Das Nadelöhr

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Der Rädelsführer wog das Zigarettenpäckchen in der Hand. Ein bedeutungsvolles Stichwort war gefallen.

„Stress mit Kieberern?“

„Miesen Stress.“

„Diese Motherfucker! Aufs Maul?“

„Ja, aber einem habe ich die Eier zerquetscht.“

Mona präsentierte triumphierend den Stinkefinger. Der Rädelsführer überlegte, ohne dabei nur einen Augenblick ruhig stehen zu können.

„Okay, Friedenspfeife. Aber in einer Stunde bist du fort! Deal?“

Mona erhob sich und klatschte auf die angebotene Hand.

„Deal.“

Die Zigarettenpackung lief durch die Runde, Mona gab den Jungs Feuer, sie nahm sich auch eine, obwohl ihr diese ekelhafte Qualmerei auf die Nerven ging. Rauchschwaden stiegen hoch.

„Aber wenn du morgen wieder hier bist, gibt es den Krieg!“, warnte der Rädelsführer.

Mona hob beschwichtigend die Hände und steckte die Zigarettenpackung wieder ein. Die vier zappelten in die Dunkelheit davon. Mona warf die Zigarette fort und zertrat sie. Mit säuerlicher Miene setzte sie sich wieder auf die Bank. Immer der Ärger mit den Kerlen. Nervig, echt nervig. Und der Scheißzahn machte noch mehr Probleme.

/ / /

„Die CO2-Fanatiker wollen doch nur ihr Spießertum durchboxen. Lustfeindlicher Faschismus, Birkenstock und Tofu für alle, Jute statt Plastik mit der Peitsche! Diese Gesinnungsterroristen kommen jetzt auch noch mit Rauchverboten. Gesetze, Verbote und Gutmenschenhorror überall. Und dabei ist die ganze Klimawandelgeschichte erstunken und erlogen. Das ist wissenschaftlich eindeutig erwiesen. Der IPCC ist doch nur der verlängerte Arm der Ökofaschisten.“

Luis zog an seinem Joint, inhalierte tief und blies dann den Rauch in die verqualmte Luft seines Arbeitszimmers. Alles drehte und bewegte sich vor ihm. Wie immer nach einer Pleite hatte er sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, die drei Rechner hochgefahren, den Subwoofer angeworfen, ein paar stimmige MP3-Dateien für den Anlass gesucht und gleich drei Joints gedreht. Der letzte der drei verqualmte gerade zwischen seinen Fingern. Und er hatte den IP-Anonymizer gestartet und seine Lieblingssites angesteuert. Machte er schon seit ein paar Jahren so. In mieser Stimmung war es einfach tröstlich, mit ein paar gezielt abgeworfenen Trollbomben in den Foren für Turbulenzen zu sorgen. Fand er amüsant.

Die in Endlosschleife aus den Boxen wütenden und rumorenden polnischen Hardrocker von Riverside machten alles richtig für ihr Geld, waren grantig, laut, schnell, virtuos, einfach fies. Gut so. Luis schüttelte den Kopf, wippte mit den Zehenspitzen, ansonsten befand sich sein Körper in seinem ergonomisch perfekt konstruierten Schreibtischstuhl in stabiler Ruhelage. Ein grimmiges Grinsen legte sich in Luis’ Miene. Treffer! Das erste empörte Reply zu seinem Posting trudelte ein. Man musste nur wissen, wo man trollte. Auf einer Website von grünen Kapitalismuskritikern brachte IPCC-Bashing einfach immer erstklassige Resultate. Und schon das nächste Reply kam. Geil! Heute war ja echt mal Traffic auf dieser Site.

Luis zerdrückte den Joint im Aschenbecher und klickte die Site eines Autofahrerclubs in den Vordergrund. Kurz musste er überlegen, mit welchem Nickname er hier agierte. Dann liefen seine Finger in Hochgeschwindigkeit über die Tastatur. Er war ein Künstler, ein großer Virtuose, zumindest in seinen Augen. Künstler sind ja erst dann groß, wenn das Publikum zu Jubelstürmen hingerissen ist. Ein finsteres Lachen rollte aus seinem Zwerchfell. Und Jubelstürme erntete er regelmäßig für seine Postings.

„eines muss man in diesem zusammenhang sagen – und das ist in mehreren wissenschaftlichen studien ganz klar bewiesen worden – männer, deren autos an die zwei tonnen wiegen und mehr als zweihundertfünfzig ps haben, sind statistisch gesehen die wichtigsten kunden von viagra. diesen schlaffis fehlt einfach die raketenkraft zwischen den beinen, deshalb brauchen sie ja ihre autokrücke.“ Der Hinweis auf wissenschaftliche Studien, wie es sich für einen echten Troll gehörte natürlich frei erfunden oder halsbrecherisch fehlinterpretiert, war der Treibstoff der Postings. Daran erhitzten sich immer wieder die Gemüter. Luis schmunzelte, ein oder zwei Postings noch und die peinliche Situation in diesem Lokal mit dieser – wie hieß sie noch? – Luis konnte sich partout nicht erinnern, klar, nach drei Joints war die Sache mit dem Erinnern nicht ganz so leicht, egal, mit dieser frustrierten Bürotante würde vergessen sein.

Luis warf seinen Kater vom Schoß, worauf dieser mit hochgerichtetem Kopf empört davon marschierte, griff nach der Colaflasche und wartete, beide Browserfenster im Blick, auf Replys.

Seine Miene gefror.

„Arschloch. Leck mich, du Unsympathler.“

Solche Leute konnte Luis auf den Tod nicht ausstehen. Das dritte Reply auf sein IPCC-Bashing kam von einem Feind.

„><((((°>“

Das war es. Der ASCII-Fisch. Da hatte ihn einer durchschaut und gekontert. Luis knurrte vor sich hin. Ja, gut, so toll war die Bombe nicht gewesen, schon sehr durchsichtig. Scheiß drauf, er hatte einfach etwas Frust ablassen müssen, und das schnell. Heute war er nicht in Hochform, konnte auch bei Virtuosen vorkommen.

Sein Magen knurrte. Luis schaute auf die Uhr. Ein paar Minuten vor elf Uhr nachts. Bald würden die echten Gruftis und Zombies ins Netz einsteigen, und mit diesen Leuten konnte man einfach keinen Spaß haben. Geisteskranke, Spinner, Soziopathen, nein, da hatte man als ehrlicher Troll einfach keinen Spaß. Also würde er das machen, was er um diese Zeit immer tat, er würde bis zum Morgengrauen zocken, auf einen Spielserver auffahren und ballern, basteln oder bluffen. World of Warcraft? Luis kratzte sich am Kopf. Warum nicht? Hatte er schon lange nicht mehr gespielt. Oder sollte er an dem Onlineshop weiterarbeiten, den er für diesen bescheuerten freiberuflichen Pharmareferenten erstellte? Luis verzog angewidert die Miene. Nur keine Arbeit heute. Der Relaunch der Website sollte erst in einem Monat hochgeladen werden, da hatte er Zeit genug bis dahin. Und wenn er das Datum nicht halten konnte? Egal! Der Tablettenkeiler sollte ruhig selbst mal versuchen, funktionierende CGI-Skripts zu schreiben. Dieser Koffer. Auch so ein Unsympathler. Warum Luis sich das überhaupt antat, für solche Arschgeigen zu arbeiten. Das Geld brauchte er nicht. Also nachts zocken. Jetzt aber das Wichtigste: Essen.

Mühsam hob er sich aus dem Stuhl und torkelte zum Fenster. Erst Mal frische Luft, dann der Kühlschrank. Luis fluchte in den geöffneten Kühlschrank hinein. Wegen der Aufregung um das total vergebliche Date mit dieser alten Kuh hatte er komplett auf den Einkauf vergessen. Der Dönerstand am Karmeliterplatz musste wieder einmal als Rettungsanker herhalten. Träge stieg er in seine ausgelatschten Sportschuhe, schlüpfte in die Jacke und zog die Mütze über den Kopf. Ein kurzer Blick in den Spiegel. Ein Nerd in Daunenjacke und Jogginghose. Luis schnupperte an seiner Jacke. Irgendwann sollte er die Jacke in die Waschmaschine stopfen. Morgen vielleicht.

/ / /

Luis steckte den in Alufolie gewickelten Dürüm mit Falafel in die Innentasche seiner Jacke. Da würde er bis nach Hause warm bleiben. In den Döner mit Schafkäse biss er herzhaft hinein, so dass die Joghurtsoße schwallartig hervorquoll. Mit vollem Mund brabbelte er Bulut einen Gruß zu, dieser winkte seinem Stammkunden zu und widmete sich der nächsten Bestellung. Die Dönerbude vor der Karmeliterkirche lief gut und Bulut machte eine sehenswerte Show beim Zubereiten der Fladenbrote, jonglierte mit seinem Werkzeug, schärfte das Fleischmesser martialisch wie ein osmanischer Janitschar vor dem Nahkampf mit einem wirklich bemitleidenswerten Ritter der Christenheit und sang mit kräftigem Bariton zu den dröhnenden anatolischen Volksliedern aus dem CD-Player. Zumindest bis zehn Uhr abends. Danach musste er die Musik leiser stellen. Die argwöhnischen Anrainer mit vorwiegend germanischer Ahnenreihe achteten strikt auf die Einhaltung von Recht und Ordnung und griffen in Sekundenschnelle zum Telefon, um die Polizei über allfällige Ruhestörungen zu informieren. Luis entfernte sich langsam von der Dönerbude, mampfte sich mit Hingabe in das Brot, schmatze und schluckte. Seine Wohnung lag nur ein paar Schritte vom Karmeliterplatz entfernt, da, die Taborstraße runter, um die Ecke in die Rotensterngasse und im Haus, in dem sich Lhotzkys Bücherbuffet befand, die letzte freie Buchhandlung diesseits des Nordpolarmeeres, die Treppe hoch im letzten Stock. Luis’Wohnung war geräumig, für einen Junggesellen mehr als genug Platz, einhundertzwanzig Quadratmeter kostbarer urbaner Wohnraum für drei Computer, eine Einbauküche, einen eigenwilligen semmelbraunen Kater namens Wladiwostok und einen Mann mit unstetem Schlafrhythmus. Bar ausbezahlt. Sein Eigentum. Luis hatte sich gleich bei der ersten Besichtigung der Immobilie in das Viertel, das Haus und vor allem in die Dachgeschosswohnung verliebt, von allen Anfang an hatte er die Aussicht vor Augen gehabt, in diesen Räumen die nächsten Jahrzehnte seines Lebens verbringen zu können. Die Geldüberweisung war von seinem Erbteil schnell durchgeführt worden, also hatte er das mit Stempel und Siegel verbriefte Recht erhalten, sich in diesen vier Wänden niederzulassen. An Einrichtungsgegenständen benötigte er nicht viel, Küchengeräte, Tisch und Sessel, ein paar Kästen, eine Couch, ein Bett, durchwegs einfache und schlichte Holzmöbel, die er selbst im Instantmöbelhaus ausgesucht, abgeholt und zuhause montiert hatte. Nur der Schreibtischstuhl war von erlesener und beständiger Qualität, immerhin war dieser der wichtigste Einrichtungsgegenstand seiner Bleibe.

Luis stockte.

Schnell schluckte er den letzten Bissen Döner und wischte sich notdürftig die Finger an der Serviette ab. Zwanzig Meter vor ihm stand ein Mädchen auf dem Gehsteig und krümmte sich. Vor Schmerzen? Luis sah auch den Sandler in vierzig Meter Entfernung, der ebenfalls das sich krümmende Mädchen entdeckt hatte.

 

Eine Spinnerin? Eine Drogensüchtige? Das war halt der Nachteil dieses Viertels, nachts trieb sich hier allerlei zwielichtiges Volk umher. Luis rammte seine Hände in die Taschen seiner Jacke und zog den Kopf ein, er beschleunigte seinen Schritt und wollte flott an dem auffälligen Mädchen in ihren Lumpenklamotten vorbeihuschen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er sie.

„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“

Die Stimme des Mädchens überschlug sich. Luis sah es aus nächster Nähe. Sie riss sich mit bloßen Händen einen Zahn aus dem Gebiss! Mitten auf der Taborstraße. Um dreiundzwanzig Uhr siebzehn des zweiundzwanzigsten Oktobers. Eine Verrückte!

/ / /

Mona gaffte auf den Teil von ihr, der sich eben von ihr gelöst hatte und nun ein unabhängiges Leben zu führen beschlossen hatte. Sie zitterte. Sie fühlte, wie der Schmerz in ihrem Kiefer verebbte. Eine Folge des Adrenalinausstoßes? Als Kind hatte sie sich drei ihrer wackeligen Milchzähne selbst gerissen, das hier war aber kein Milchzahn, das hier war ein tadellos gepflegter, kariesfreier Backenzahn, und er lag auf ihrer flachen Hand lag. Der Schmerz war fort! Endlich. Doch ihr Mund füllte sich. Mona spuckte einen ganzen Schwall von Blut auf das Trottoir.

Meine Güte, so viel Blut!

Mit flauem Gefühl starrte sie zuerst in die große Blutpfütze, dann in die weit aufgerissenen Augen eines zerzausten Sandlers und in das fassungslose Gesicht eines blöden Kerls, den man aus eintausend Meter Flughöhe ansah, dass er zu viel vor dem Computer herumhing. „Was ist? Was glotzt ihr so blöd? Arschlöcher.“

/ / /

Der alte Mann stellte schnell seine Plastiksäcke an die Hausmauer und stützte die junge Frau. Er schaute in ihre Augen, die zusehends die Orientierung verloren. Blut floss über ihre Lippen, tropfte auf die Kleidung. Ihre Knie wurden weich.

„Los, pack an! Sie kollabiert.“

Luis überlegte, ob er sich schnell von hier verabschieden sollte, entschied sich aber spontan dagegen. Er griff der jungen Frau unter die rechte Schulter, die linke stützte der Sandler. Meine Güte, schoss es Luis durch den Kopf, der Kerl stank gewaltig.

„Der plötzliche Blutverlust. Sie hat einen Schock. Sie muss sich hinlegen, damit sich ihr Kreislauf wieder stabilisiert.“

Konrad Ehgartner schaute sich hektisch um. Keine rettende Parkbank in der Nähe, überall nur kalte Mauern, beleuchtete Schaufenster und parkende Autos.

„Sie hat sich einen Zahn ausgerissen“, stammelte Luis.

Konrad nickte mit säuerlicher Miene.

„Das war unschwer zu übersehen.“

„Sie hat sich mit den Fingern einfach so einen Zahn ausgerissen.“

„Ja, wie gesagt, es war kaum zu übersehen.“

Luis rüttelte mit der freien Hand an einem seiner Backenzähne.

„Das geht doch gar nicht so einfach.“

Konrad schüttelte verärgert den Kopf.

„Bitte keine nutzlosen Selbstversuche jetzt, wir müssen ihr helfen. Sie muss sich hinlegen und die Wunde muss versorgt werden. Hast du ein Mobiltelefon?“

Luis war vom praktischen Verstand und der Nüchternheit des Sandlers überrascht, obwohl dieser entsetzlich nach billigem Schnaps stank.

„Äh, ja, ich hab schon eines.“

„Wie wäre es, wenn du dann nicht planlos die Gegend frequentiertest, sondern einen Krankenwagen riefest?“, keifte Konrad.

Luis zuckte mit den Schultern.

„Geht jetzt nicht. Habe mein Handy in der Wohnung vergessen.“

Konrad verzog leidend die Miene.

„Wozu gibt es denn Mobiltelefone, wenn man deren primäre Fähigkeit, nämlich jederzeit mobile Begleiter des Menschen zu sein, durch Schlamperei einfach ignoriert?“

Luis war empört. Von einem Sandler mit verfilztem Bart brauchte er sich doch nicht anpöbeln zu lassen.

„Na, und warum nimmst du nicht dein Handy und rufst den verflixten Krankenwagen?“

Konrad zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

„Ich?“

„Ja, du.“

„Aber ich bin doch obdachlos, mittellos und vereinsamt. Ich besitze so ein Ding gar nicht.“

Mona rappelte sich hoch.

„He, ihr zwei Koffer, haltet mal die Goschen und betatscht mich nicht.“

Mona stieß Luis und Konrad von sich und richtete sich auf. Mit der Folge, dass sie nun endgültig zusammensackte. Die beiden fingen sie wieder.

„Wir können sie hier nicht liegen lassen“, stellte Konrad kategorisch fest.

Luis schaute erstmals richtig in das Gesicht der jungen Frau, sah das Blut auf ihren Lippen und dem Kinn, ihre lieblichen Gesichtszüge, er fühlte ihre starke weibliche Aura, ihre Vitalität und Schönheit, er schaute in ihre Schutz und Hilfe suchenden Augen. Er sah sich affiziert und entschloss sich schnell.

„Ich trage sie in meine Wohnung. Dort kann sie sich hinlegen, und wenn sie wieder halbwegs in Ordnung ist, fahre ich mit ihr ins Krankenhaus.“

Konrad klopfte Luis mit der freien Hand anerkennend auf die Schulter.

„Das ist ein Wort, junger Mann. Ein brauchbarer Plan.“

Luis schleppte Mona davon.

„Mein Zahn!“, lallte sie. „Bitte. Mein Zahn!“

Konrad bückte sich und hob den mitten in die Blutlacke gefallenen Zahn auf, packte seine Plastiksäcke und folgte den beiden in die Rotensterngasse.

„Da, nimm den Schlüssel aus der Jackentasche. Genau. Der Schlüssel mit dem gelben Plastikteil. Genau.“

Konrad sperrte das Haustor auf, stemmte sich dagegen und ließ die beiden eintreten.

„Jetzt rauf. Letzter Stock. Kannst du Stiegen steigen?“, fragte Luis Mona.

„Jaja.“

Dreiundneunzig Stufen später keuchte Luis, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich auf den Boden seines Badezimmers sinken. Mona saß auf einem Hocker an der Waschmuschel und wusch sich das Blut aus dem Gesicht. Konrad stand hinter ihr und hielt den verlorenen Zahn wie ein heiliges Relikt ehrfürchtig in der flachen Hand.

Er starrte entrückt auf den Zahn.

„Eine Prozession der Vergänglichkeit! Das schutzbedürftige Fräulein, der wackere Geselle und der alte Narr. Das alles hat eine tiefere Bedeutung. Ich bin mir dessen sicher. Das muss ein bedeutungsvolles Zeichen sein!“

Mona schaute kurz über ihre Schulter.

„Wenn du noch einmal Fräulein zu mir sagst, breche ich dir die Nase. Und jetzt gib mir meinen Zahn.“

Sie reinigte den Zahn im Wasserstrahl.

Luis’ Atmung stabilisierte sich. Er fasste seine zwei merkwürdigen Gäste ins Auge.

„Also, soll ich jetzt einen Rettungswagen rufen oder nicht?“

Mona winkte ab.

„Ich komme schon klar. Kein Krankenwagen.“

Zur Bestätigung ihrer Aussage erhob sie sich vom Hocker und schaute an sich herab. Sie wankte nicht mehr, der Schock war überwunden. Ihre Weste und Hose waren blutbesudelt. Sie starrte auf die Waschmaschine neben der Duschkabine.

„Sag, geht das, dass ich meine Klamotten da mal reinstopfe?“

Luis folgte ihrem Blick. Er traute seinen Ohren nicht. „Nein!“, rief er empört aus. „Das ist meine Waschmaschine. Deinen Krempel kannst du in deiner Waschmaschine waschen.“

Mona verzog ihre Miene.

„Wackerer Freund“, gab Konrad zu Bedenken, „ich nehme an, dir sind die Lebensumstände deines jungen Gastes nicht ganz geläufig. Ich glaube, die junge Dame, die wie alle Amazonen partout nicht als Fräulein bezeichnet werden will, nennt keine Waschmaschine in einem bürgerlichen Haushalt ihr Eigen, schlicht weil sie in keinem solchen Haushalt lebt, sondern, wie ich an ihrem Erscheinungsbild zu erkennen glaube, auf der Straße. Ich übrigens auch.“

Konrad grinste Luis auffordernd zu.

„Ihr könnt mich mal! Das ist meine Wohnung. Hier sage ich, was und wann in die Waschmaschine gestopft wird, verdammt noch mal.“

Konrad nickte bestätigend.

„Völlig richtig! Wir beide erkennen deinen Besitz und dein Gastgeberrecht voll und ganz an, und eben deshalb wäre es uns eine große Ehre und ungeteilte Freude, unsere Kleider, die wahrlich nicht im besten Zustand sind, hier und jetzt einer gründlichen Reinigung zu unterziehen. Na, gib deinem Herzen einen Ruck!“

Luis war völlig perplex. So eine bodenlose Frechheit. Er hatte gute Lust, die beiden hochkant hinauszuwerfen.

„Hast du sonst einen besseren Plan für den heutigen Abend?“, maulte Mona.

„Also … das ist …“, stammelte Luis. „Aber der Waschgang dauert mindestens eine Stunde!“

Konrad lachte glucksend.

„Welche du in bester Gesellschaft verbringen könntest, indem du Tee servierst!“

Konrad und Mona nickten einander zustimmend zu.

„Seid ihr komplett verrückt?“

„Klaro!“, bestätigte Mona. „Aber während ich dusche, müsst ihr aus dem Badezimmer raus. Wer spannt, bekommt einen Tritt in die Eier. Legst du mal ein paar von deinen Klamotten raus?“

/ / /

„Ah, diese Labsal für Leib und Seele. Was für ein Hochgenuss in diesen finsteren Zeiten der Unsicherheit. Mein Freund, dieser Tee ist das Beste, was mir in den letzten Wochen widerfahren ist. Gehaltvoller Dampf aus wohlgefüllter Tasse, eine Wonne, eine Wonne.“

Konrad tauchte wieder seine Nase in die Tasse und sog das Aroma des kräftigen Assamtees auf. Er schielte zu einem seiner Plastiksäcke, die von Wladiwostok skeptisch inspiziert wurden.

„Vielleicht würde ein gezielter Tropfen den Tee geschmacklich noch abrunden. Bekanntermaßen schafften die frühen Bergsteiger und Naturforscher die erste Überquerung der Kordilleren nur durch wohldosierte Abrundung des Tees mit geistigem Gehalt.“

Konrad erhob sich vom Tisch in der geräumigen Küche, kramte seine Schnapsflasche hervor und goss einen Schuss in die Tasse. Mona musterte den alten Mann scheel. Frisch geduscht und bekleidet mit einer Jogginghose und einem Sweatshirt aus Luis’ Fundus, sah er fast nicht mehr wie ein völlig verwahrloster Sandler aus. Eher wie ein zerzauster älterer Patient der offenen Psychiatrie am Steinhof. Mona kannte die Leute vom Steinhof, sie hatte Chiara, ihre beste Freundin aus der autonomen Szene, nach deren Selbstmordversuch ein paar Mal dort besucht.

„He, Opa, du redest irgendwie total komisch. Ich meine, für einen Sandler total komisch. Aber sonst auch.“

Konrad nahm einen tiefen Schluck des veredelten Tees, stellte theatralisch seine Tasse ab und nickte Mona breit lächelnd zu.

„In der Tat, junge Frau, könnte ich dein Großvater sein, stolze dreiundsechzig Dienstjahre als Wasserträger des Lebendigen weile ich hienieden in diesem Jammertal, doch leibliche Enkel waren mir nicht vergönnt, denn es mangelte schon an der Generation zuvor. Meine Frau und ich konnten keine Kinder kriegen, so blieb mir nach dem Tod von Hilde nur die Einsamkeit und die Literatur. Während nun die eine in den fünf Jahren meines Witwerseins stetig gewachsen ist, hat die andere sich verflüchtigt. Bedeutungslos ist sie mir geworden, die ehedem ach so schöne Literatur, viel lieber huldige ich dem Schnaps. Doch um meine alte Profession mit der ihr gebührenden Verachtung zu strafen, spreche ich, wann immer mir es möglich ist, in diesem Stil, der mir auch in jungen Jahren weder Erfolg noch Anerkennung brachte.“

Konrad gurgelte vor Lachen und nahm einen Schluck Tee mit billigem Obstbrand.

„Er spinnt“, stellte Mona an Luis gewandt kurz und bündig fest. „Klingt jetzt schon so“, bestätigte Luis.

Konrad gestikulierte bedeutungsvoll.

„Und um mich in dieser erlauchten Runde gescheiterter oder zum künftigen Scheitern längst auserkorener Existenzen bekannt zu machen. Konrad Ehgartner. Früher nannte man mich den Poeten aus der Brigittenau. Mit wem habe ich das seltene Vergnügen?“

„Ich heiße Luis.“

„Mona.“

„Liebe junge Freunde, Mona und Luis, ich danke euch für diese schöne Stunde, doch ich gebe unumwunden zu, dass ich eure Gegenwart nur ertrage, weil ich ausreichend betrunken bin. Nüchtern bin ich seit Jahren mürrisch, unnahbar und diffizil, auch so freundlichen Gastgebern wir dir, geschätzter Luis, und so anmutigen Gesprächspartnerinnen wie dir, liebe Mona, gegenüber.“

Wladiwostok machte einen Satz. Er hatte Monas Schoß erwählt, um sich zu platzieren und in die Versammlung der Zweibeiner einzumischen. Neugierig schaute er sich um.

„Schöner Kater“, sagte Mona und kraulte das Fell des Tieres. „Wie heißt er?“

„Darf vorstellen, Wladiwostok. Besitzer dieser Wohnung. Ich habe hier nur Wohnrecht, weil ich das Futter bringe und die Katzenkiste sauber mache.“

 

Konrad stemmte seine Ellbogen auf den Tisch und fasste Mona scharf ins Auge.

„Werte Freundin, willst du mir erklären, warum du mitten auf der Taborstraße mit blanken Fingern einen Zahn aus deinem Kiefer gerissen hast? Machst du so etwas öfter? Leidest du am Ende unter schwerem Skorbut, wie die alten Seefahrer nach wochenlanger Flaute im Stillen Ozean?“

„Täte ich jetzt auch gern wissen“, warf Luis ein.

Mona schüttelte ihr frischgewaschenes Haar.

„Ach Blödsinn. Skorbut. Nein. Ich habe von einem Kieberer eine aufs Maul gekriegt.“

Den beiden Männern standen die Münder offen.

„Der Scheißzahn hat schon den ganzen Abend total gewackelt. Und mörderisch weh getan. Der hat raus müssen.“

Die drei starrten für eine Weile auf den Zahn, der mitten auf dem runden Küchentisch lag.

„Von einem Kieberer?“, fragte Luis ungläubig nach. „Von einem echten Kieberer?“

„Ja, von einem echten. Was denn sonst? Die haben heute in der Lindengasse unser autonomes Haus gestürmt, und wie immer haben die Bullenschweine Vollgas geknüppelt, getreten und geschlagen.“

Konrad nickte heftig.

„Ja, diese Begebenheit ist mir bekannt. Ich bin heute Nachmittag dort vorbeigekommen und habe das Großaufgebot der Polizei gesehen. Doch schien mir die Räumung eher ruhig abgelaufen zu sein. Die Polizei schien nicht zu unsinniger Gewalt gegriffen zu haben. Die meisten jungen Leute sind friedlich aus dem Haus geleitet worden.“

„He, Arschloch, mir haben sie aber aufs Maul gehauen! Da liegt der Beweis! Schau mal meine Zähne an! Sind die so kariös wie deine? Schau mal!“

Konrad erhob sich umständlich und spähte in den weit geöffneten Mund. Er nickte nachdenklich.

„Fürwahr, fürwahr, ein bis auf diese eine Lücke makelloses Gebiss. Mir scheint, deine Mär ist nicht erfunden.“

„Sicher nicht“, keifte Mona.

Konrad setzte sich wieder.

„Und auch muss gesagt werden, dass die Wunde in deinem Mund recht gut aussieht. Die Blutung ist gestillt, die Wundränder sind sauber und glatt. Wenn du in den nächsten Tagen Obacht gibst und deine Mundhöhle sauber hältst, wird sich die Wunde nicht entzünden und schnell vernarben.“

Luis klatschte seine Handflächen auf den Tisch und katapultierte sich hoch.

„Mein Dürüm mit Falafel! Verdammt, jetzt ist er bestimmt schon kalt.“

Damit eilte er in das Vorzimmer, griff in die Innentasche seiner Jacke und kehrte mit dem Fladenbrot in die Küche zurück. Er packte es aus der Alufolie und wollte schon herzhaft hineinbeißen, doch etwas hielt ihn davon ab. Seine Gäste gafften ihn unverhohlen an. Luis verdrehte die Augen.

„Jetzt sagt bloß, dass ihr auch noch meinen Dürüm mit Falafel wollt!“ Mona zupfte an dem ihr viel zu großen Pullover herum.

„Na ja, wenn du so fragst. Viel habe ich heute noch nicht zu beißen bekommen.“

„Und du?“, fragte Luis Konrad unwirsch.

„Regelmäßige Nahrungsaufnahme zählt nicht zu meinem Jobprofil.“

„Jobprofil? Was hast du für ein Jobprofil?“, fragte Luis gallig.

„Junger Freund, nur weil ich arbeitslos, obdachlos und laut Diagnose dieses inkompetenten Halbtrottels von Hausarzt, den ich berechtigterweise seit Jahren nicht mehr besuche, psychisch krank bin, nämlich an chronischer Depressivität mit akzentuiertem Suchtverhalten leide, worunter sich jeder Esel vorstellen möge, was er wolle, heißt es noch lange nicht, dass ich des gegenwärtigen hochgejubelten Jargons nicht mächtig wäre. Ich weiß sehr wohl, was ein Jobprofil ist, schließlich leben wir in der Wegwerfgesellschaft, und man soll nicht glauben, was alles in den Mülltonnen dieser Stadt zu finden ist. Auch glänzende Wirtschaftszeitungen, die mit ausgewählten Fotomodellen in eleganten grauen Anzügen und Kostümen ihre Titelbilder schmücken, um die Schönheit und Würde des heutzutage als Wirtschaftssystem verbrämten Kannibalismus zu bejubeln. Ich lese sehr viel in den Zeitungen und Zeitschriften, die ich wohlfeil aus dem Papiermüll ziehe, daher kenne ich die Welt sehr gut, weiß also bestens Bescheid über Termini und Sachverhalte wie Jobprofil, Aktienkurs, Hedgefonds oder Selbstmordattentat.“

Luis pfiff durch die Zähne, sprang hoch, legte den Dürüm auf einen Teller und schnitt ihn gerecht in zwei gleich große Teile. Er servierte das nicht allzu üppige Abendessen seinen Gästen.

„Darf es sonst noch etwas sein? Vielleicht wollt ihr meine Zahnbürste benützen? Oder in meinem Bett übernachten?“, fragte Luis mit triefendem Sarkasmus in der Stimme.

Mona warf Luis ein bezauberndes Lächeln zu.

„Mir wäre egal, wenn er“, sie zeigte auf Konrad, „zu dir ins Bett steigt, bei Jean-Claude gehen auch die Jungs pausenlos rein und raus, aber mir reicht eigentlich dein Sofa.“

Konrad winkte generös ab.

„Aber, aber! Ich bin gar nicht wählerisch, ich kann in dieser gut geheizten Wohnung sehr wohl auf dem Teppich schlafen.“

/ / /

Bedächtig rührte er den kleinen Mokka. Wie immer war es nur eine Prise Zucker gewesen, mit der er den duftenden Kaffee veredelt hatte. Der Zucker durfte nicht auffallen, er musste nur die natürliche Bitterkeit der frisch gemahlenen und aufgebrühten Kaffeebohnen ein wenig mildern, so dass die Nervenzellen auf der Zunge den Wohlgeschmack empfangen konnten. Siegfried Rössner liebte guten Kaffee und er achtete strikt auf die richtigen Sorten, auf die adäquate Zubereitung und den stilvollen Genuss. Zumindest in seinem Büro achtete er darauf, wenn er zu Geschäftsterminen außer Haus war, in Düsseldorf, Mailand, Dubai oder wie so häufig in New York, dann durfte er nicht wählerisch sein, dann musste er auch schon mal ein halbgares Ekelgesöff dem Geschäftspartner zuliebe schlucken. Hier aber, in seinem Reich, in seinem Büro, in seiner Wirkungsstätte, lag es ganz und gar an ihm, gehaltvollen Kaffee zu kredenzen. Sich selbst und seinen Geschäftspartnern. Siegfried schmunzelte in sich hinein. Manche Geschäfte waren hier in diesen Räumen nur deswegen zustande gekommen, weil er seinen Gästen eben jene ausgewählten und auch höchst kostspieligen Kaffeegenüsse offeriert hatte.

Der erste Schluck war der wichtigste, das entscheidende Kriterium für den vollendeten Kaffeegenuss oder die gustatorische Pleite. Er nippte an der Tasse aus feinem Porzellan. Und schloss die Augen. Er fühlte die glühende Sonne über sich, spürte den feuchtheißen Wind über die Bäume streichen, hörte das ferne Meckern der Ziegen und sah den hochgewachsenen dunkelhäutigen Mann sich über die Sträucher beugen. Siegfried selbst war nie in Kaffa gewesen, ja, er hatte zwar unzählige Länder bereist, doch Äthiopien hatte niemals auf seinen Routen gelegen, dennoch liebte er dieses Land, liebte die dortige Vegetation, liebte das Klima, denn dieser gesegnete Ort auf der Erde hatte der Menschheit den Kaffee beschert. Seit Jahren schon wälzte er den Gedanken, sich in Kaffa ein paar Berge zu kaufen, um genau dort, wo der Kaffee ursprünglich herkam, eine Plantage anzulegen. So ein paar Immobilien in Äthiopien konnten ja wohl nicht die Welt kosten, er würde den Ärmel nur ein wenig schütteln müssen. Obschon er diesen Gedanken schon lange hegte, hatte Siegfried, der ansonsten schnell und effizient seine Ideen umsetzte, nichts unternommen. Die Plantage in Kaffa war so etwas wie ein Geheimplan, ein schöner Gedanke, den er sich nach einhundert Stunden Verhandlungsmarathon und acht Interkontinentalflügen vor Augen führte, um sich zu entspannen, um sich für die nächsten Herausforderungen zu rüsten, um die nächsten Geschäfte wieder erfolgreich auf Schiene zu bringen. Irgendwann, der Millionen, die täglich über seinen Schreibtisch liefen, überdrüssig, würde er diese Idee umsetzen und Kaffeebauer werden, würde sich in einem Geländewagen über seine Hänge chauffieren lassen, würde den Landarbeitern zuwinken, ihren Lieder und Gebeten lauschen und sich von einer schönen jungen Dienstmagd in bunten Kleidern den Kaffee nach der Art der Ureinwohner zubereiten lassen. Siegfried Rössner öffnete wieder die Augen. Er nickte seiner Sekretärin zu, die wie immer geduldig auf den ersten Schluck des Chefs gewartet hatte.