Romy spielt sich frei

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Eine Dynastie entsteht

Am 11. April 1852, nachmittags gegen 13 Uhr, ertrinkt im Königsberg durchziehenden Fluss Pregel ein Mann, dessen Alter im Totenbuch der Stadt auf 62 Jahre geschätzt wird. Er heißt Gottlieb Adam Adolph Retty.5 Sein Nachname findet sich in mehreren Varianten geschrieben, etwa auch Prettÿ oder Rettÿ. Geboren wurde er am 8. Oktober 1790 im etwa 120 Kilometer entfernten Rastenburg (heute: Kętrzyn/Polen). Zu seinen Lebzeiten erreichte das Königreich Preußen unter Friedrich Wilhelm II. (1744–1797) seine größte Ausdehnung. Aus dem früheren Flickenteppich aus kleinen Fürstentümern war eine Großmacht geworden, die sich durch Kriege eine militärische Vormachtstellung in Mitteleuropa sicherte. Das machtpolitische Rückgrat war eine mustergültig aufgebaute Armee, in der aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht auch Gottlieb Adam Adolph Retty Dienst tat. In den Jahren 1821 und 1822 war er Hautboist (Oboenbläser), ab 1823 Musikmeister im 1. Infanterie-Regiment der preußischen Armee, aus der er im Jahr 1832 als Invalide in Ehren entlassen wurde. Wann genau er die Stelle als Hof- und Schlossküster in der protestantischen Schlosskirche zu Königsberg einnahm, ist nicht überliefert, sicher ist nur, dass er sie bis zu seinem Tod innehatte. Es war eine gute und sichere Position, denn die Hauptstadt des Herzogtums Preußen hatte Anfang des 18. Jahrhunderts einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Nach dem Zusammenschluss der Städte Altstadt, Kneiphof und Löbenicht gelangte Königsberg durch den Handel zu wirtschaftlichem Reichtum. Holländische und englische Handelsschiffe ankerten im Brackwasserbereich des Frischen Haffs vor der Pregelmündung und tauschten dort englische Fabrikate, Wein und Kolonialwaren gegen Naturprodukte ein, die von jüdischen Händlern aus dem benachbarten Polen geliefert wurden. Ganz in der Nähe dieses kommerziellen Umschlagplatzes am Hafen lag das Haus des Riemermeisters Johann Georg Kant, dessen viertes von insgesamt elf Kindern, Immanuel Kant, im April 1724 geboren wurde und einige der wichtigsten Werke der Philosophie verfassen sollte.

Der Hof- und Schlossküster Adam Adolph Retty wurde eine Woche nach seinem Ableben, am 18. April 1852, in Königsberg beerdigt, das geht aus den Unterlagen der Altstädtischen Kirche hervor. Das sind die ersten amtlich verbürgten Angaben zu einem Mitglied der Familie Retty. Wir kennen auch die Lebensdaten seiner Gemahlin Henriette Amalie, geborene Vogel (deren Nachname in anderen Dokumenten „Vogler“ geschrieben wird). Geboren im Jahr 1801, starb sie am 8. Mai 1849, also drei Jahre vor ihrem Mann, den Dokumenten nach um acht Uhr abends im Alter von 48 Jahren an „Abzehrung“, also Tuberkulose. Beerdigt wurde sie am 15. Mai 1849, geheiratet hatte sie Gottlieb Retty mit zwanzig Jahren am 9. Februar 1821 in Königsberg. In den Sterbedokumenten ist von acht Kindern die Rede, insgesamt wurden aber neun Geburten verzeichnet. Für den Fortgang dieser Geschichte am wichtigsten ist ihr Erstgeborener, Rosas Großvater Gottlob Adolph Herrmann Retty, geboren am 12. Dezember 1821, getauft am 4. Januar 1822 nach evangelischer Tradition.6

Rudolf Retty. 1894. Rosas geliebter Vater, den sie als Heldendarsteller, „père noble“, Regisseur und Autor bewunderte.

Mag man seinen Vater ob seiner musikalischen Tätigkeit schon in den Bereich der Künstler einreihen, so beginnt mit Gottlob Adolph Herrmann die Theatertradition der Rettys. Und sie fällt in eine künstlerisch interessante Epoche: Das deutsche Theater hatte sich im 18. Jahrhundert im Zeitalter der Aufklärung immer stärker gegen die absolutistischen Königs- und Fürstenhäuser gewendet, ein bisher ungekanntes Freiheitsstreben ausgelöst und sozialkritische Stoffe auf der Bühne populär gemacht. In einer berühmt gewordenen Rede betrachtete Friedrich Schiller 1784 die „Schaubühne“ als eine „moralische Anstalt“. Schauspielerpersönlichkeiten wie August Wilhelm Iffland (1759–1814), nach dem ein ab dem 20. Jahrhundert an außergewöhnliche Schauspieler vergebener Ring benannt ist, strebten Anfang des 19. Jahrhunderts nach einer realistischen Darstellung auf der Bühne. Die Folgen des Revolutionsjahres 1848 lösten einen Theaterboom aus. Nicht nur Metropolen wie Berlin und München errichteten neue Häuser, dazu kamen an die 150 Hof- und Stadttheater, an denen auch die Rettys künftig gastieren würden.

Wann und wie Gottlob Adolph Retty Schauspieler wurde, ist nicht belegt, auf jeden Fall heiratet er seine Frau, während er 1844 am Stadttheater im schlesischen Glogau (heute: Głogów/Polen) im Rollenfach „Jugendlicher Liebhaber und Naturbursche“ tätig ist. Seine Gattin, Mademoiselle Clara Maria Johanna, geborene Presch, übt als „Jugendliche Liebhaberin und Soubrette“ denselben Beruf aus. Geboren wurde sie am 20. November 1823 in Berlin-Brandenburg als uneheliche Tochter des königlichen Hofjägers Johann Gottfried Presch und dort auch am 27. November 1823 getauft.

1845 gehen Herr und Frau Retty als „Liebhaber bzw. Liebhaberin und Chormitglieder“ vom Theater Glogau ab und werden vom Stadttheater Lübeck engagiert. Eine Volkszählung registriert Adolph (24) und Clara Retty (21), die in jenem Jahr in der Glockengießerstraße in Lübeck wohnen, und gibt bei beiden als Geburtsort Berlin an, was jedoch nur bei Clara zutrifft. In Lübeck kommt im Februar 1846 Rosas Vater Rudolph zur Welt. Drei Jahre später wird am 4. Januar 1848 in Rendsburg/Schleswig-Holstein ein zweiter Sohn geboren: Johannes Mathias Richard Retty, Rosas Onkel. 1853 ist ein Wohnverhältnis der inzwischen vierköpfigen Familie in Mannheim/Baden belegt. Wie Gottlob Adolph Rettys weiteres Leben verlief, bleibt im Unklaren, doch zumindest einige Indizien lassen sich finden. Während Frau Retty ab dem Jahr 1854 nur mehr im Fach „Mütter, komische Mütter, komische Alte“ besetzt wird, brilliert Herr Retty im Bereich „Liebhaber und Bonvivants“ – und das offenbar nicht nur auf der Bühne. Spätestens seit dem Jahr 1858 findet sich an den Theatern, an denen er engagiert ist (Flensburg, Kiel, Hamburg, Bielefeld, Dortmund, Cleve, Freiburg im Breisgau), immer ein „Frl. Ernestine Schneider“ (der Nachname ist in dieser Familiengeschichte nicht ohne Ironie), das besetzt wird als „Erste sentimentale oder tragische Liebhaberin“ – und dies vermutlich auch im Leben von Herrn Retty.

Wann und wie sich das Ehepaar offiziell getrennt hat, ist ungewiss, bestätigt ist erst ein Eintrag im Hamburger Sterberegister mit der Nr. 1349/1885. Dort steht, dass der Schauspieler am 11. April 1885 im Alter von 63 Jahren in seiner Wohnung in Hamburg, Naß 3, um 9 Uhr vormittags verstarb, wie ein Heildiener „aus eigener Wissenschaft“ bezeugt. Gottlob Adolph war lutherischer Religion und wird im Amtsregister als „ledig“ geführt, doch solche Täuschungen der Behörden waren in jener Zeit nicht schwer zu bewerkstelligen. Als sein Sohn Rudolph seine bereits schwangere Catharina am 30. Oktober 1874 in Frankfurt/Main heiratet und im selben Jahr Rosa in Hanau geboren wird, führt das amtliche Register ihre Großmutter (elf Jahre zu früh) bereits als „verwitwet“. Am 24. Februar 1886 heiratet Clara Retty in Niederrad-und-Oberrad/Hessen ein zweites Mal. Ihr Ehemann, der Expedient und vormalige Schauspieler Carl Heinrich Louis von der Ahé, genannt Berger, wurde am 25. Februar 1818 in Dresden geboren.7

Von einer kuriosen Familien-Reliquie kann Rosa später nur mehr erzählen. Sie befand sich ihren Angaben nach in einem Kästchen mit persönlichen Dingen, einer seltsamen Zeitkapsel aus dem Besitz ihres Vaters. Darin sammelte er zwei Ochsenzähne, rostige Nägel, einen abgenutzten Federkiel, ein handbemaltes Schächtelchen und einen goldenen Siegelring. Die Geschichte um diesen Ring hat ihr der Vater einmal so erzählt: Er hatte einst ein Schreiben erhalten, wonach in Mittelitalien ein Schloss samt Park als Erbgut auf ihn warteten. Auf einen nachforschenden Brief hin stellt sich heraus, dass es sich um eine Ruine samt Grundstück handelte, die mehr Investitionen erfordert, als sie je an Gewinn eingebracht hätte, weshalb eine Verzichtserklärung leicht vonstattenging. Der Ring befindet sich angeblich seit Generationen in Familienbesitz, seine Geschichte geht zurück bis ins 16. Jahrhundert, als ein Mitglied einer italienischen Familie namens Ferretti nach Russland auswanderte und sich in St. Petersburg als Porträtmaler einen guten Ruf erwarb. Dort verliebte der Italiener sich in eine Ungarin, danach siedelten ihre Nachkommen auf österreichischem Hoheitsgebiet. Wann sich der Familienname von Ferretti in Retty umgewandelt habe, sei unklar. Ein Mann aus dem Geschlecht der Ferrettis, Kardinal Giovanni Maria Mastai-Ferretti, wurde 1846 zu Papst Pius IX. gewählt. In sein Pontifikat fallen die Verkündung zweier Dogmen: jenes der Unbefleckten Empfängnis Mariens und das der päpstlichen Unfehlbarkeit. Rosa benützt die Geschichte in ihrer Autobiografie, um ihre Enkeltochter Romy in ein Verwandtschaftsverhältnis zu dem Pontifex zu rücken, fragt aber schnippisch: „Glauben Sie, daß man das dem Papst antun soll?“8

Die Historie rund um den sagenhaften Ring und somit eine Verbindung Romy Schneiders zu einem illustren Kirchenfürsten ist historisch nicht belegbar, wohl aber natürlich zu Malern, die von Italien bis nach Russland wirkten. Auf der Suche nach den italienischen Spuren der Familie Retty landet man in dem Ort Laino, einer lombardischen Gemeinde in der Provinz Como. Ab dem Anfang des 17. Jahrhunderts ist hier eine Künstlerfamilie namens Retti dokumentiert, die Arbeiten in ganz Europa ausführten. Zu ihnen gehörte Andrea Retti (auch Reddi oder Reddy geschrieben, geboren um 1595 in Laino, gestorben nach 1635 in Wien), ein italienischer Architekt und Stuckateur, der den Umbau der Stiftskirche Klosterneuburg bei Wien mitgestaltete. Lorenzo Mattia Retti (auch Retty geschrieben, geboren 1664 in Laino, gestorben 1714 in Ludwigsburg) arbeitete als Stuckateur und Architekt in Polen. Leopoldo Retti (geschrieben auch als Leopold Retty, 1704–1751) war als Architekt in Süddeutschland tätig.9 Eine direkte Verbindung zu unserer Geschichte könnte ein Dokument im Geheimen Staatsarchiv Berlin beinhalten. Aus ihm geht hervor, dass die Erben des Malers Leopold Retty aus Rastenburg/ Ostpreußen Ansprüche auf den Nachlass eines Paul Wilhelm Retty in Laino erheben. Dem Ehepaar Leopold Retty und Dorothea Retty, geborene Krausin, in Rastenburg/Kętrzyn wurden Ende des 18. Jahrhunderts mindestens drei Kinder geboren. Es wäre möglich, dass eines davon Gottlieb Adam Adolf Retty war, der 1790 in Rastenburg zur Welt kam. Urkundlich belegen lässt es sich bis dato nicht, doch würde sich dadurch manches aus den Erzählungen Rosas erklären lassen.10

 

Rosa. 1890er Jahre. Solche Blicke müssen Schriftsteller wie Arthur Schnitzler inspiriert haben.

Ihre Vorbilder: Clara Schumann und Josef Kainz

Nach all den Ausführungen rund um die Theaterfamilie Retty ist es an der Zeit, wieder zu den Zentralpersonen dieser Geschichte zurückzukehren: zu Rosa und ihren Eltern. Im Herbst 1887 tritt Rudolph Retty nach vielen Jahren an Provinztheatern ein Engagement am Deutschen Theater in Berlin an, dessen Direktor Adolph L’Arronge ist. Der Spielplan setzt auf eine wohldosierte Mischung von Klassikern und volkstümlichen Stücken, dieses Konzept machte L’Arronge zum erfolgreichsten Theaterleiter des Wilhelminischen Zeitalters. In Berlin beziehen die Rettys eine Wohnung in der Woehlertstraße 19 im dritten Stock. Rosa besucht die Höhere Töchterschule und erhält Klavierunterricht. Noch vor Mathematik, Physik, Chemie, Französisch, Geschichte, Literaturgeschichte und Musik steht „Gutes Benehmen“ auf dem Lehrplan, das sich auch in vorbildlich aufrechter Körperhaltung zeigen musste. Diese wird ihr ein Leben lang erhalten bleiben.

Rosa hat zu jener Zeit nicht vor, nach dem Vorbild ihrer Eltern den Schauspielberuf zu ergreifen, sie möchte Pianistin werden. Ihr Vorbild ist Clara Schumann, die sie auf Empfehlung des Dirigenten Hans von Bülow spielen hört. Das Konzertprogramm bleibt der jungen Rosa nicht in Erinnerung, wohl aber Claras langes, schwarzes, von einem weißen Stehkragen abgeschlossenes Kleid sowie ihr samtener Kapotthut, dessen Schleifen unter dem Kinn der Pianistin zusammengebunden waren. Die theatrale Erscheinung der damals fast siebzigjährigen Pianistin beeindruckt Rosa mehr als ihre künstlerische Leistung, sodass sie am Ende sogar zu klatschen vergisst. Bereits mit vier Jahren gibt ihr die Mutter Klavierunterricht, später engagiert man dafür die Kapellmeister jener Theater, an denen der Vater engagiert ist, darunter ist der später als Dirigent berühmt gewordene Felix Weingartner. Diesen begeistert weniger ihr Spiel, sondern viel mehr ihre Gesangskunst – er rät ihr zu einer Karriere als Opernsängerin. Ob sie dafür begabt genug wäre, wird sie nie herausfinden, denn Adolph L’Arronge beordert sie für eine Statistenrolle mit wenig Text auf die Bühne, ein Befürworter dieser Tat ist ein Schauspieler, der in ihrem Leben eine bedeutende Rolle einnehmen wird: Josef Kainz.

Sein Name ist einer der wenigen, die von den Schauspielernamen jener Zeit noch im Gedächtnis mancher gespeichert ist. Nicht zuletzt durch die Tatsache, dass ein renommierter österreichischer Theaterpreis, die Kainz-Medaille, nach ihm benannt ist. Die erste davon wird im Jahr 1958 an Rosa verliehen. Josef Gottfried Ignaz Kainz wird hundert Jahre davor in Wieselburg, dem heute in Ungarn gelegenen Mosonmagyaróvár geboren, erhält in Wien Schauspielunterricht und gelangt nach Engagements in Marburg, Leipzig und Meiningen 1880 an das Nationaltheater in München. In der bayerischen Hauptstadt muss er mehrfach Solo-Vorstellungen für einen seiner größten Bewunderer geben: den sagenumwobenen König Ludwig II. von Bayern. Ab dem Jahr 1883 ist Kainz in Berlin tätig und spätestens sein Engagement dort macht ihn zu einem der gefragtesten Schauspieler seiner Zeit, der um seinen Wert weiß und sich daher entsprechende Gagen aushandelt, die er in seinen aufwändigen Lebensstil investiert. Er brilliert als Don Carlos, Romeo, Hamlet, Richard III. und in zahlreichen anderen Hauptrollen. Was ihn über andere erhob, war wohl ein absolut originärer Stil, bei dem sich wendiger Körpereinsatz mit sensibler Darstellung verband. Den Kult rund um seine Person vergrößerte auch der Umstand, dass es zahllose Fotos von ihm gab, die ihn in unterschiedlichsten Rollen zeigten und vom Publikum eifrig gesammelt wurden. Während vor ihm „Naturkünstler“ auf ihre Begabung setzten, etablierte er eine Neuerung im Schauspielberuf, wie Egon Friedell festhielt: „Kainz hat das Moment der Arbeit in seine Kunst eingeführt, das ihr bis dahin fremd war. […] Seine Mittel waren denen vieler anderer keineswegs von Natur aus überlegen; aber sie waren mit einer bis dahin unerhörten Kraft ausgebildet, verfeinert und beherrscht.“11

Rosa mit Josef Kainz in Franz Grillparzers Die Jüdin von Toledo. 1904. „Er spielte, fern von jeder Schablone, mit einer Natürlichkeit, die sensationell wirkte“, schwärmte Rosa über ihr schauspielerisches Vorbild.

Aushangzettel des k. u. k. Hofburgtheaters in Wien. 19. 10. 1907. Dort debütierte Rosa 1891 als „Einspringerin“, 1912 wird sie schließlich zur Hofschauspielerin ernannt.

Aus heutiger Sicht ist die Verklärung von Kainz nicht leicht nachvollziehbar. Der optische Eindruck wurde nie auf Film festgehalten, die erhaltenen Schallplatten klingen für heutige Ohren zu pathetisch. Tatsächlich sind wir nicht mehr gewohnt, jenes deklamatorische Singen in der Stimme als Kunstform zu akzeptieren, im Gegensatz zum Gesang in der Oper ist uns jener Sprechstil völlig fern. Heute muss Theatersprache „natürlicher“ klingen, egal, ob man ein modernes oder klassisches Stück spielt. Selbst Rosa konnte sich im Alter nicht mit den historischen Tondokumenten von Kainz anfreunden, fand, dass sie einen völlig falschen Eindruck vermitteln. Wenn es nach ihr ginge, betont sie, müssten alle Stimmaufnahmen von Kainz vernichtet werden.

Außer ihrem Vater, so hält Rosa fest, war Kainz ihr einziger Lehrer – und diese beiden scheinen ihr als Instruktoren genügt zu haben. Sie besucht an den Nachmittagen das Stern’sche Konservatorium, verbringt ihre Vormittage zumeist damit, bei Theaterproben zuzusehen und dem Schauspielpersonal bei einem Kaufmann Essen zu holen. Als eine Schauspielerin ausfällt, wird Rosa gebeten einzuspringen, der Inspizient stößt sie 1891 förmlich auf die Bühne – und sie spielt wider Erwarten völlig unbeschwert. Wie schon ihren Vater, so überzeugt Kainz Rosa darin, dass im Schauspielberuf nicht nur der Körper, sondern auch die Stimme täglich trainiert werden muss. Jeden Morgen übt der Mime selbst, einen Korken im Mund, schwierige Textpassagen möglichst deutlich auszusprechen. Rosa tut es ihm gleich und arbeitet so an ihrer später von Kritikern und Publikum gerühmten Sprechtechnik. Lehrer und Schülerin werden sich bei den Übungen nahekommen; mag sein, dass Rosa in ihren Erinnerungen ein paar Mal abblendet, wenn die Geschichte zu sehr ins Private gerät.

Rosa lernt schnell und leicht. Lampenfieber, wie es später ihren Sohn Wolf und ihre Enkelin Romy fast unüberwindlich plagt, hat sie nur vor der Vorstellung, mit dem ersten Schritt auf die Bühne ist es verflogen. Ihre Methode, sich völlig in ihre Bühnenfiguren zu versetzen, hat natürlich den Nachteil, dass sie sich oft nur schwer wieder davon lösen kann. Bei tragischen Stücken wie Ibsens Nora führt das später oft sogar zuhause zu Weinkrämpfen, die Beruhigungsspritzen zur Folge haben. Ihre Enkelin Romy wird dies bei mancher ihrer Filmrollen ebenfalls durchleiden müssen.

Ihr erstes Engagement hat Rosa am Deutschen Theater, sie gastiert aber auch am Berliner und dem Lessingtheater. Gastspielreisen führen sie bis nach Kopenhagen. Mit 18 Jahren lernt sie den damals 30-jährigen Gerhart Hauptmann kennen, erlebt seine Transformation von einem anfangs eher schüchternen, an Bleistiften saugenden Autor zu einem sich 1942, mit achtzig Jahren beinahe „goethisch“ gebenden Heros der deutschen Bühne. Sie extemporiert in seinem Stück Der Biberpelz – und betont, ihre Interpretation in späteren Regiebüchern wiedergefunden zu haben. Eine das Spiel Rosas lobende Rohrpostkarte Hauptmanns bewahrt ihr Vater viele Jahre auf. Rosa trifft auch den stets gut frisierten Henrik Ibsen, der sich erst die Haare zerrauft, bevor er sich dem Berliner Publikum mit bohemeartiger Mähne präsentiert. Ein anderer deutscher Dichter, Hermann Sudermann, schreibt ihr die Rolle der Rosl in seiner Schmetterlingsschlacht auf den Leib, von ihm bekommt sie nach der geglückten Premiere den ersten Handkuss ihres Lebens.

Rosas erster großer Schwarm wird der gebürtige Russe Kolja Solowetschik, es ist eine platonische, romantische Liebe. Das Theater, das weiß sie längst, wird sie nie aufgeben, für keinen Mann der Welt. Ihr winkt 1895 ein Engagement am Deutschen Volkstheater in Wien und sie will gerne in die Stadt übersiedeln, in der sich das legendäre Burgtheater befindet. Als sie sich im Lessingtheater verabschiedet, rufen ihr die Leute zu, sie möge bleiben. Sie beteuert, nicht „Adieu“ sagen zu wollen, sondern „Auf Wiedersehen“, obwohl Ersteres angebracht gewesen wäre.

Karl Albach. Um 1896. „Der hochgewachsene, fesche Offizier verbeugte sich und strahlte mir unverwandt in die Augen.“ Mit diesen Worten schildert Rosa die erste Begegnung mit ihrem späteren Ehemann.

Ihr Mann: Karl Walter Albach

War Rosa bislang eine überzeugte Berlinerin, so erobert die Stadt, in die sie nun kommt, bald ebenfalls ihr Herz. Sie beginnt ihr Engagement am Deutschen Volkstheater am 2. März 1895 in dem Stück Ein Kind des Glücks von Charlotte Birch-Pfeiffer und wohnt mit ihren Eltern im achten Bezirk in der Strozzigasse Nr. 22. Die weiche, melodiöse österreichische Sprachmelodie geht ihr sofort ins Ohr, die stimmhaften Vokale, die oft verschwimmenden Konsonanten, alles scheint hier fröhlicher zu klingen als in Berlin, selbst wenn es anders gemeint ist. Der helle Klang ihrer Stimme rundet sich bald zum österreichischen Idiom. Den Sinn der Worte dieser neuen „Fremdsprache“ versteht sie nicht immer, doch wie so vieles wird sie es sich erarbeiten. Sie hat den Rest ihres Lebens dazu Zeit – das werden noch 85 Jahre sein.

Was ihr der neue Direktor Emmerich Bukovics als Erstes beibringt, ist, dass sie sich in der Wiener Gesellschaft schicker kleiden muss, als sie es bisher gewohnt war. Eine adäquate Adresse dafür ist das Modehaus Drecoll am Kohlmarkt 7, unweit der k. u. k. Hofzuckerbäckerei Demel. Geleitet wird das Geschäft von Johann Wilhelm Rudolf Christoph von Drecoll, einem gebürtigen Hamburger, der in Wien, Paris, Berlin und sogar New York Salons eröffnet. Er entwirft Bühnenkostüme für Burgtheaterschauspielerinnen ebenso wie Reitgewänder für Kaiserin Elisabeth. Die verschwenderisch opulente Dekoration seines Ateliers erinnert an die des Malers Hans Makart, wird dominiert von historistischem Prunk. Das Auge ist geblendet von Samt und Gold, Vasen, aus denen exotische Pflanzen wuchern. Die Vorhänge bleiben auch bei Tag geschlossen, der Maître bevorzugt künstliches Licht. Drecoll bedient Rosa persönlich, ordnet ihr nach einer ersten „Anamnese“ die Farben Blau und Weiß zu. Der Preis für zwei „Tageskleider“ übersteigt ihre Anfangs-Monatsgage, doch man findet eine Wiener Lösung. Direktor Bukovics erhöht ihr Gehalt, Maître Drecoll seinerseits gewährt einen Preisnachlass. Die junge Schauspielerin lächelt, sie ist nun endgültig in der Hauptstadt des Sich-Arrangierens angekommen.

Im Januar 1895 spricht man in Wien darüber, dass Rosas Kollegin Adele Sandrock vom Deutschen Volkstheater ans Burgtheater wechselt. Bildschön, noch weit entfernt von jenem Gepräge, das später perfekt zu den Buffo-Rollen in ihren Filmen passt, lernt Rosa sie kennen. Ihr gegenüber ist die sonst streitbare Sandrock fürsorglich, bemuttert sie fast. Launisch und mit loser Zunge prahlt sie Rosa gegenüber mit ihren Affären, darunter auch der mit einem Schriftsteller, den sie ihr mit den spöttischen Worten „Das ist mein süßer Zwerg, Herr Dr. Schnitzler!“12 vorstellt. Rosa ist überzeugt davon, dass sich zahlreiche von Sandrocks Formulierungen in der Literatur jener Epoche bei Autoren wie Schnitzler, Roda-Roda und Felix Salten wiederfinden. Das erste Treffen mit Schnitzler in Gegenwart der Sandrock macht Rosa verlegen, wiedersehen wird sie den Dichter erst ein Vierteljahrhundert später. Nach der Premiere seines Stücks Die Schwestern oder Casanova in Spa, bei der sie 1920 mitwirkt, lernt sie ihn persönlich kennen, nachdem er ihr eine Einladung zum Tee zukommen lässt. Sie betritt seine Villa in der Sternwartestraße Nr. 71 und wird von seiner Frau Olga empfangen, die ihr sofort sein Arbeitszimmer, die „Dichterklause“, mit dem Blick über das Döblinger Cottage zeigt. Schnitzler selbst kehrt von seinem Nachmittagsspaziergang zurück und tritt, wie der neugierige Gast bemerkt, erst vor sie, nachdem er Bart und Haupthaar sorgfältig arrangiert hat.

 

Rosas erste Tanzveranstaltung in Wien ist der Ball der Österreichischen Gesellschaft vom Weißen Kreuze in den Sophiensälen im Januar 1896, dessen Reinerlös in die Errichtung von Militärkurhäusern fließt. Fräulein Retty nimmt mit ihren Eltern daran teil und erinnert sich später an die bitterkalte Winternacht, in der die Hufe der Pferde ihres Fiakers Mühe haben, das Glatteis zu meistern. Sie selbst sitzt steif und unbeweglich darin, um ihr Kleid aus weißer Seide mit handgemalten Heckenrosen am Saum und Silbertüll nicht zu verdrücken. Am Ziel angekommen, bewundert sie den floralen Saalschmuck aus roten und weißen Rosen, aus Frühlingsblumen und Zitronenbäumchen. An diesem Tag entscheidet sich Rosas weiteres Leben, denn ihr wird ein Tanzpartner vorgestellt, der für die nächsten fünf Jahrzehnte an ihrer Seite bleiben wird. Eine Fotografie aus dem Jahr 1896 zeigt ihn in Uniform mit sorgfältig aufgezwirbeltem Schnurrbart. Sein Sohn wird später solche dekorativen Offiziere spielen, etwa 1957 in Der Kaiser und das Wäschermädel. Hochgewachsen und gutaussehend ist er, konstatiert Rosa, sein Name geht bei der Vorstellung im Hintergrundlärm unter, nicht aber seine Bitte, sich in ihre Tanzkarte eintragen zu dürfen. Besagte Karte hängt an ihrem linken Arm, nur mit Mühe kann sie sich davon lösen, das sie haltende Band zerreißt, ein anderes wird dafür geknüpft, denn der junge Mann trägt seinen Namen so oft auf dem Papier ein, bis kein Platz mehr darauf ist. Da er ihr gleich zu Beginn ein paar Mal zu oft auf die Zehen steigt, verbringt er den Abend mit der zwar tanzmäßig aber ansonsten keineswegs reservierten Dame in angeregter Konversation, bis der Morgen graut.

Rosas Mutter Käthe bittet den jungen Galan danach schicklich zum Tee, die Bekanntschaft setzt sich harmonisch fort. Mittlerweile kennt Rosa auch seinen Namen: Karl (in früheren Urkunden Carl geschrieben) Walter Albach, geboren am 21. Oktober 1870 im oberösterreichischen Windischgarsten, seine Eltern sind Dr. Heinrich Albach, k. u. k. Notar, und dessen Frau Theresia, geborene Herszan. Karl Albach ist zu jenem Zeitpunkt noch Oberleutnant in der k. u. k. Armee, wird jedoch gegen den Willen seines Vaters seine militärische Karriere bald beenden, um sein Jus-Studium fortzusetzen und als Anwalt seiner künftigen Ehefrau ein standesgemäßes Leben bieten zu können. Heinrich Albach reagiert zunächst verstimmt auf die berufliche Veränderung seines Filius, doch Walters Schwester Hilde und ihr Ehemann, Dr. Krischker, geben dem jungen Paar Schützenhilfe.

Käthe Retty hat gerade noch Zeit, ihren zukünftigen Schwiegersohn ein wenig kennenzulernen, denn ihr bleiben nur mehr wenige Monate Lebenszeit. Kurz nach dem Ball benennen die Ärzte nach einer Operation ihre diffusen Schmerzen mit der letalen Diagnose Unterleibskrebs. Mehr als Morphium bleibt nicht, um ihr die letzte Zeit so schmerzfrei wie möglich zu gestalten. In ihrer Erinnerung sind es wie zum Hohn vor allem Komödien, die Rosa in jener Zeit in Wien zu spielen hat. Es scheint ihr, dass sich sogar der Frühling in diesem Jahr beeilt, sich möglichst früh einzustellen, damit sich die Natur der Sterbenden gegenüber noch einmal freundlich zeigen kann. Familie Retty übersiedelt in die Parterrewohnung einer Villa in Hietzing, damit die Mutter ihre letzte Zeit in guter Luft verbringen kann. Zu Ostern versteckt „Kätchen“ ein letztes Mal im Garten die Ostereier für ihr Kind – wie früher, als hätte damit alles andere auch Bestand, als könnte die Routine über den fatalen Zustand hinwegtäuschen. 1896 ist Rosa 22 Jahre alt, spielt jedoch für die Todkranke noch einmal das Kind, sucht die Eier nach ihren Anleitungen, sieht, wie sich der Körper der Mutter vor Anstrengung krümmt. Der Tochter wird sich diese letzte Zeit mit ihr für immer einprägen. Die Morphiumdosen müssen bald erhöht werden. Die Mutter liegt im Halbschlummer, hat die Augen leicht geöffnet, auch wenn diese bereits stärker nach innen zu blicken scheinen. Im wachen Zustand, wenn das Betäubungsmittel nachlässt, schreit sie ihren Schmerz hinaus. An ihrem Bett sitzt die Familie, neu hinzugekommen ist der junge Offizier vom Ball, Karl Albach, der in der Nähe wohnt und bemerkt, dass es die Sterbende entspannt, wenn er leise mit seinem Säbel rasselt. Am 22. Mai 1896 beruhigt er sie zum letzten Mal auf diese Art. Eine Hand hält die ihre, die andere spielt mit dem blinkenden Kriegsgerät, mit dem er rasselt wie mit einem Kinderspielzeug. Rosa ist auf der Probe, während ihre Mutter stirbt. „Kätchen“ war noch keine 45 Jahre alt. Die Beziehung zu ihr wird der Tochter niemand mehr ersetzen können.

Anfang Dezember 1896 bringt es Rosas Popularität mit sich, dass der Hochzeitszug zur Evangelischen Kirche in der Dorotheergasse von zahlreichen Schaulustigen begleitet wird. Rosas Kollegenschaft vom Volkstheater ist anwesend, auch Direktor Bukowics gibt sich die Ehre. Rosa wird sich später an ihr lautes, impulsives „Ja“ erinnern, an das dadurch ausgelöste Gelächter in der Kirche. An der Seite ihres Vaters sitzt seine neue ständige Begleiterin Frieda Grossmüller, auch sie ist Schauspielerin und mit Rosa befreundet. Entgegen Rosas Wünschen wird es eine große, festliche Trauung, das Brautpaar muss die Kirche durch einen Seitenausgang verlassen, um der wartenden Menge zu entgehen, doch selbst das schafft die Braut nicht, ohne dass ihre Kleidung in Mitleidenschaft gezogen wird. Vierzehn Tage Flitterwochen am Lido von Venedig, der sich zu jener Zeit noch menschenleer zeigt, folgen.

Seine erste Wohnung richtet sich das junge Paar in der Strozzigasse ein. Rosas Familienname ist nun eigentlich Albach, doch sie etabliert einen gleichsam emanzipatorischen Doppelnamen und heißt bis zu ihrem Lebensende Rosa Albach-Retty. Auch ihre Schwiegertochter Magda und ihre Enkelin Romy werden sich bei der Namenswahl durchsetzen – und damit ebenfalls ein Zeichen setzen.