Das Nadelöhr

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„Ein Gedicht, Magda, ein Gedicht.“

Die stilvoll gekleidete und überaus attraktive Frau Mitte vierzig lächelte. Mit flotten Schritten entfernte sie sich aus dem Büro. Siegfried legte Wert auf stabile Beziehungen, das hatte er schon von seinem Vater so gelernt, Junge, ein erfolgreicher Geschäftsmann ist einer, der Freunde hat, und Freunde zu haben, heißt, für andere da zu sein, das hatte der Vater immer gesagt, und jetzt, da Siegfried im Sattel des unternehmerischen Schlachtenlenkers saß, besann er sich gerne auf die Worte seines alten Herren. Magda Bernhardt war seit vierzehn Jahren seine Mitarbeiterin. In früheren Jahren hatten sie eine kurze, sehr nette Affäre gehabt, die sich in beiderseitigem Wohlgefallen wieder aufgelöst und zu einer beständigen Kollegenschaft gewandelt hatte. Siegfried wusste, dass er Magda nie entlassen würde, er wusste, dass sie bis in ihr Rentenalter seine rechte Hand bleiben würde, weil sie einfach, natürlich unter Wahrung des gesellschaftlichen Rangunterschiedes, Freunde waren, Vertraute, Kampfgefährten. Auch wenn mittlerweile manche, was Arbeitskraft, Organisationstalent und Eloquenz betraf, mindestens ebenbürtige Mitarbeiterinnen in seiner Firma arbeiteten, die ebenfalls attraktiv und noch dazu jung und ehrgeizig waren, so hatte keine von den jungen Aspirantinnen auf den begehrten Stuhl der Chefsekretärin in einem Punkt Magda auch nur annähernd das Wasser reichen können. Niemand, wirklich niemand, verstand sich auf die hohe Kunst der Kaffeezubereitung so wie Magda. Jeder Wiener Cafétier von Rang und Namen würde sie stante pede unter Vertrag nehmen, jeder Hotelier im Fünfsternebereich würde viel Geld für eine solche Mitarbeiterin bezahlen. Das wusste Siegfried natürlich, und deshalb war die Stelle als Chefsekretärin in seinem Unternehmen monetär überaus generös dotiert und von einer Vielzahl an Privilegien begleitet. Was ja viele junge Frauen anspornte, diese Stelle anzustreben, nicht wissend, dass Siegfried Magda diese Stelle niemals wegnehmen würde. Siegfried lukrierte daraus den Nutzen, mit der Karotte vor der Nase der Eselinnen, die jungen Frauen zu Höchstleistungen zu motivieren. Und auch das hatte er von seinem Vater gelernt, nämlich dass das Aufrechterhalten einer klar definierten und somit gerechten Hierarchie, einem System, wie es eine Investmentfirma nun einmal war, die nötige Stabilität brachte. Und Magda war auch in dieser Hinsicht vollends vertrauenswürdig, sie hielt den Hühnerhaufen, so nannte Siegfried im Stillen seine weiblichen Mitarbeiterinnen, einerseits auf Trab, andererseits zusammen.

Siegfried stellte Tasse und Teller auf der Marmorplatte seines Schreibtisches ab und blickte auf die Uhr. Knapp vor neun Uhr vormittags. Zeit zu arbeiten. Er öffnete die Mappe aus feingegerbtem schwarzen Leder und nahm die Telefonliste in Augenschein. Mit der Füllfeder machte er neben den penibel genau sortierten Daten seiner Geschäftspartner, die er heute zu kontaktieren hatte, einige Notizen, erwog dies und das, legte sich Strategien und Argumente bereit und recherchierte in der Datenbank noch die eine oder andere Information. Schließlich legte er das Headset an, betätigte die Ruftaste seiner Telefonanlage und wurde mit einer Nummer in Dubai verbunden. Die Araber waren sehr gute Kunden seines Unternehmens, ja, man konnte sagen, dass mit der Aufnahme der Kontakte in den arabischen Raum vor zehn Jahren seine Firma erst internationales Gewicht bekommen hatte. Und arabische Geschäftsleute wussten es auch entsprechend zu würdigen, wenn den Herren in den Pausen wichtiger Konferenzen von einer sehr attraktiven Mittvierzigerin mit devotem Lächeln und ihrer Truppe an bildhübschen Helferinnen erstklassiger Kaffee nach alter Wiener Tradition serviert wurde. So machte man Geschäfte.

Siegfried musste nicht lange warten, bis am anderen Ende der Leitung der Anruf entgegengenommen wurde.

Die Gischt umspülte den Edelsteinglanz der Hochzeitskrone. Meerjungfrauen brachen kichernd und liebliche Melodien singend durch die Brandung, warfen Kusshände in die Luft und tauchten wieder in die grüne Tiefe ab. Luis stand an Bord seiner Feluke, die Morgensonne glitzerte in den salzigen Wassertropfen auf seinem lichtgebräunten Gesicht, die Taue in seinen starken Händen ließen das Boot in der steifen Brise rasch voran gleiten. Immer ihr nach, furchtlos hinaus auf die hohe See, ihr nach, der schönen Meeresprinzessin, die ihm, nur ihm, in der letzten Nacht die Weiten ozeanischer Liebe heilig versprochen hatte, wenn er denn sein Leben zu Lande hinter sich ließe und mit ihr, nur ihr, noch vor dem nächsten Sonnenuntergang Hochzeit halten, sich ihr und einem Leben in ewiger Liebe in der Tiefsee hingeben wolle. Er wollte, will und würde immer wollen, er hatte nicht eine Sekunde gezögert. Seinem Vater, dem Herren des wohlhabenden Inselkönigreichs, in dessen Fußstapfen er dereinst hätte treten sollen, hatte er vom nachtkühlen Strand einen letzten ungehörten Gruß entboten. Sodann hatte er die Feluke bestiegen, das Segel gehisst und war mit der Flut hinaus gefahren, seinem Leitstern, seiner zukünftigen Königin hinterher. Ohne zurückzublicken war er den smaragdgrünen und dunkelblauen Steinen auf ihrer Krone gefolgt, welche sie, die Einzige, die Wunderschöne, auf ihren Händen über den Wellen balancierend und mit ihrem Fischrumpf kraftvoll durch die Wogen stechend voran getragen hatte. Mona, die ozeanische Prinzessin, die noch in der kaum vergangenen Nacht ihr dunkles, nach Tang und Seesternen duftendes Haar um seinen Hals geschlungen, die ihm nur einen Kuss gewährt, die nur eine schamhaft zärtliche und doch das gewohnte Leben aus allen königlichen Fugen und Angeln brechende Berührung ihrer seidenweichen Haut erlaubt, die ihm aber in den Tiefen der See ekstatische Liebe bis in alle Ewigkeit des Ozeans geschworen hatte. Und er hatte ihr geschworen, mit all seiner Kraft, mit all seinem Willen, mit all seiner Hingabe den Liebeseid zu erfüllen, den er ihr hatte geben müssen, den Eid nämlich, mit einem schnellen Entschluss und kühner Tat ein Liebesglück zu erobern, welches noch nie einem Manne zuteil geworden war, und während der Bootsfahrt über das Meer nicht mehr zum Land zurückzublicken. Fort mit dem Leben auf Sand und Steinen, fort das Feilschen um Macht und Geld, um Ruhm und Ansehen, um eine Braut blauen Bluts, fort, fort, fort, hinaus, ihr, Mona der Meeresprinzessin, der lieblichsten aller Meerjungfern, hinterher in ihr maritimes Reich.

Sie hielt inne, wartete, bis sein Boot aufschloss, scheuchte ihre plapperhaften und kichernden Schwestern hinfort, welche mit ihrem süßen Gesang Luis willkommen hießen.

„Bist du bereit, jetzt deinen Schwur einzulösen, mein schöner Geliebter, bist du willens, jetzt aus meiner Hand die Hochzeitskrone zu empfangen?“, rief sie ihm zu und hielt die Krone hoch in das gleißende Licht.

„O du Holde, du einzigartige Perle der Tiefe, ich bin willens und bereit, dein zu sein bis an das Ende aller Tage!“, rief Luis mit lauter, fester Stimme.

Das Gekicher der ungezählten Meermaiden verstummte, die Albatrosse zogen atemlos Spiralen in luftiger Höhe, ein grüner Schein glomm am Horizont.

„O Geliebter, so lasse denn alles hinter dir und komme, wie du von den Großen Geistern erschaffen wurdest!“

Luis entledigte sich seines Hemdes, seiner Hosen und sprang kopfüber in seine zukünftige Heimat, in den unerklärlichen Ozean.

Ein Kuss! Ein Kuss! Ein Kuss empf ing ihn, ein Kuss, wie nie zuvor ein Weib einen Kuss einem Manne gewährt hatte. Engumschlungen tauchten Mona und Luis ab, tief und immer tiefer, sich küssend, sich ohne Worte ewige Treue schwörend. Sie tauchten in ein dunkles Schloss am Grund des Meeres, tauchten in das Hochzeitsgemach der Prinzessin, tauchten in das duftende Algenbett. Luis sah, dass durch einen gnädigen Zauber seine Beine sich in einen Fischschwanz verwandelt hatten, dass er das tröge Menschsein hinter sich gelassen hatte und zu einem Meeresbewohner geworden war, einem männlichen Meeresbewohner, einem sehr männlichen Meeresbewohner, einem kolossal zur Liebestat bereiten männlichen Meeresbewohner in einem Schloss voller süßer, kichernder und koketter Meerjungfrauen.

„Wenn du mich“, hauchte ihm Prinzessin Mona ins Ohr, „zum Fischweibe haben willst, so musst du auch meinen Schwestern dienstbar sein und mir darin deine wahrhafte Treue erweisen.“

Luis warf einen Blick auf die Schar unendlich anmutiger Meeresjungfrauen, die sich singend dem Bette näherten. Er richte alsdann den Blick seiner Prinzessin, bald Königin, zu und schmiegte sich an ihren dürstenden Leib.

„Na, wenn es weiter nichts ist, dann fangen wir halt gleich mal an.“

Der Wecker schlug an.

Luis riss die Augen auf, zu Tode erschrocken, tragisch enttäuscht, im Fundament seiner Existenz erschüttert. Eine bittere Miene legte sich in sein Gesicht.

„Wieder mal typisch, im letzten Moment kommt immer was dazwischen. Immer habe ich Pech“, jammerte er.

Er hob kurz die Bettdecke, blickte in Richtung seiner akzentuiert ausgebeulten Pyjamahose und beschloss, ehe er sich erhob und zu seinen Gästen begab, deren Geplapper er aus der Küche hörte, noch ein paar Augenblicke zu warten.

„Mist! Doppelmist! Dreck! Na ja, egal, jetzt ist es eh schon wurscht.“ Luis warf sich seinen Morgenmantel um und schlurfte mit hängenden Schultern in die Küche. Konrad und Mona saßen bei Tisch und plauderten angeregt. Geleerte Teetassen standen vor ihnen. Luis zog die Augenbrauen hoch. Die beiden schienen ihn gar nicht zu bemerken. „Morgen“, brummte er mürrisch.

Endlich wendeten sich die Blicke der Gäste dem Gastgeber zu.

„Guten Morgen, lieber Luis!“, rief Konrad. „Setz dich zu uns, nimm teil an dieser schönen Morgenstunde an deinem Tisch.“

 

Luis ließ sich auf einen Stuhl plumpsen.

„Soll ich noch etwas Tee machen?“, fragte Mona und lächelte Luis an. Eine heiße Welle durchrollte Luis angesichts dieses bezaubernden Lächelns. Er stotterte.

„Äh … habt ihr schon … also … ja, gerne.“

Mona erhob sich, schnappte die Kanne, trat an die Spüle und füllte den Wasserkocher. Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und langte in den Schrank nach der Blechschachtel mit dem Tee. Luis konnte sich nicht von ihr abwenden, gaffte ihr mit großen Augen hinterher, verfolgte genau, wie sie sich, nur mit einem knappen T-Shirt und ihrem Höschen bekleidet, streckte. Konrad verfolgte verschmitzt Luis’ Blicke und zauste seinen Bart.

„Mona, beste Freundin“, scherzte Konrad, „was bin ich froh, in diesem wohltemperierten Wohnraum zugegen sein zu dürfen.“

Mona schaltete den Wasserkocher ein und setzte sich wieder an den Tisch. Sie schaute Konrad fragend an.

„Was meinst du? Weil du mal im Warmen übernachten konntest?“

„Auch das, vielmehr aber erfreut es mein ästhetisches Empfinden, dich so spärlich bekleidet vorzufinden und deine formvollendeten Beine und dein prächtiges Gesäß beäugen zu dürfen.“

Mona verzog ihre Miene.

„Hast du noch nie einen Frauenarsch gesehen?“

„Oh doch! Und ebendarum kann ich behaupten, dass deiner von hinreißender Gestalt ist.“

Mona sprang hoch, langte in ihre Tasche und streifte eine Hose über.

„Alter Lustmolch!“

„In meinem Alter und in meiner Lebenssituation empfinde ich diese Bezeichnung als charmantes Kompliment.“

Das Wasser im Kocher sprudelte.

„Lass nur, ich mach schon“, sagte Luis, erhob sich, brühte den Tee auf und stellte die dampfende Kanne auf den Tisch.

„Und eines muss ich in jedem Fall festhalten“, setzte Konrad seine Unterhaltung mit Mona fort. „Der schriftstellerische Ertrag eines solchen Lebens kann doch nur als bemerkenswert bezeichnet werden. Schau mich an, ich habe in früheren Jahren elaborierte Lyrik und Epik niedergelegt, die in der Regel von den Leuten in ihrer literarischen Tiefe gar nicht verstanden wurden, man könnte mich also einen Dichter ernsthafter Literatur nennen. Doch was bedeutet das schon? Johannes Mario Simmel ist von der Literaturkritik und Literaturwissenschaft immerzu von oben herab betrachtet worden. Die des eigenen Schreibens unfähigen Pharisäer, diese stockkonservative Brut gelehrter Idiotie, haben einen kreativen und sehr fleißigen Autor verachtet, niedrig geschätzt, verlacht und sind nun darauf und dran, ihn aus den Büchern der Literaturgeschichte zu tilgen. Und über die Jahrhunderte gerechnet sind Geschichtsbücher mächtige Instrumente des Erinnerns. Das Diktum der vertrottelten Germanisten lautet: Johannes Mario Simmel soll vergessen werden! Warum? Wer hat die Bande zu diesem Urteil berufen?“

Mona zuckte mit den Schultern.

„Ja, schon klar, du lästerst über die Germanistik und Literaturkritik und was weiß ich. Mir ist egal, was die Schwachköpfe auf der Uni faseln, ich habe meine eigene Meinung. Das Buch, das ich von Simmel gelesen habe, war schon total spannend und so, aber diese Agentengeschichten sind doch voller Kitsch. Heiße Liebe im Kalten Krieg, Aufklärung bis zum letzten Blutstropfen und was weiß ich, voller Gummi für große Buben, wenn du mich fragst. Simmel hat doch nur die verrückte Zeit des Wettrüstens zwischen Ost und West für seine Abenteuergeschichten ausgeschöpft.“

Konrad wiegte den Kopf.

„Alleine die Verankerung der Literatur in der jeweiligen Zeit kann man einem Autor nicht als Vergehen anlasten. Siehe etwa Shakespeare. Hat er nicht auch in seinen Königsdramen einem entsetzlichen Ungerechtigkeitsregime, nämlich der Adelskultur, und dessen blutigen Exzessen des Wahnsinns wortreiche Denkmäler gesetzt?“

Mona wiegte zustimmend den Kopf.

„So gesehen …“

„Da hast du es! Ich will ja nur sagen, dass die Bewertungskriterien, nach denen Bücher und Autoren von der jeweils herrschenden kulturellen Meinung beurteilt werden, in sich absurd sind, niemals irgendetwas über ein Buch oder das Werk eines Autors aussagen können, und all jene Vertreter der jeweils herrschenden Meinung, die sich etwas auf ihre Urteile und Bewertungen einbilden, grundsätzlich und mit apodiktischer Logik immer und zu jeder Zeit einfach nur arrogante Schnösel oder halbgare Klugscheißer sind.“

Mona griff zur Teekanne und goss Konrad und sich selbst Tee ein.

„Geschenkt. Und ich habe da auch eine Theorie, warum das so ist.“

Konrad stützte seine Ellbogen auf den Tisch.

„Eine Theorie? Lass sie mich vernehmen!“

Mona räusperte sich.

„Also, obwohl ich noch nicht so alt bin, habe ich doch schon ein paar Bücher gelesen.“

„Wie ich mit großer Freude bemerke, meine belesene junge Freundin!“

„Beim Lesen habe ich folgenden Eindruck gewonnen.“

„Welchen Eindruck?“

„Männer sollten nicht schreiben!“

Konrads Mund klappte auf. Er starrte Mona perplex an.

„Nicht schreiben?“

„Genau. Besser wäre, wenn sie das tun, was sie wirklich nötig hätten.“

Konrad klatschte die flache Hand auf den Tisch.

„Liebe Mona, jetzt aber raus mit der Sprache! Was hätten Männer wirklich von Nöten?“

Mona streckte drei Finger von ihrer Faust.

„Drei Dinge. Erstens: Aufhören, sich für die Krone der Schöpfung zu halten. Seid ihr nämlich voll nicht. Zweitens: Zähneputzen vor dem Schmusen. Drittens: Händewaschen nach dem Arschauswischen.“

Für einige Augenblicke starrten Konrad und Mona einander schweigend an, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. Konrad pochte anerkennend auf den Tisch, so dass die Teetassen schepperten. Er wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln.

„Trefflich, trefflich, liebe Freundin, besser kann man es nicht formulieren.“

Luis schaute sich ein wenig verdattert um. Irgendwie fühlte er sich hier an seinem Küchentisch als Randfigur. Es goss sich selbst Tee ein und räusperte sich.

„Ihr habt es euch in meiner Wohnung ganz schön gemütlich gemacht.“

Das Gelächter der beiden verebbte. Sie blickten Luis an.

„Hast du Stress damit?“, fragte Mona streitbar.

„Nein, also, Stress nicht, aber …“

„Willst du uns rausschmeißen?“, bohrte sie weiter.

Luis sah sich von ihrem forschen Ton in die Defensive gedrängt.

„Hab ich so nicht gesagt, aber …“

„Aber was?“

„Aber ich habe kein Frühstück im Haus. Nur Tee füllt auch nicht den Magen. Was haltet ihr davon, wenn ich auf einen Sprung in den Supermarkt schaue?“

Die Mienen seiner Gäste hellten sich schlagartig auf.

„Das wäre dann schon irgendwie süß“, flötete Mona melodiös.

Luis katapultierte sich hoch. Süß, sie hat gesagt, ich wäre süß, geisterte es in seinem Kopf, als er sich eilig bekleidete und danach die Treppe hinablief.

„Ich werde mich jetzt dieser leidigen Sache annehmen.“

Magda Bernhardt warf ihre Stirn in Falten.

„Willst du das wirklich tun?“

Siegfried Rössner seufzte, schaute auf die Zeitanzeige auf seinem Computerbildschirm und nahm das Dossier zur Hand.

„Es führt kein Weg daran vorbei, liebe Magda. Ich kenne deine, entschuldige diesen Ausdruck, sentimentalen Einwände und habe sie wohl erwogen. Es gibt keine Alternative! Wir müssen unsere Prinzipien wahren, auch wenn es manchmal hart und unbequem ist. Wachstum und Profit sind die einzigen Prinzipien, die die Menschheit voranschreiten lassen, Wachstum und Profit sind die zentralen Werte unserer Firmenkultur, unserer Philosophie, die Garanten unseres Erfolges. Du willst doch auch am Erfolg teilhaben, liebe Magda, oder täusche ich mich?“

Magda Bernhardt hatte es Siegfried Rössner immer sofort angesehen, wann sie klein beigeben musste, wann sie auf seine Linie einschwenken musste, wann sie lieber nicht gegen ihn antrat, nämlich dann, wenn sich diese eine vertikale Stirnfalte bildete. Sie hatte ein sehr feines Gespür für die Regungen ihres Chefs und sie hatte schnell gelernt, sich auf dieses Gespür zu verlassen. Siegfried behauptete im engsten Kreis immer wieder, dass Magdas Fähigkeit, delikaten Kaffee aufzubrühen, sie zu seiner rechten Hand gemacht hatte. Magda Bernhardt wusste es besser. Es war ihr feines Sensorium für weibliche Unterwerfung einem dominanten Mann gegenüber. Immer wieder gab sie ihm kluge und manchmal auch gewitzte Konter, aber nur bis sie an den Punkt kam, wo der Anschein von Verärgerung in ihm keimte, und genau in diesem Moment machte sie einen schneller Rückzieher und argumentierte überzeugend das Einschwenken auf seine Linie. Das war ihr Erfolgsrezept. Seines hingegen war, wie er sachkundig immer wieder ausführte, Wachstum und Profit. Diesem Erfolgsrezept verdankte sie auch ihr schönes, hervorragend restauriertes Jugendstilhäuschen in Wien Nussdorf, das Ferienhaus in Kitzbühel, ihre beiden Luxusautos, ihre gut bestückte Sammlung an zeitgenössischer Malerei und ihren bleibenden Erfolg bei gutaussehenden und durchtrainierten Schilehrern und Masseuren. Hinsichtlich letzterer machte sich eine intelligente Frau wie Magda keine Illusionen, sie hatte gewisse Bedürfnisse, wie nun einmal jede Frau, und diese erfüllte sie sich. Warum sollte sie die feschen Kerle nicht an ihrem Wohlstand teilhaben lassen, zumindest solange diese einen Sinn für Romantik pflegten und in finanziellen oder erotischen Belangen nicht unverschämt wurden. Magda war siebenundvierzig, sie hielt seit ihrem achtzehnten Lebensjahr ihr Idealgewicht, sie trieb Sport und bildete sich weiter, sie war wohlhabend und selbstbewusst, sie war als junge Frau sehr hübsch gewesen und jetzt als reife Frau zu voller Schönheit erblüht. Nichts in ihrem Leben war jemals schief gelaufen, und der unternehmerische Spürsinn ihres Chefs nahm in diesem makellosen Lebenslauf eine vorzügliche Stellung ein. Nicht zuletzt war es ja auch Siegfried gewesen, der aus ihren ersten Ersparnissen durch kluge Aktiengeschäfte ein Vermögen gemacht hatte. Also zumindest ein Vermögen in ihren Augen, sie stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, ihr Vater war zeit seines Berufslebens ein kleiner Ingenieur gewesen, ihre Mutter hatte vor und nach den Zeiten der Kindererziehung als Lehrerin gearbeitet. Im Vergleich zu Siegfried war sie natürlich arm wie eine Kirchenmaus. Sie hätte bestimmt noch mehr Kapital anhäufen können, aber irgendwann hatte sie Siegfried einfach gesagt, sie wolle keine Aktien mehr kaufen und verkaufen, sondern begnüge sich mit ihrem Vermögen. Diese Entscheidung hatte Siegfrieds Vertrauen in seine Chefsekretärin beinahe kritisch erschüttert, ihr war es gerade noch gelungen, all seine Zweifel an ihrer Loyalität zu zerstreuen.

Magda machte auf ihrer Liste einen Vermerk und lächelte Siegfried gewinnend zu.

„Dann werde ich Herrn Szemeliker informieren.“

Siegfried legte die Hände auf die Lehne seines Stuhls und zwinkerte ihr mit beiden Augen zu.

„Ich bitte darum.“

Mit schnellen Schritten verließ Magda das Büro und schloss hinter sich die Tür. Siegfried drehte sich auf seinem Stuhl und schaute still zum Fenster hinaus. Er liebte diesen Ausblick auf die Donau und den Leopoldsberg. Still genoss er das Farbenspiel der herbstlich rot getünchten, von Buchen bewaldeten Berge im Norden Wiens. Nur wegen dieses Ausblicks hatte er vor drei Jahren sein fürstliches Büro in der Innenstadt gegen dieses äußerst geräumige Büro im neuen Wolkenkratzer an der Donau getauscht. Im dreißigsten Stock thronte er nun über der alten Stadt und nur der ferne Horizont bildete die Grenze seines Blickfeldes. Siegfried musste gar nicht lange warten, bis an seine Tür geklopft wurde.

„Herein!“

Die Tür schwang auf und Doktor der Wirtschaftswissenschaften Heribert Szemeliker trat ein, wie immer in einen tadellosen dunkelgrauen Anzug gehüllt. Er trug eine Mappe bei sich.

„Guten Tag, Herr Rössner. Sie wollten mich sprechen“, sagte der Mann mit undurchdringlicher Miene.

„Ah, Herr Szemeliker, da sind Sie ja. Treten Sie nur näher, bitte, setzen Sie sich zu mir.“

Siegfried schaute versonnen einem Lastschiff zu, das langsam die Donau hinauftuckerte. Wahrscheinlich transportierte das Schiff Kohle. Der Massenguttransport auf der Donau florierte. Siegfried brauchte seinen Mitarbeiter gar nicht ansehen, er spürte förmlich dessen Nervosität.

„Schön, der Herbst, nicht wahr. Die Rotbuchen am Leopoldsberg, schnell dahinziehende Wolken, geordneter Verkehr auf der Donauuferautobahn. Schön, nicht wahr?“

 

Heribert Szemeliker räusperte sich, rote Flecken bildeten sich auf seinen Wangen.

„Ja, sehr schön, Herr Rössner, sehr schön.“

Mit einem schnellen Schwenk auf seinem Drehstuhl wandte sich Siegfried seinem Mitarbeiter zu. Er musterte den Mann Mitte fünfzig. Seit acht Jahren arbeitete Szemeliker als Key Account Manager für das Unternehmen, er sprach fließend Spanisch, immerhin war er mit einer Spanierin verheiratet, und hatte sich bei der Betreuung der spanischen und lateinamerikanischen Kunden viele Jahre gut bewährt. Was besonders in Südamerika gut angekommen war, war Szemelikers praktizierter Katholizismus. Die richtigen Soft Skills für die richtigen Einsätze, das war das Geheimnis erfolgreichen Unternehmertums. In Russland musste man üppige Nahrung und harte Getränke vertragen, in Argentinien nutzte es, wenn man mit seinen Kunden am Sonntag in die Kirche ging und betete, in Arabien brachte es Erfolg, Frauen nicht einmal zu bemerken und erstklassigen Tee von Abwaschwasser unterscheiden zu können. Szemeliker hatte lange Zeit seine Sache gut gemacht. Zuletzt aber waren einige Schwächen aufgefallen.

„Wie waren die letzten Umsatzzahlen?“, fragte Siegfried höflich und in freundlichem Tonfall.

Szemeliker spürte ein Frösteln. „Nun, man könnte sagen: Alles in Ordnung. Die Gruppe Madrigas hat solide Investitionen getätigt. Herr Gonzalez war ein Problem, er wurde von Baxter & Co massiv umworben. Das Verfahren ist, ehrlich gesagt, noch in der Schwebe. Die weiteren Accounts haben sich konservativ verhalten. Ich habe hier eine Übersichtsliste der Umsätze. Dann liegt der Mappe noch das allgemeine Strategiepapier bei. Wenn Sie mir eine Stunde Zeit geben, kann ich Ihnen einen tieferen Einblick in die Budgets geben. Dazu habe ich jetzt noch keine Zeit gehabt, Frau Bernhardt hat mir ja gesagt, dass Sie mich auf der Stelle sprechen wollen.“

Siegfried legte die Fingerspitzen seiner linken Hand auf die Fingerspitzen seiner rechten. Er machte keine Anstalten, die auf dem Tisch liegende Mappe seines Mitarbeiters anzusehen. Er starrte den Mann unverwandt an. Heribert Szemeliker rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Siegfried musste sich eingestehen, ein bisschen genoss er die Situation. Als Anführer musste man seine Herde auch schon mal in Angst und Schrecken versetzen können. So etwas stabilisierte Hierarchien. Und was wäre die Menschheit ohne Hierarchien? Ein Sauhaufen.

„Herr Szemeliker, Sie wissen, dass ich ein Freund klarer Verhältnisse bin, Sie wissen, dass ich nicht lange um den heißen Brei herumrede, sondern konsequent und gezielt zur Sache komme. Ich bin mit Ihrer Arbeit nicht mehr so recht zufrieden.“

Heribert Szemelikers Gesicht färbte sich rot, für einen Augenblick wirkte es, als hyperventilierte er. In jedem Fall zupfte er hektisch an seiner Krawatte herum.

„Aber, Herr Rössner, ich verstehe nicht. Meine Quartalszahlen sind doch in Ordnung. Okay, die Umsätze sind nicht signifikant gestiegen, aber auch nicht gefallen. Ich habe mich doch bewährt!“

„Unser Unternehmen ist eines der führenden seiner Art im Lande, ja, wir sind international sehr gut verankert, wir profitieren und wachsen, wir sind ein Unternehmen der Zukunft, wir sind eine kleine, sehr elitäre Gemeinschaft. Und, lieber Herr Szemeliker, unterschätzen Sie bitte nicht meinen Einblick in die Geschehnisse innerhalb meines Unternehmens. Ich weiß sehr gut, dass die Umsätze Ihrer Konten durchaus besser sein könnten, aber eigentlich keinen Grund zur Klage geben. Nur ich weiß auch, dass das nicht Ihr Verdienst ist.“

Heribert Szemeliker schnappte nach Luft.

„Ich … ich … Herr Rössner, ich bitte Sie, feuern Sie mich nicht. Mit siebenundfünfzig werde ich keinen Job mehr finden.“ Angewidert hob Siegfried die Augenbrauen. Szemeliker bettelte! So tief war er schon gesunken. Ekelhaft. Dieser Mann musste hier schnellstens entfernt werden, Siegfried sah sich in seiner Entscheidung mehr als bestätigt.

„Herr Fortin und Herr Kleiner haben Sie, so finde ich, lange genug gedeckt. Ich werde mit den beiden Herren ein ernstes Wörtchen reden müssen. Sie aber, Herr Szemeliker, sind für mein Unternehmen untragbar geworden. Sie haben Ihre Pflichten mehr als vernachlässigt, Sie widmen sich Ihren privaten Dingen, anstatt professionelle Arbeit abzuliefern. Nein, Herr Szemeliker, so geht das nicht weiter. Ich muss von meinen Key Account Managern absolute Bereitschaft, vollständige Flexibilität und höchsten Einsatz verlangen, anderenfalls wäre diese Firma in kürzester Zeit ein Fall für den Konkursrichter.“

Heribert Szemeliker sackte in sich zusammen. Siegfried fürchtete für einen Augenblick, er würde sogar in Tränen ausbrechen. Dieser Jammerlappen.

„Ich habe doch nur ein bisschen Zeit gebraucht. Für meine Familie“, flüsterte Szemeliker kraftlos.

„Die werden Sie bald in ausreichendem Maße haben.“

Szemeliker hob seinen Blick.

„Haben Sie gehört, was meiner Frau und meinem zwölfjährigen Enkel passiert ist?“

Siegfried nickte zustimmend.

„Ja, ich habe davon gehört.“

„Vor zwei Wochen ist meine Frau aus dem Koma erwacht. Im Großen und Ganzen geht es ihr wieder gut, aber das Gehirn hat vom Aufpralltrauma leider einen bleibenden Schaden davongetragen. Und mein Enkel ist nach dem schweren Autounfall querschnittgelähmt. So schnell kann es gehen, die beiden sind nur zum Einkaufen gefahren. Der Bub hätte ein neues Fahrrad bekommen sollen. Jetzt sitzt er im Rollstuhl. Ich wollte das Haus meiner Tochter barrierefrei umbauen lassen.“

Siegfried blickte auf seine Armbanduhr.

„Sehen Sie, Herr Szemeliker, jetzt können Sie sich dieser ehrenvollen Umbauarbeit höchstpersönlich widmen. Also, keine weiteren Privatgeschichten mehr, für so etwas habe ich wirklich keine Zeit. Begeben Sie sich bitte in das Personalbüro, dort erhalten Sie Ihre Papiere. Ihr Notebook und Ihre Akten sind schon sichergestellt worden, Sie kennen ja das Prozedere. Die fälligen Bonifikationen sind schon auf Ihr Bankkonto überwiesen worden, ich habe mir erlaubt, Ihre achtjährige Tätigkeit für meine Firma gebührend zu belohnen, der Handshake ist definitiv golden ausgefallen. Und jetzt, liebe Grüße an die Familie und gehaben Sie sich wohl, Herr Szemeliker.“

Der Mann erhob sich, grüßte und schlurfte mit hängenden Schultern zur Tür hinaus.

Siegfried packte die Mappe, welche Szemeliker mitgebracht hatte, und warf sie in den Papierkorb. Er sinnierte. Sollte er im Hotel Sacher dinieren? Oder doch in diesem schicken neuen Lokal in Klosterneuburg? Wie hieß das Lokal doch gleich? Egal, er wusste ja, wo es lag, und dort würde er nicht einmal reservieren müssen, dort würde man ihm umgehend einen Tisch freimachen, selbst wenn man dafür andere Leute während des Essens unvermittelt vor die Türe setzen müsste. Und da gab es ja auch eine auffallend hübsche Kellnerin, deren nähere Bekanntschaft zu machen sich gewiss lohnen würde.

Sein Privathandy klingelte. Er schaute auf die Anzeige. Katharina rief an. Was wollte sie schon wieder? Bestimmt wieder irgendeine lästige Kleinigkeit. Ehefrauen, so waren sie eben. Seufzend hob er das Telefon an das Ohr.

„Kathi, mein Schatz, was ist so wichtig, dass du mich im Büro anrufst?“

„Ich bin wunschlos glücklich!“, rief Konrad.

Luis hatte sich nicht lumpen lassen und war mit zwei prall gefüllten Einkaufstaschen die Treppe hochgestiegen. Nun breitete sich eine Landschaft von Leckereien auf seinem Küchentisch aus, Käse, Müsli, Studentenfutter, Brot, Semmeln, Butter und verschiedene Kräuteraufstriche, Obst und Tomaten, Orangensaft und Schwarztee.

„Du hast keine Wurst gekauft“, stellte Mona fest und blickte Luis mit ihren großen Augen an.

„Ja, wenn du Wurst willst, musst du sie selbst kaufen und anderswo essen. Gibt es bei mir nicht.“