderer Abteilungen herauszubekommen. Meyendorff mühte sich schon den ganzen Vormittag, seine Kopfschmerzen und seine Ungeschicklichkeit bei verdeckten Ermittlungen zu überwinden. Die zwei Flaschen Raki, die Wildenstein mitgebracht hatte, war nicht der letzte Alkohol des gestrigen Abends gewesen. Wildenstein hatte Meyendorff solange beflegelt, bis sie schließlich gemeinsam in jenes Nachtlokal gegangen waren, in welchem sich die jüngeren Offiziere zu Besäufnissen einfanden.

Wildenstein hatte die Korken knallen lassen. Raki, ungarischer Tokaier, Tiroler Obstler, kroatischer Slibowitz, der Alkohol war in Strömen geflossen. Das war das Leben in der Etappe, durchzechte Nächte mit Invaliden oder Drückebergern, billiger Tabak, Tristesse und Aufschneidertum, geheuchelte Siegeszuversicht und als patriotische Begeisterung getarnte Selbstsucht. Als sich die Trunkenbolde um Wildenstein für eine Wehrpflichtmusterung im Offiziersbordell gerüstet hatten, war es Meyendorff gelungen, sich abzusetzen. Wildenstein hatte zwar herumgemeckert und ihn einen traurigen Poeten genannt, aber er hatte nichts von seinem Wissen preisgegeben. Anderenfalls hätte Meyendorff nicht gezögert, ihn an Ort und Stelle zu erschießen. Aber Wildenstein war nicht der Mann, der Kameraden öffentlich bloßstellte, er beschimpfte zwar jeden, aber er verletzte nie die Ehre eines Mannes. Alleine deswegen pflegte Meyendorff Kontakt zu ihm.

Unmöglich war es nicht, aber die Schwierigkeiten drohten ihm den Schädel zu sprengen. Die Kopfschmerzen schaukelten sich mit jedem Telefonat noch auf, bis Meyendorff seine Aktivitäten beendete. Ergebnislos. Er hatte Clarissa Roths Dienstplan nicht herausfinden können, also widmete er sich wieder seinen Listen.

Draußen vor der Tür seines winzigen Büros klapperten Schreibmaschinen und Fernschreiber, klingelten Telefone, zuckten gedämpfte Stimmen durcheinander. Was war das doch für eine einfache Sache, einen viermotorigen Bomber tief ins Feindesland zu fliegen, im Vergleich mit dem Ausfüllen von Tabellen und Formularen. Wie leicht war dieser gewaltige technische Organismus Flugzeug zu beherrschen im Vergleich zu den bürokratischen Abläufen der Militärverwaltung. Meyendorff spitzte mit dem Taschenmesser einen Bleistift. In Wahrheit war das seine Hauptbeschäftigung, das Spitzen der Bleistifte. Spitz wie deutsche Vergeltungswaffen waren seine Bleistifte, bloß lagen die Bleistifte in ihren Munitionsmagazinen, während die Vergeltungswaffen auf englische Städte und Fabriken niederstürzten. Meyendorff begutachtete den Bleistift von allen Seiten, wunderte sich über diesen merkwürdigen Vergleich, schüttelte den Kopf und legte den Bleistift zur Seite.

Ihm fiel ein Gesprächsfetzen des gestrigen Abends ein. Ein paar Leutnants hatten stockbesoffen vom Mädchenpensionat des Fliegerquartiers gesprochen. Mädchenpensionat, so hatten sie das Barackenlager am Rande Konstantinopels genannt, in dem ein Großteil des weiblichen Personals des Fliegerquartiers untergebracht war. Wahrscheinlich logierte Clarissa Roth dort. Meyendorff griff zum Hörer und ließ sich von der Vermittlung verbinden. Es dauerte beinahe zehn Minuten, bis die Verbindung hergestellt war, aber endlich erreichte er den Wachdienst des Barackenlagers.

„Hallo, hier spricht Oberleutnant von Meyendorff, Fliegerquartier Süd. Ich hätte gern eine Auskunft. Ja, ich warte.“

„Ja hallo, ich hätte gerne Auskunft in einer privaten Angelegenheit. Können Sie mir sagen, ob und wann ich Fräulein Clarissa Roth antreffen kann. Ja, eine private Angelegenheit. Von Meyendorff mein Name. Habe ich schon gesagt. Ich bin ein Bekannter der Familie und soll Empfehlungen von ihrem Onkel überbringen. Hören Sie nicht zu? Eine private Angelegenheit, nicht dienstlich. Also bitte. Ich weiß nicht, ob sie bei Ihnen untergebracht ist, sonst würde ich nicht anrufen, sondern gleich kommen. Ich bitte Sie, hören Sie doch zu. Blicken Sie nur einmal auf Ihre Listen und sagen Sie mir, ob Fräulein Clarissa Roth bei Ihnen untergebracht ist. Ja, ich warte.“

Meyendorff war genervt, zuerst unzählige Versuche, überhaupt eine Leitung zustande zu bringen, und dann dieser Hornochse von Adjutant. Die Zigarette war in seinen Fingern beinahe verqualmt, ehe sich am anderen Ende der Leitung jemand rührte.

„Hallo, ja ich höre. Wie bitte. Sie ist derzeit nicht im Lager, sie ist im Dienst. Um sieben Uhr hat sie sich abgemeldet? Jawohl, Sie haben mir sehr geholfen. Natürlich, also notieren Sie. Oberleutnant von Meyendorff in einer privaten Angelegenheit. Haben Sie es notiert? Ich sage Ihnen noch meine Dienstnummer, damit auch alles seine Richtigkeit hat. Brauchen Sie nicht. Gut. Danke sehr. Auf Wiederhören.“

Meyendorff legte auf und lehnte sich zurück. Sein Blick schweifte ins Leere. Clarissa Roth.

Er bezahlte den Fahrer. Dieser redete gestenreich, er schien etwas erklären zu wollen, aber Meyendorffs Türkischkenntnisse reichten nicht, um den Mann zu verstehen. Das Getriebe krachte, der Wagen fuhr los und verschwand. Er blickte sich um. Ein einigermaßen hübscher Platz, niedrige Häuser, ein paar Läden, ein Kaffeehaus und drei Palmen in Mitte des Platzes. Links zweigte eine Straße ab, die hinaus auf das Land führte. In der Ferne sah er ein paar zerbombte und ausgebrannte Häuser. Die letzten schweren Luftangriffe auf Konstantinopel waren über ein Jahr her. Wahrscheinlich war ein Bomber abgedrängt worden und der Bombenwerfer hatte die Bomben in Panik irgendwo ausgeklinkt, anderenfalls wäre es nicht erklärbar, weshalb man so ein unwichtiges Viertel angriffen hatte. Hier gab es keine Industrie und keine militärischen Stützpunkte. Ein paar Hundert Schritte trennten ihn vom Eingang zum Barackenlager. Er sah zwei Soldaten vor einem Gittertor Wache schieben. Auf dem Platz tummelten sich Leute. Vor allem junge Frauen. Meyendorffs Blick tauchte in die Menge. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem Auflauf bei drei Lastwagen.

Österreicherinnen. Auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen. In strenger Ordnung, kontrolliert von uniformierten Frauen des Wachdienstes und einigen Landsturmmännern kletterten die Frauen auf die Ladeflächen der Laster. Meyendorff suchte nach einem Gesicht in der Menge. Ein türkischer Korporal entdeckte Meyendorff und salutierte stramm. Das gesuchte Gesicht war nicht zu finden. Die Fahrer starteten die Motoren und nacheinander fuhren die Laster ab. Die Sonne senkte sich langsam dem Abend zu, es war heiß und windstill. Der Geruch von Dieselabgasen erfüllte die Luft und verflüchtigte sich nur langsam. Nachdem die drei Laster fort waren, legte sich beschauliche Stille über den Platz. Die Landsturmmänner salutierten vor Meyendorff, er erwiderte den Gruß, dann gingen sie in Richtung Barackenlager.

Eine halbe Stunde streifte Meyendorff ziellos durch die Gegend. Der Platz war hübsch, aber die Gassen dahinter offenbarten das Elend der Vorstadt. Schäbige Behausungen, anders konnte man es nicht nennen. Die Menschen hier waren bettelarm, wovon sie lebten, war ein Rätsel. Ganz so wie in allen europäischen Städten. Meyendorff hatte nirgendwo andere Vorstädte gesehen.