Der blinde Spiegel

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Er zog beim Gehen sein Bein zwar noch ein wenig nach, trotzdem eilte er durch das Labyrinth des Bunkers. Wobei Bunker sehr schmeichelhaft formuliert war, denn ein richtiger Luftschutzbunker war das hier nicht. Überhaupt gab es in ganz Konstantinopel vielleicht zwei, drei Bunker, die diesen Namen auch verdienten. Ein paar schwere Fliegerbomben gezielt auf die Decke dieses Kellergewölbes und das k. u. k. Fliegerquartier Süd wäre ein stilles Massengrab. Das wusste hier jeder. Zum Glück wussten die Amerikaner das nicht, sonst hätten sie gewiss ein paar Boeings riskiert.

Hektische Betriebsamkeit entfaltete sich vor Meyendorffs Augen, Funker, Schreibkräfte, Kanzleigehilfen, Ordonnanzoffiziere, alle rannten mit angespannten Gesichtern durch die Gänge, Aktenbündel mit aktuellen Berichten, taktischen Konzepten, Verlustlisten und weiß der Teufel noch alles unter die Arme geklemmt. Meyendorff fügte sich in dieses Szenario, zumindest dachte er dies, doch er stach hervor, er schob eine goldene Aura in Form eines kleinen, aber bedeutungsvollen Abzeichens auf seiner Brust vor sich her. Die Leute entboten diesem Abzeichen respektvoll die Ehre und musterten den Helden neugierig. General Kirnbauer hatte darauf bestanden, dass Meyendorff seine Auszeichnung im Dienst trug, denn ein hoch dekorierter Soldat aus bestem Hause war natürlich trefflich für das Renommee des Fliegerquartiers.

Meyendorff kannte nur einen kleinen Teil der Bunkeranlage und Oberst Smekals Kanzlei lag in einem ihm bislang unbekannten Sektor. Es dauerte einige Zeit, bis er die richtige Tür gefunden hatte. Dieser Sektor war stiller, es eilten nicht so viele Leute durch die Gänge, dafür hörte man das stete Klappern von Schreibmaschinen. Er klopfte an die Tür und trat ein. Vier Augenpaare richteten sich auf ihn, vier Frauen, die von ihren Schreibmaschinen hochblickten und vom goldenen Schein Meyendorffs für einen Augenblick gefesselt waren. Von links nach rechts schweifte sein Blick durch den Raum, glitt von Gesicht zu Gesicht.

Zwei Augen stachen hervor. Meyendorff blickte unwillkürlich noch einmal in die Richtung. Oh ja, zwei bemerkenswerte Augen. Ein Bild spiegelte sich auf seiner Netzhaut, und es dauerte einen Augenblick, bis er begriff. Was für ein schönes Gesicht, was für sehnsuchtsvolle, tiefe Augen, was für ein zauberhafter Mund, was für eine wunderschöne junge Frau, was für ein berauschender Blickkontakt! Sein Puls pochte wie verrückt. Niemals hatte er ein anmutigeres Geschöpf gesehen.

„Sie wünschen bitte?“, durchschnitt eine unbarmherzige Stimme scharf diesen Moment des Zaubers. Meyendorff blickte verwirrt in die kämpferisch zusammengekniffenen Augen einer etwa vierzigjährigen, dunkelblonden Frau.

„Ich bringe die von Oberst Smekal angeforderten Listen“, sagte Meyendorff, seine Verwirrung eloquenter als erwartet überspielend. Er fühlte sich wie ein Schlauchboot auf hoher See, hin und her geworfen von mächtigen Wogen.

„Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen“, setzte die Frau im Tonfall unerbittlich fort.

„Oberleutnant von Meyendorff.“

Die Frau telefonierte mit dem Oberst. Die drei anderen Frauen hackten wieder in ihre Schreibmaschinen. Alle drei waren jung, um die zwanzig, Schreibkräfte eben, Mädchen aus besseren Familien und von entsprechender Bildung. Von ihnen gab es Tausende im Dienst der Armee, aber keine war so wunderschön wie dieses eine. Ihr braunes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, wie es für Fräuleins im Armeedienst üblich war, dennoch erahnte Meyendorff dessen sinnliche Fülle. Sie saß da in ihrer grauen Montur und bediente mit spielerischer Leichtigkeit die Tasten der Schreibmaschine, grazil und feenhaft, als spiele sie eine romantische Sonate auf dem Klavier. Da hob sie noch einmal kurz ihren Blick, scheu, sittsam und dennoch unendlich kokett.

„Sie können jetzt eintreten, Herr Oberleutnant“, schrillte wieder die schneidende Stimme durch den Raum.

Meyendorff musste sie wiedersehen, koste es, was es wolle, er musste dieses wunderschöne Fräulein wiedersehen.

BUDWEIS, SEPTEMBER 1945

Als die ersten Häuser der Budweiser Vorstadt auftauchen, trennen sich Karels und meine Wege, wir nicken einander wortlos zum Abschied zu. Ich schleppe mich die Gassen entlang. Ich bin kein Jüngling mehr, der Tag auf den Beinen fordert mich, insbesondere, wenn die fetten Brocken verloren sind. Diese Verbrecher. Die schlimmsten Banditen tragen immer Uniform, das weiß doch jedes Kind. Jetzt nur nach Hause und ins Bett. Liegen, schlafen, ausruhen bis zum Morgengrauen. Mein Lohn für dreißig Kilometer Rucksackschleppen ist diesmal sehr dürftig. Aber was soll’s, besser als nichts. Ein bisschen Brot, eingemachtes Gemüse. Was will man mehr?

In den Gassen ist es ruhig, ein paar Kinder lungern herum. Sie haben keine Lust zum Herumtollen, sind einfach zu ausgedörrt vom Hunger. Beiläufig streift mein Blick einen Bretterzaun. Stand da nicht eben jemand im Hauseingang? Ich sehe genauer hin, kann aber nichts entdecken. Muss mich wohl geirrt haben, das kommt bestimmt von der Erschöpfung. Die Kinder mustern mich prüfend und grüßen. Plötzlich bin ich von ihnen umringt.

„Haben Sie etwas zu essen?“, fragt mich ein Bursche mit großen Augen.

„Nein, nichts. Was soll ich haben?“

Die nächsten Straßenräuber, wenn ich denen auch noch etwas abgebe, bleibt für mich nichts mehr.

„Aber der Rucksack. Sie waren doch hamstern“, sagt die Schwester des Burschen.

Ich kenne die Kinder alle, sie wohnen in der Nachbarschaft.

„Kinder, geht, ich habe nichts. Die Gendarmerie hat mir alles genommen.“

Die Kinder wollen es nicht glauben, aber ich habe jetzt keine Nerven für lange Erklärungen und jage sie fort. Ich schleppe mich um die Ecke, zwei Gassen noch bis zu meiner Bretterbude.

„Überleben.“

Ich lausche. Überleben. Der alte Gruß der Lagerinsassen von Sokal. Überleben. Das eine mir zugeflüsterte Wort bricht für Augenblicke den Damm des Vergessens und all die grauen Jahre meiner Lagerzeit rollen wie eine Lawine über mich hinweg. Ich blicke mich um. Hinter einem Holunderstrauch steht ein Mann und beobachtet mich. Also habe ich zuvor doch recht gehabt, es hat mich doch jemand angestarrt.

„Wer sind Sie?“, frage ich.

Wut schwingt in meiner Stimme. Der Mann tritt hinter dem Strauch hervor und bleibt in gemessener Entfernung stehen.

„Sie kennen mich. Ein Mann wie Sie vergisst keine Gesichter. Oder täusche ich mich?“

Ja, ich kenne dieses kantige Gesicht. Josef Schachner ist einer der vielen Intellektuellen, die in den Dreißigerjahren ein k. u. k.-Arbeitslager mit ihrer Anwesenheit beehrt haben. Ich kenne ihn flüchtig, nur sein Gesicht und sein Name sind mir vertraut. Ich weiß, dass er längere Zeit in Baracke 7 einquartiert war. Da ich in jener Zeit in Baracke 19 war und auf anderen Baustellen malochen musste, weiß ich nicht viel von ihm. Bloß, dass er ein paar pazifistische Aufsätze in Untergrundzeitungen veröffentlicht hat. Das hat gereicht, um ihn in einem Arbeitslager anzutreffen. Man weiß, wie schnell das nach den Schaukal-Dekreten gegangen ist. Ein Künstler meldet sich mit revolutionären, kommunistischen oder pazifistischen Sprüchen zu Wort, wunderbar, die Arbeitskolonnen in den galizischen Einöden warten schon auf ihn.

„Nein, Sie täuschen sich nicht. Ich kenne Ihr Gesicht.“

„Gehen wir ein Stück, sonst fallen wir auf. Ich begleite Sie.“

Meine Sinne sind hellwach, ich trotte langsam dahin und spähe um mich.

„Ich denke nicht, dass wir beobachtet werden“, sagt Schachner. „Ich war sehr vorsichtig.“

„Was wollen Sie? Warum schleichen Sie mir nach?“

„Ich will nur ein wenig mit Ihnen reden, mich nach Ihnen erkundigen.“

„Mir geht’s beschissen, ich habe Hunger und bin müde. Das ist alles, und nun verschwinden Sie wieder!“

„Herr Kellermeier, Sie sind unser Mann. Sie sind genau der Richtige. Gut, dass ich mich an Sie erinnert habe.“

„Sind Sie ein Kettenhund des Kriegsüberwachungsamtes?“

Schachner räuspert sich.

„Ich ein Kettenhund? Ich bin weder vom Kriegsüberwachungsamt noch vom Hofgeheimdienst. Ich bin nur ein gebildeter Lumpensack, der sein Elendsquartier in der Wiener Vorstadt kaum sauber halten kann. Nein, ich bin aus privaten Gründen in Budweis.“

„Wohl wegen des angenehmen Klimas und des reizvollen Hinterlandes?“

Schachner lächelt, er blickt nur kurz zu mir hinüber, dann lässt er den Blick wieder schweifen.

„Sie haben sich den Spott in der Stimme erhalten. Das ist schön, das ist sehr schön. Nein, ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass der Widerstand gegen den Krieg weitergeht. Herr Kellermeier, ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie gebraucht werden.“

Ich schaue empor in den Himmel, ein paar Regenwolken ziehen auf, der Abend senkt sich über die Stadt. Danach blicke ich Josef Schachner in die Augen.

„Ich möchte Sie anwerben, Herr Kellermeier. Und zwar als Spion.“

Ich schmecke einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

„Soso, als Spion. Haben Sie sich das auch gut überlegt? Vielleicht bin ich ja ein Kettenhund des Kriegsüberwachungsamtes.“

Schachner verzieht sein Gesicht.

„Nun, wenn das so ist, werde ich morgen um diese Zeit an einem Laternenpfahl hängen. Das ist mein Risiko als Widerstandskämpfer.“

Wir gehen schweigend ein paar Schritte.

„Wissen Sie“, hob Schachner an zu sprechen, „dass ich als junger Mann Ihre Gedichte bewundert habe? Nein, wissen Sie wahrscheinlich nicht. Wir waren damals zu dritt, zwei junge Burschen und ein Mädchen, wir waren Kinder, als Sie und Ihre Alterskollegen draußen in Galizien und am Isonzo gekämpft haben. Wir wurden erwachsen und sahen all die Krüppel, all die Männer, denen ein Bein, ein Auge, die halbe Lunge fehlten, und wir sahen die Lemuren und Larven der Oberschicht, die adeligen Generäle, die sich vollgefressen haben, während Millionen hungerten, die Industriellen, die sich Konkubinen in Seidenwäsche gehalten haben, während den Soldaten an der Front die Hoden weggeschossen wurden. Wissen Sie, dass mein Vater Lehrer und maßgeblich daran beteiligt war, dass sich seine ganze Klasse 1914 geschlossen für die Front gemeldet hat? Ja, die steirischen Burschen waren gute Soldaten, nur sahen die wenigsten ihre Heimat wieder. Ich habe ihn gehasst dafür, ich habe ihn gehasst, weil er dumme, kleine Verse geschrieben hat. Aber es gab auch andere Literatur. Meine Freunde und ich waren jung und zornig, aber wir waren sprachlos in unserer provinziellen Enge. Zumindest am Anfang. Und dann gelangten wir an die Gedichte eines Albert Ehrenstein, eines Fritz Karpfen, eines Georg Trakl und eines Valentin Kellermeier. Es war wie eine Offenbarung. Ein neuer Weg, eine neue Sprache. Anstatt leerer Floskeln und hohler Phrasen hörten wir nun echtes Leid, echten Zorn, echte Freude am Leben und echte Furcht vor dem Tod. Natürlich mussten wir von der Provinz in die Stadt flüchten. Wohin? Natürlich in die große Kaiserstadt, die mit geraubtem italienischem Geld hochpoliert wurde und im Walzertakt und mit Marschmusik die große Renaissance der Donaumonarchie feierte. Eitle Fassaden, morscher Prunk, vergoldete Bestien, das haben wir in Wien gesehen. Und auch das Elend in den Arbeiterbezirken, die Lumpenburgen, die Bretterbuden, die Kriegsinvalidenhäuser. Wir waren wütend und wir konnten nun sprechen. Gerfried, mein Freund, ist bei einem Verhör von einem Geheimpolizisten erschossen worden. Offiziell ist er natürlich an Lungenentzündung gestorben, wie alle, aber ich habe herausgekriegt, dass sie ihm schlicht und einfach aus Versehen in den Kopf geschossen haben. Wer es getan hat, habe ich nie erfahren, aber es ist egal, wie der Name seines Mörders gelautet hat, denn im Grunde waren alle Geheimpolizisten seine Mörder. Kathrin ist in Moldawien an Fleckfieber gestorben. Haben Sie vom Frauenlager in Moldawien gehört? Bestimmt. Sie hat es nicht überlebt. Und ich landete im Lager, in dem ich Valentin Kellermeier zumindest aus der Ferne sehen konnte. Nun ja, das Leben ist über uns hinweggerollt wie eine Dampfwalze, diesmal keine russische, sondern eine österreichisch-ungarische.“

 

Josef Schachner hustet. Als er wieder zu Atem kommt, schaue ich ihn an.

„Sie sind nicht gekommen, um über Gedichte zu plaudern. Also wollen Sie mir etwas sagen oder nicht?“

„Ich will nur wissen, ob ich Ihnen trauen kann.“

„Kann ich Ihnen trauen?“

„Ich gehe ein hohes Risiko ein“, sagte Schachner. „Alleine mit Ihnen hier zu sprechen könnte mich für ein paar Jahre ins Gefängnis bringen. Und wenn ich konkreter werde, könnte es mich den Kopf kosten. Haben Sie das überlegt?“

„Wenn Sie um Ihren Kopf fürchten, dann gehen Sie nach Hause und lassen Sie mich in Ruhe.“

„Sind Sie zahnlos geworden im Laufe der Zeit? Haben Sie Ihren Idealen abgeschworen? Sind Sie nicht mehr der wütende Pazifist, dessen Gedichte Tausende mit Ergriffenheit auf den Lippen getragen haben?“

„Schachner, Sie sind ein Idiot. Ja, ich bin zahnlos. Sehen Sie die klaffenden Lücken in meinem Gebiss? Ich bin fünfzig Jahre alt und hungrig. Ich kenne kein anderes Ideal als einen vollen Magen, und ich habe vergessen, wie man das Wort Pazifismus buchstabiert. Ich bin sechzehn Jahre im Arbeitslager gewesen, meine Gelenke sind ruiniert, mein Rücken hält mich nur noch aus Verzweiflung aufrecht. Und da draußen tobt ein neuer Krieg. Haben Sie das vergessen? Ein neuer, noch mörderischerer Krieg, als ich ihn erlebt habe. Was reden Sie da von Pazifismus, Sie blöder Kerl? Der Pazifismus ist tot, gestorben an Fleckfieber in galizischen und moldawischen Arbeitslagern. Die Generäle haben gesiegt, weil die Generäle immer siegen. Ein General kann nur von einem anderen General besiegt werden, nicht von einem Dichter mit blumigen Sprüchen. Wissen Sie das nicht?“

Wir gehen stumm einige Schritte nebeneinander. Wir müssen vorsichtig sein, damit unsere Stimmen nicht zu laut werden und auffallen. Die Ohren des Kriegsüberwachungsamtes sind überall, das weiß jeder im Böhmen.

„Sie haben recht. Ja, Sie haben völlig recht“, sagt Schachner fast unhörbar leise. „Und genau deshalb kann sich der Pazifismus nicht bloß auf Gedichtbände und Feuilletonspalten in Zeitungen beschränken, genau aus diesem Grund muss der Pazifismus handeln.“

„Ich möchte lieber nicht hören, was Sie jetzt vorhaben zu sagen. Schweigen Sie, ich weiß von nichts und werde in einer Minute vergessen, dass Sie existieren.“

„Ich weiß, dass Sie dichthalten werden, ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Vergessen Sie Ihrerseits nicht, auch ich war im Lager. Ich weiß, was es heißt, nicht einmal im Jahr einen vollen Magen zu haben, aber wie ein Tier schuften zu müssen. Wer das überlebt hat, wird einen Gleichgesinnten niemals verraten. Darum sage ich Ihnen, was ich Ihnen sagen will und muss. Sie denken darüber nach und geben mir Ihre Antwort. Ja oder Nein, mehr brauchen Sie nicht zu sagen. Ich will Ihnen nicht ins Gewissen reden, ich will Sie nicht unter Druck setzen, ich sage, was ich zu sagen habe, Sie teilen mir in vierzehn Tagen Ihre Antwort mit und danach geht alles seinen Gang.“

Ich bleibe stehen und starre zu Boden. Eine Sekunde, noch eine, eine Schar von Sekunden. Es fallen nun einige wenige Regentropfen auf die zusammengeflickten Dächer der Brettervorstadt. Niemand beachtet uns zwei zerlumpte ältere Männer auf der Gasse, dennoch ist es besser, vorsichtig zu sein. Ich deute in die Richtung eines Weges, der in ein kleines Wäldchen am Rande der Bretterbuden führt.

„Gehen wir dort entlang. Ein kleiner Spaziergang zweier Herren, das fällt nicht auf.“

BAHNFAHRT NACH KRAKAU, MÄRZ 1915

Der Abend will nun hereinbrechen, will das matte Licht dieses Märztages immer weiter in den Westen treiben. Vom Osten kommt die Nacht und unser Zug rollt nach Osten. Reise in die Nacht. Leidgeprüftes Österreich-Ungarn, der Feind steht tief in deinen Ländereien. Aber das Marschbataillon ist unterwegs, rollt unablässig nach Norden und Osten. Den ganzen Tag schon zieht die Lokomotive den schweren Tross durch Mähren in Richtung Krakau. Ich bin ein Teil des Marschbataillons. Plänkler Valentin Kellermeier meldet sich nach sechswöchiger Grundausbildung marschbereit. Vor zwei Tagen wurden wir in Wien einwaggoniert, dann ging es los. Eine langsame, zähe Bahnfahrt durch Niederösterreich mit häufigen Aufenthalten folgte. In kleinen Provinzbahnhöfen Essen fassen, Latrinenrapport, kurzes Exerzieren, dann weiter. Ich weiß noch genau, welche schneidigen Sprüche im letzten August mit Kreide auf die Türen der Waggons geschrieben wurden. Jeder Schuss ein Russ. Jeder Stoß ein Franzos. Jeder Tritt ein Brit. Serbien muss sterbien. Davon ist nicht viel geblieben. Die Soldaten schreiben ihre Siegeszuversicht nicht an die Wand, nicht nach dem Herbst 1914, der uns so viel Leid gebracht hat, nicht nach dem Winter mit den Kämpfen in den Waldkarpaten.

In Göding haben wir haltgemacht und mussten zum Exerzieren antreten. Eine sinnlose Schikane, darin waren wir uns alle einig, aber Befehl ist Befehl. Da rollte ein Lazarettzug ein und vor unseren Augen wurden drei Tote herausgehoben. Die Männer haben die Strapazen nicht überlebt. Wir sahen totgefrorene Hände, Ohren und Nasen. Nicht vom Feuer des Feindes verstümmelte Soldaten, sondern vom Frost in den Karpaten. Der Schock saß tief. Als der Zug weiterfuhr, debattierten wir über eine Stunde hitzig über die Winterschlacht. Alfred hat das Richtige gesagt: „Jetzt ist Ende März, da kommt sogar in den Karpaten der Frühling, erfrieren werden wir nicht.“ Das war für uns alle ein Trost. Viel wussten wir ja nicht von der Winterschlacht, nur von hohen Verlusten auf beiden Seiten wurde gemunkelt. Aber der Infanterist hat nichts zu munkeln, er hat sich für Gott, Kaiser und Vaterland mutig in den Kampf zu werfen.

Ich sitze neben Alfred an der schmalen Seite des Güterwaggons, wir drücken unsere Schultern aneinander, denn durch die Ritzen der Holzplanken pfeift der eiskalte Wind. Uns friert, dabei ist die Nacht noch gar nicht angebrochen. Bei Fahrtantritt, knapp nachdem der Zug über die Donaubrücke und hinaus aus Wien gerollt war, habe ich mit der Spitze meines Bajonetts in den Stutzen meines Gewehrs meine Initialen geritzt. VK, Valentin Kellermeier. Die Kameraden haben mich dabei beobachtet und wenig später ritzten sie ebenfalls ihre Initialen in ihre Waffen.

Mein Blick ruht auf dem Gewehr. Ich halte es steil aufgerichtet vor mir. Kaltes Eisen, dunkles Holz. Ein Steyr M95-Gewehr. Meine Braut, so sagt man. Ich habe gelernt, wie man damit umgeht. Ruhig und gezielt schießen, hat der Ausbildner gesagt, schnell nachladen und weiter ruhig und gezielt schießen. Beim Nahkampf mit aufgepflanztem Bajonett immer in den Bauch stechen, nicht in die Brust, denn da kriegt man das Bajonett vielleicht nicht schnell genug wieder heraus. Bajonette in der Brust klemmen gerne in den Rippen. Kräftig und gezielt in den Bauch stechen, so geht es. Jawohl, Herr Oberleutnant, zu Befehl, ruhig und gezielt und kräftig in den Bauch. Jawohl.

Ich denke an meinen ältesten Bruder Rudolf. Er ist seit Dezember in Serbien an der Front. Jetzt sind alle drei Söhne meiner Eltern Soldaten. Oder genauer, alle zwei Söhne, denn Fritzl ist ja schon zu Beginn des Krieges an der Ostfront gefallen. Fritzl, der Hitzkopf, der mutige Fritzl, der zweite Sohn meiner Eltern, der mich früher oft hart hergenommen hat, den ich immer ein wenig bewundert und beneidet habe für seine Schneid. Ich werde ihn nie mehr wiedersehen.

Mein Vater Rudolf Kellermeier ist Verwalter des Schlosses Marchegg, meine Mutter Köchin, ganz klar, dass der Baron die Ausbildung der Söhne und der Tochter seiner pflichtbewussten, treuen und fleißigen Untergebenen im Auge behielt. Der Baron und mein Vater sind seit Langem so etwas wie Freunde, natürlich unter respektvoller Wahrung des Standesunterschiedes. Der Baron weiß zu schätzen, dass er mit der Verwaltung seiner Ländereien kaum Arbeit hat und dass das Hauspersonal unter der Führung meiner Mutter seit Jahren keinen Anlass zur Klage liefert. Mein Bruder Rudolf hat alle Eigenschaften und Fähigkeiten, in Zukunft ganz wie unser Vater ein würdiger Verwalter zu werden. Vor dem Krieg nahm er Vater einen guten Teil der Arbeit ab. Friedrich, mein zweiter Bruder, war in der Schule immer aufmüpfig, hat miserable Zensuren gebracht und schien unseren Eltern mehr Ärger als Freude bringen zu wollen. Doch nach seiner Lehre als Schmied ist er ein ebenso geschickter wie verlässlicher Handwerker am Wirtschaftshof Marchegg gewesen. Annemarie, meine Schwester, war das Liebkind unserer Mutter. Im Sommer wird sie heiraten.

Ich selbst bin das jüngste Kind meiner Eltern und vorerst hatte niemand mit mir bestimmte Pläne. Ich wuchs im Windschatten meiner Geschwister auf, und da ich eher ein stilles Kind war, gab es kaum Anlass zum Tadel. Nur meine Neigung, in der Bibliothek des Barons die großen Folianten durchzublättern, fiel bald auf. Und als ich mich in Fragen der Geografie und Geschichte als gelehrig erwies, fasste der Baron den Entschluss, dem jüngsten Sohn seines treuen Verwalters und seiner geschätzten Köchin die Weihen höherer Bildung zukommen zu lassen. So kam ich in ein Internat und paukte Cäsars „De Bello Gallico“, Arithmetik und die Schriften Homers. Zuerst habe ich das Internat gehasst, doch irgendwann war ich den Auwäldern, den Wiesen und Feldern des Marchfeldes so entfremdet, dass ich zum Vorzugsschüler wurde. Mir blieb als Sohn eines Domestiken im Kreise der adeligen und großbürgerlichen Schulkameraden auch nichts anderes übrig.

Die Kameraden grölen und werfen die Karten auf den Haufen. Wieder einmal Streit wegen einer Kartenpartie. Den ganzen Tag über rauchen die hitzigen Köpfe und entzünden sich beim Kartenspiel. Seit dem Halt in Göding ist kein Offizier in unserem Waggon, also hallt das Geschrei, Schimpfen, Gespött und Gelächter noch lauter als zuvor. Pepi ist einer der Lautesten. Plänkler Josef Pokorny ist Sohn eines sozialdemokratischen Arbeiterfunktionärs. Kein hohes Tier, einer vom Fußvolk. Söhne von kleinen Sozialdemokraten werden nicht Unteroffiziere, also ist Pepi ein hundsgemeiner Infanterist wie ich. Während der Grundausbildung haben wir einander kennen und schätzen gelernt. Alfred, Pepi, Toni und ich, wir haben nicht nur im selben Zimmer gelegen, sondern sind auch Kameraden und Freunde geworden. Und alle vier sind wir im Marschbataillon abgerückt und werden gemeinsam an die Front gehen.

 

Pepi beginnt gerade, um von der Niederlage beim Kartenspiel abzulenken, mit der Otto-Hänselei. Eine mittlerweile stehende Redewendung im Bataillon. Otto Drabek ist unser Idiot vom Dienst, er ist sichtlich beschränkt, aber wegen seiner kräftigen Beine zum Infanteristen geeignet. Den Kalbfelltornister, das Gewehr und die Munition trägt er mit Leichtigkeit, also taugt er für die Front. Bloß mit dem Kapieren hat er so seine Schwierigkeiten. Am Anfang war es ein Heidenspaß für uns, wenn Otto bei Kommando Links-Schwenk Rechts-Schwenk vollführte. Oder wenn er über eine Stunde für das Lesen einer Seite in der Dienstvorschrift benötigte. Aber als die Ausbildner dazu übergingen, das ganze Bataillon für die Dummheit eines Mannes zu schleifen, musste Otto einiges von uns ertragen. Hänseleien waren da noch das Mildeste. Mir tat er manchmal leid, jedem tat er manchmal leid, was uns nicht hinderte, unseren Zorn an ihm abzuladen.

Die anderen stimmen sofort in Pepis Vorstoß mit ein und verlachen zum hundertsten Mal den Mann mit dem breiten Rücken und dem schwachen Geist. Otto arbeitete in den Wienerberger Ziegelwerken als Hilfsarbeiter, das hat er einmal erzählt, eingesetzt seiner Intelligenz entsprechend als Ziegelträger oder Hoffeger. Ich weiß nicht warum, aber ich beobachte Otto immer genau, denn er ist nicht nur beschränkt, sondern zeigt auch immer wieder überraschende und merkwürdige Verhaltensweisen. Die Spötteleien machen ihn traurig oder verstören ihn – das war mal so, mal so, aber sein Gewehr ließ ihn richtig erschaudern. Er ist dumm, aber nicht ungeschickt, er kann mit Werkzeug umgehen, nur das Gewehr greift er an, als wäre es eine giftige Schlange, als wüsste er nicht wohin mit seinen Händen. Das Gewehr macht ihm Angst. Ein komischer Kauz.

Alfred steckt sich eine Zigarette an. Ich folge seinem Beispiel, denn seit ich Soldat bin, rauche ich. Die Stimmen der jungen Männer im Waggon kippen und werden kreischend. Fast wie ein Haufen kleiner Buben im Turnsaal. Wir wollen alle Männer sein, aber irgendwie sind wir noch kleine Buben. Kleine Buben in Uniform und Armeeschuhen. Kleine Buben mit Gewehren und scharfer Munition.

Es wird dunkel und die Kälte im Waggon ist fast unerträglich.