Spessartblues

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Er verstummte. Die beiden Herren sahen Kerner mit ernsten Mienen an. Er wusste, dass er jetzt etwas sagen musste. Der ausgeklügelte Vorschlag hatte ihn natürlich völlig überrascht. Er war jedoch Realist genug, um zu wissen, dass die Argumente der beiden Männer durchaus fundiert waren. Auch die Mitteilung, dass ein weiterer Richter nach Gemünden abgeordnet worden war, um ihn zu entlasten, war schon ein weitreichender Schritt, der ihm eine Ablehnung des Vorschlags der beiden Männer fast unmöglich machte. Kerner atmete einmal tief durch.

»Herr Präsident, lieber Armin, von der Fürsorge, die Ihren Worten zu entnehmen ist, bin ich tief beeindruckt. Ich kann Ihre Sorge um das Ansehen der Justiz sehr gut verstehen und auch mir liegt viel daran, die Rechtsprechung beim Amtsgericht Gemünden aus der Sicht der Bürger nicht negativ zu belasten. Sie können mir glauben, auch ich habe mir in den letzten Wochen viele Gedanken darüber gemacht, wie mein privates und auch berufliches Leben weitergehen soll. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich mit dem Tod meiner Lebensgefährtin einigermaßen umgehen kann. Ich denke aber, Arbeit als Therapie ist nicht die schlechteste Lösung. Ich danke Ihnen wirklich sehr für Ihr Verständnis. Es ist mir klar, dass ich mich zeitnah privat und dienstlich neu sortieren muss. Dabei werde ich Ihr Angebot ernsthaft in Erwägung ziehen.«

Der Präsident und der Leitende Oberstaatsanwalt nickten verständnisvoll.

»Herr Kerner, lassen Sie sich unseren Vorschlag in Ruhe durch den Kopf gehen. Wenn Sie uns in zwei Wochen Bescheid geben, ist das in Ordnung. Aber bitte nicht länger, da im Falle Ihrer Zusage die Justizverwaltung Ihre Nachfolge in Gemünden regeln muss. Das werden sie sicher verstehen.«

Der Präsident erhob sich, womit er klarstellte, dass dieses Gespräch für ihn damit beendet war. Auch Rothemund stand auf. Er und Kerner verabschiedeten sich von Kräuter. Draußen auf dem Flur standen die beiden noch einen Augenblick zusammen.

»Simon, bitte tu dir den Gefallen und folge unserem Vorschlag. Präsident Kräuter hat es nicht so deutlich ausgeführt, aber die Ereignisse um den Tod Hasenstamms haben ziemlich hohe Wellen geschlagen. Unser Angebot wäre für dich die Chance für einen wirklichen beruflichen und vielleicht auch privaten Neubeginn. Du weißt, in meiner Person findest du immer einen verständnisvollen Ansprechpartner.«

Kerner bedankte sich bei Rothemund und die beiden verabschiedeten sich voneinander. Simon Kerner verließ das Justizzentrum und schlenderte in Richtung Innenstadt. Sein Motorrad ließ er zunächst in der Tiefgarage zurück. Er musste das Gehörte jetzt erst einmal etwas verdauen.

Am Residenzplatz er blieb stehen und warf einen kurzen Blick auf sein Smartphone. Vor dem Gespräch hatte er es lautlos gestellt. Wie er feststellte, war von Eberhard Brunner eine WhatsApp-Nachricht eingegangen. Der Freund teilte ihm darin mit, dass er wegen eines dringenden dienstlichen Falles nicht zu einem Treffen in der Lage war. »Ich werde dich heute Abend mal anrufen«, schloss die Mitteilung.

Simon Kerner überlegte einen Augenblick, dann marschierte er in die Innenstadt und setzte sich ins Café Michel am Oberen Markt. Nachdenklich blickte er aus der oberen Etage auf die Menschen hinunter, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Zu viel ging ihm im Kopf herum. Mittlerweile war ihm klar, dass das Vorgehen des Präsidenten in Abstimmung mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt ein wohl überlegter Schachzug war, der einerseits die Interessen der Justiz berücksichtigte, andererseits aber auch seine Zukunftsmöglichkeiten nicht verbaute. Da die Abordnung eines weiteren Richters nach Gemünden bereits beschlossene Sache war, konnte er dem Vorschlag der beiden Männer eigentlich gar nicht mehr widersprechen. Wenig später zahlte er und brach auf. Er holte sein Motorrad aus der Tiefgarage des Justizzentrums und machte sich auf den Weg. Kurz nach 13:00 Uhr traf er beim Amtsgericht in Gemünden ein. Es war ein eigentümliches Gefühl, nach längerer Zeit wieder die Schwelle des Gerichts zu überschreiten.

Als er wenig später sein Dienstzimmer durch einen separaten Eingang betrat, huschte ein berührtes Lächeln über sein Gesicht. Auf seinem Besprechungstisch stand ein frischer Blumenstrauß und auf dem Schreibtisch wartete wie gewohnt eine Thermoskanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee auf ihn. Einige Sekunden später klopfte es an seine Tür. Auf sein »Herein« kam Frau Huber, seine Sekretärin, mit einem strahlenden Lächeln herein und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

»Lieber Herr Kerner, herzlich willkommen! Ich bin sehr froh … wir sind sehr froh, dass Sie wieder hier sind.« Ihr versagte die Stimme. Kerner konnte ihren in Augenwinkeln eine verräterische Feuchtigkeit erkennen, die ihn berührte. Frau Huber war sonst sehr zurückhaltend und zeigte ihre Emotionen nur in Ausnahmefällen.

»Vielen lieben Dank für den herzlichen Empfang und die Blumen. Ich freue mich auch, wieder hier zu sein. Wir können uns ja später noch unterhalten. Jetzt stürzen wir uns erst mal ins Gewühle. Rufen Sie bitte meinen Stellvertreter an und bitten Sie ihn zu einem Übergabegespräch zu mir.«

»Wird umgehend erledigt«, erklärte Frau Huber und verließ geschäftig das Dienstzimmer. Kerner trat an die Fensterfront, von der aus er einen freien Blick auf die Hänge der Spessarthöhen jenseits des Mains hatte. Für einige Sekunden hatte er einen Flashback und wähnte sich versetzt ins dämmerige Licht der hohen Bäume. Tiefe Schatten verbargen Gefahren. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Mit einer heftigen Bewegung schüttelte er den bedrückenden Moment von sich ab. Hastig wandte er sich um und ließ sich hinter seinem Schreibtisch in den Bürosessel fallen. Er sehnte richtig herbei, dass der Alltag ihn mit all seinen Trivialitäten wieder in Beschlag nahm und seine Gefühle betäubte. Es klopfte. Sein Wunsch ging umgehend in Erfüllung. Der Alltag in Form von Andreas Becker, seinem Stellvertreter, trat ein und drückte ihm zur Begrüßung herzlich die Hand.

3

Eberhard Brunners Anruf erreichte Kerner am späteren Nachmittag zuhause. Er erklärte, sehr zur Freude Kerners, dass er in etwa einer Stunde vorbeikommen würde. Simon Kerner war vor knapp zwanzig Minuten nach Hause gekommen und überlegte gerade, ob er sich etwas zum Abendessen zubereiten sollte. Der Blick in den Kühlschrank zeigte ihm allerdings seine engen »kulinarischen Grenzen« auf. Hätte Eberhard Brunner vor seiner Rückkehr nicht einige Grundnahrungsmittel besorgt, wäre die Abendmahlzeit vollständig ausgefallen. Während des Tages hatte er nur Zeit für einige Tassen Kaffee gefunden. Jetzt rebellierte sein Magen allerdings nachhaltig und brachte sich knurrend in Erinnerung. Kerner schnitt sich eine Scheibe Brot ab und beschmierte sie mit Leberwurst. Dazu öffnete er sich eine Flasche Bier.

Während er am Küchentisch saß und das Brot mit Appetit verzehrte, ließ er den Tag nochmals Revue passieren. Wenn er das Angebot seines Vorgesetzten annahm, musste er für sich die Frage beantworten, ob er den Wohnsitz in Partenstein beibehalten wollte. Für einen Neuanfang war es sicher besser, die belastenden Erinnerungen hinter sich zu lassen. Was sollte aus seinem Jagdrevier werden? Eine Frage, die er jetzt sowieso zeitnah beantworten musste. Während seiner Pilgerfahrt hatte ein Jagdfreund das Jagdrevier betreut und tat dies auch noch heute. Kerner hatte bis jetzt noch nicht die Kraft gefunden, das Revier zu betreten. Da draußen wartete die Ruine seiner abgebrannten Jagdhütte auf ihn, die von dem Wilderer Hasenstamm aus Rache abgefackelt worden war. Diese Hütte war ein zentraler Mittelpunkt seines und auch Steffis Leben gewesen. Viele Stunden hatten sie dort gemeinsam verbracht und ihre Zweisamkeit in der Einsamkeit des Waldes genossen. Alles unwiederbringlich vorüber. Simon Kerner schüttelte den Kopf. Er hatte mittlerweile etwas Übung darin, derartige Gedanken nach hinten zu schieben. Er trank sein Bierglas leer und stellte das Geschirr in die Spülmaschine. Da klingelte es an der Tür. Mit einem schnellen Blick auf die Uhr überzeugte er sich davon, dass durch seine Grübeleien die Zeit wie im Fluge vergangen war. Das musste sein Freund Eberhard sein.

Kerner ging an die Tür und öffnete.

»Grüß dich, Simon, ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich hier so einfach hereinschneie. Aber ich dachte mir, es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn ich ein paar feste Nahrungsbestandteile mitbringe. So wie ich dich kenne, hast du heute noch nichts Richtiges gegessen, und ich, wenn ich ehrlich bin, auch noch nicht.« Eberhard Brunner wedelte mit zwei Tüten dicht vor Kerners Nase herum. Sofort verbreitete sich ein angenehmer Geruch nach Gebratenem, der Kerners Magennerven reizte, obwohl er doch schon etwas zu sich genommen hatte.

»Komm rein«, erwiderte Kerner und trat einen Schritt zur Seite. »Schön, dass du da bist!«

Während Brunner mit seinen Tüten in Richtung Küche marschierte, folgte ihm Kerner vernehmlich schnüffelnd. »Wen hast du denn überfallen, Thailänder oder Türke?«

»Lass dich überraschen«, gab Brunner zurück, stellte die Tüten auf den Küchentisch und räumte sie geschäftig aus. Dem Aufdruck der Behältnisse war zu entnehmen, dass Brunner beim Türken in Gemünden vorbeigefahren war.

»Wie ich sehe, hast du unsere Ökobilanz wieder deutlich verbessert«, stichelte Kerner.

»Motze hier nicht rum!«, ging Brunner auf den frotzelnden Tonfall seines Freundes ein. »Ich habe mich eine Ewigkeit in die Warteschlange gestellt und uns ein frugales Mahl zubereiten lassen. Du weißt, nur Döner macht schöner. Hast du ein paar Teller?«

 

Kerner ging an einen der Küchenschränke und brachte das erforderliche Geschirr und Besteck herbei. Dann holte er zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank.

»Du trinkst doch eines mit? Oder lieber Wein?«

»Bier ist in Ordnung«, erwiderte Brunner und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder.

Brunner öffnete seine Bierflasche und goss sich in sein Glas ein, dann ergriff er seine Gabel, wünschte »Guten Appetit« und machte sich über das Dönerfleisch her. Es war nicht zu übersehen, dass er richtig Hunger hatte.

»Ebenfalls guten Appetit und herzlichen Dank dem Spender«, gab Kerner zurück und widmete sich ebenfalls dem Inhalt seines Tellers.

»Mann, das war jetzt wirklich nötig!« Brunner nahm mehrere kräftige Schlucke Bier, dann setzte er das Glas ab und sah sein Gegenüber prüfend an. »So, Simon, jetzt erzähl mal, wie es bei dir heute gelaufen ist. Speziell natürlich bei deinem Besuch beim Landgerichtspräsidenten.«

Kerner zuckte mit den Schultern.

»Unterm Strich muss ich wohl sagen, recht positiv. Wobei ich das Gespräch, bei dem auch der Leitende Oberstaatsanwalt dabei war, noch nicht in allen Facetten analysiert habe. Ich hatte bis jetzt ganz einfach noch nicht die nötige Zeit, mich damit ausreichend auseinanderzusetzen, da ich anschließend ja sofort zum Amtsgericht gefahren bin.«

»Dann erzähl mal, vielleicht können wir beide die Angelegenheit etwas reflektieren.«

Simon Kerner schob seinen Teller zur Seite und lehnte sich im Stuhl zurück. Stück für Stück schilderte er seinem Freund das Gespräch mit Kräuter und Rothemund. Brunner hörte, ohne ihn zu unterbrechen, aufmerksam zu. Als Kerner schließlich verstummte, trat für einen Moment Schweigen ein. Man sah, wie Brunner den Bericht seines Freundes verarbeitete.

»Mein erster Eindruck ist, die beiden haben dir eine goldene Brücke gebaut. Ich weiß ja auch, wie vorgesetzte Dienststellen reagieren, wenn irgendwo Probleme auftreten, die eine negative Presse nach sich ziehen könnten. Das ist bei der Polizei nicht anders als bei der Justiz, denke ich. Die beiden wollen verhindern, dass du durch eine eventuell negative Presse beschädigt wirst und dann für höhere Aufgaben verbrannt bist. Wenn du mich fragst, die beiden haben die Geschichte so geschickt eingefädelt, dass du eigentlich gar nicht anders kannst, als auf ihr Angebot einzugehen.«

Kerner packte wortlos die beiden Teller und stellte sie hinüber auf die Spüle. Schließlich setzte er sich wieder und sah seinem Freund ernst in die Augen.

»Es wird mir immer klarer, dass ich mein Leben und meine Karriere nicht so fortsetzen kann wie ursprünglich geplant. Privat ist bei mir alles aus den Fugen geraten, was sich natürlich massiv auf meinen Beruf auswirkt. In meinem Denken gibt es im Augenblick keinen Raum, mir über mein berufliches Fortkommen Gedanken zu machen. Es kostet mich, das habe ich heute gemerkt, ziemlich viel Kraft, wieder in nüchternen juristischen Bahnen zu denken, geschweige denn eine Behörde zu leiten. Als Richter kann ich mich momentan den Bürgern nicht zumuten und als Behördenleiter nicht meinen Mitarbeitern.«

»Dann nimm das Angebot an und versuche dich in dem Freiraum, den man dir angeboten hat, neu zu finden. Wirf privat nicht gleich alles über Bord. Sonst verlierst du deine Wurzeln. Lass dir Zeit und setze dich nicht unnötig unter Druck.«

Kerner nickte schwach. »Das werde ich auch machen. Allerdings gibt es noch zwei Schöffengerichtsverfahren, die ich selbst aburteilen muss. Fälle, bei denen ich sehr viel Insiderwissen habe und die ich meinem Vertreter nicht zumuten möchte. Danach werde ich mich soweit möglich zurückziehen.«

Er nahm einen kräftigen Schluck, dann meinte er: »Themawechsel! Du hast mir erzählt, dass du einen neuen Fall hereinbekommen hast. Erzähl mir ein wenig davon.« Er erhob sich. »Komm, setzen wir uns ins Wohnzimmer. Ich mache einen Bocksbeutel auf. Ich würde mich freuen, wenn du hier übernachten würdest.«

Eberhard Brunner zögerte einen Moment, dann erklärte er sein Einverständnis. Irgendwie hatte er das Gefühl, bei dem Angebot seines Freundes schwang unausgesprochen die Bitte mit, ihn nicht alleine zu lassen. Nachdem sie es sich bequem gemacht hatten und der Wein eingeschenkt war, begann Brunner zu berichten.

»Wir haben da vor ein paar Tagen einen sehr merkwürdigen Fall hereinbekommen. Das Missionsärztliche Klinikum in Würzburg hat uns mitgeteilt, in der Nacht von Montag auf Dienstag der vergangenen Woche habe die Nachtschicht einen schwer verletzten, nackten Mann vor der Notaufnahme aufgefunden. Wie es aussah, war der Mann völlig hilflos dort ausgesetzt worden. Aus den Gesamtumständen und der Art der Verletzungen schlossen die Mediziner, dass der Mann Opfer eines Verbrechens war. Der Patient wurde sofort in ein künstliches Koma versetzt, da die Schmerzen unerträglich sein mussten. Er war selbstverständlich für uns nicht ansprechbar. Bis jetzt konnten wir nur mit den Ärzten sprechen.«

»Welche Art von Verletzungen hatte er denn?«

»Die behandelnden Mediziner haben wegen der außergewöhnlichen Art der Verletzungen Fotoaufnahmen gemacht und sie uns zur Verfügung gestellt.« Brunner griff nach seinem Glas und nahm einen Schluck Wein, dann fuhr er fort: »Ich habe in meinem Job schon viele Grausamkeiten gesehen, aber das war wirklich schwer verdauliche Kost. Wie es scheint, hat man ihn mit einer Art Brenneisen oder Lötkolben einen Schriftzug auf den Unterbauch eingebrannt.«

Simon Kerner zog betroffen die Augenbrauen in die Höhe.

»Ohne Probleme war das Wort ›PERVERS‹ zu erkennen. Aber das war noch nicht genug. Man hatte den Mann außerdem kastriert!«

Kerner sog scharf die Luft ein. »Du meinst …?«

Brunner nickte. »Man hat ihm beide Hoden entfernt. Mehr oder weniger fachmännisch, wie mir die Ärzte sagten.«

Für einen Moment herrschte Sprachlosigkeit.

»Wie es aussieht«, fuhr Brunner dann fort, »legten es die oder der Täter nicht direkt darauf an, den Mann zu töten. Er wurde kurz nach der Misshandlung an der Klinik ausgesetzt. Die Schäden, die man ihm zugefügt hat sind allerdings dauerhaft und irreparabel.«

»… und damit nur schwer vor seiner Umwelt zu verbergen. Vermutlich war das auch beabsichtigt.« Kerner lehnte sich nachdenklich zurück. »PERVERS ist jetzt allerdings keine so klare Aussage, dass man auf Anhieb erkennen könnte, welche Art von Abartigkeit gemeint ist. Die Kastration deutet aber meines Erachtens eindeutig auf einen Racheakt hin. Gab es in der letzten Zeit bei uns Straftaten in diese Richtung?«

»Ich habe mich schon mit den Kollegen ausgetauscht. Es gibt immer wieder einmal Hinweise auf das Vorhandensein einer pädophilen Szene im Raum Frankfurt, deren Ausläufer sich auch nach Bayern hineinziehen, aber die Ermittlungen sind ausgesprochen schwierig. Diese Verbrecher wissen sich zu schützen und bewegen sich in erster Linie im Darknet. In diese Kreise einen verdeckten Ermittler einzuschleusen ist extrem schwer, zeitaufwändig und höchst gefährlich.«

»Gibt es denn keinerlei Hinweise, um wen es sich bei dem Verletzten handeln könnte?«

»Wie gesagt, als er aufgefunden wurde, war er völlig nackt und hatte keinerlei Erkennungsmerkmale bei sich. Auch in der Vermisstenabteilung ist niemand gemeldet, auf den die Beschreibung des Verletzten passen würde. Wahrscheinlich wird das Rätsel erst gelöst, wenn wir ihn das erste Mal vernehmen können. Die Klinik wird uns verständigen, wenn er so weit ist.«

Die beiden verließen das Thema und unterhielten sich nun über Kerners Pilgerfahrt. Simon Kerner hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit gehabt, sich in Ruhe mit seinem Freund darüber auszutauschen. Als Kerner gerade den dritten Bocksbeutel öffnen wollte, läutete Brunners Mobiltelefon. Der Kriminalkommissar verdrehte wegen der späten Störung die Augen, nahm das Gespräch aber an. Nachdem er einige Zeit wortlos gelauscht hatte, erklärte er: »Ich bin gerade bei einem Freund und habe einige Gläser Wein getrunken. Bin also nicht mehr fahrtüchtig. Veranlassen Sie bitte, dass die Polizeiinspektion Karlstadt mir eine Streife vorbeischickt, die mich hier abholt und nach Würzburg fährt.« Er gab noch Kerners Adresse durch, dann legte er auf.

»Ärger?«, fragte Kerner und stellte die noch nicht geöffnete Flasche auf den Tisch zurück.

»Simon, es tut mir sehr leid, aber ich muss sofort nach Würzburg zurückfahren.«

Simon Kerner sah Brunner fragend an.

»Der Verletzte, von dem ich dir vorhin erzählt habe, hat sich anscheinend vom Balkon seines Krankenzimmers hinabgestürzt. Wie es aussieht, Selbstmord. Aber nach den Gesamtumständen des Falles muss man das genauer ermitteln. Es wäre ja auch denkbar, dass der Täter sein Werk vollenden wollte.«

Zwanzig Minuten später hörten sie das schnell näherkommende Signal einer Polizeisirene. Kerner begleitete seinen Freund bis vor das Haus, wo Brunner sich auf die Rückbank eines Streifenwagens gleiten ließ, der sofort lospreschte, auf dem Wendehammer vor Kerners Haus mit quietschenden Reifen wendete und sich mit hoher Geschwindigkeit auf den Weg nach Würzburg machte.

Kerner ging zurück ins Haus. Sofort verspürte er wieder dieses bedrückende Gefühl der Einsamkeit. Er schaltete den Fernseher ein, setzte sich auf die Couch und öffnete die dritte Weinflasche. Vielleicht trug der betäubende Alkohol dazu bei, dass er in dieser Nacht von bedrückenden Albträumen verschont blieb.

4

Der Wecker neben Theresas Bett klingelte pünktlich um sechs Uhr dreißig. Mit seiner elektronischen Dreistigkeit schaffte er es, Theresa Schönbrunn aus einem angenehmen Traum zu reißen. Im Halbschlaf schlug sie heftig auf die Schlummertaste, worauf das Gerät prompt verstummte. Sie wusste, bis zum nächsten Weckintervall würde eine Gnadenfrist von drei Minuten vergehen, ehe das lästige Geräusch erneut in ihr schlaftrunkenes Gehirn eindringen würde. Sie gähnte herzhaft und vernehmlich, dann schlug sie entschlossen die Bettdecke zurück und setzte die Füße auf den Bettvorleger. Es half ja alles nichts, ein neuer Tag verlangte sein Recht. Mit einem Blick zum Fenster erkannte sie durch die Schlitze der herabgelassenen Jalousien einen sonnigen Lichtschimmer, Zeichen für einen regenfreien, sonnigen Tag. Sie erhob sich, schlüpfte in ihre Pantoffel, zog das nach oben gerutschte Longshirt zurecht, das sie als Nachthemd trug, und schlurfte in Richtung Bad. Gewohnheitsmäßig kämmte sie sich mit den Fingern ihre halblangen, zerwühlten brünetten Haare aus dem ovalen Gesicht. Die härteste Aufgabe dieses Montagmorgens stand ihr noch bevor: Sie musste ihre 15-jährige Tochter Ronja wecken, mit der sie als alleinerziehende Mutter eine Dreizimmerwohnung in Karlstadt bewohnte. Ronja war es am Wochenende durch massives, Nerv tötendes Quengeln gelungen, sie zu bewegen, ihr am Sonntagabend den Besuch der Geburtstagsparty von Moritz, ihrem Trainer aus dem Judo-Club, zu erlauben. Theresa kannte den jungen Burschen persönlich. Er war ganz in Ordnung. Ronja versicherte ihr hoch und heilig, spätestens um 23:00 Uhr zu Hause zu sein. Da ihre Tochter eine gute Schülerin und für Montag keine Klassenarbeit angesetzt war, ließ sich Theresa breitschlagen. Tatsächlich betrat Ronja wenige Minuten nach der vereinbarten Zeit die Wohnung und hatte sich gleich in ihr Zimmer verabschiedet.

Theresa öffnete leise die Tür zu Ronjas Zimmer. In der Ecke, behütet von großflächigen Plakaten mit diversen Teenie-Stars der Musikbranche, stand das Bett. Der Weckruf blieb ihr allerdings im Halse stecken. Völlig verwirrt stand sie vor den leeren Kissen. Die Bettdecke war zurückgeschlagen, das Laken zerwühlt, von ihrer Tochter jedoch weit und breit nichts zu sehn. Was sie zusätzlich stutzig machte, war Ronjas Pyjama, zusammengelegt auf einem Stuhl neben dem Bett. Auf dem Schreibtisch lagen die Schulsachen, so wie sie Ronja ihrer Erinnerung nach gestern zurückgelassen hatte. Sie trat in den Flur zurück.

»Ronja!?« Laut rief sie den Namen ihrer Tochter in die Wohnung. In der Küche konnte sie nicht sein, denn die Tür war angelehnt und durch den Spalt kam kein Licht. Sie öffnete die Wohnzimmertür und blickte hinein. Auch hier keine Spur von dem Mädchen. Mit einem unguten Gefühl, das von Minute zu Minute stärker wurde, kontrollierte sie das Schlüsselbrett in der Nähe der Eingangstür. Ronjas Schlüssel fehlte! Hastig eilte sie in die Küche, knipste das Licht an und warf einen Blick auf den Küchentisch. Die Tischplatte war leer. Keine Nachricht, wie das sonst üblich war, wenn Ronja einmal unangemeldet die Wohnung verließ. Theresa wurde es ganz schlecht. Wo war ihr Kind? Da hatte sie eine Idee. Sie eilte in das Schlafzimmer und griff sich ihr Smartphone, das sie, wie üblich, vor dem Zubettgehen auf Lautlos gestellt hatte. Wahrscheinlich hatte ihr Ronja eine Kurznachricht geschickt. Aber auch hier wurde sie enttäuscht. Mit einem Anflug von Ratlosigkeit setzte sie sich auf ihr Bett und versuchte ihre Gedanken in den Griff zu bekommen. Sie musste telefonieren! Theresa eilte in den Flur und griff sich das schnurlose Telefon. Wie lautete Moritz’ Nummer? Wie hieß der Junge wieder mit Familiennamen? Adler, ja, Moritz Adler! Ein Blick in die Kontaktliste des Mobilteils zeigte ihr, dass der Name nicht verzeichnet war. Auch unter Moritz fand sie nichts. Wie auch? Die Kids kommunizierten doch nur noch über WhatsApp oder, wenn sie telefonierten, dann nur mit dem Smartphone. Ein Festnetzanschluss war etwas für die Alten. Facebook! Natürlich, das war’s! Sie eilte ins Wohnzimmer und klappte ihren Laptop auf. Selbstverständlich war Ronja in Facebook aktiv. Vor einem Dreivierteljahr hatte sie sich ebenfalls einen Account eingerichtet. Sie hatte das Gefühl gehabt, sie müsste hin und wieder nachsehen, was Ronja im Netz so trieb. Sie loggte sich ein und rief die Seite ihrer Tochter auf. Ronja hatte 237 Freunde. Auch so ein Phänomen dieses Mediums, mit derart vielen Menschen befreundet zu sein, die man aber nur zum geringen Teil persönlich kannte. Hastig suchte sie nach einem Moritz. Wie sie sah, war Ronja gestern Abend, bevor sie zu der Party ging, letztmals online gewesen. Mittlerweile waren eine ganze Anzahl Posts eingegangen, die sich mit dieser gestrigen Feier beschäftigten. Kein Moritz dabei. Sie betrachtete angespannt die Bilder, die einige online gestellt hatten. Auf einem der Fotos erkannte sie Ronja. Ihre rote Kurzhaarfrisur war unübersehbar. Mit einer Bierflasche in der Hand lehnte sie, auf einer Couch sitzend, an der Brust eines jungen Mannes, der, seinerseits mit einem Getränk in der Hand, in die Kamera grinste. Bedauerlicherweise fand sich aber kein näherer Hinweis darauf, wer dies war. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Seit sie Ronjas Abwesenheit festgestellt hatte, war bereits eine halbe Stunde vergangen. Sie musste sich fertigmachen und ins Büro! Ohne Ronjas Abwesenheit aufgeklärt zu haben, ging das aber nicht. Sie suchte in Facebook nach dem Jungen, aber er hatte seinen Account so abgeschottet, dass nur Freunde darauf zugreifen konnten. Sie griff erneut zum Telefon und wählte die Nummer von Ronjas Freundin Emma. Die beiden Mädchen gingen in dieselbe Klasse. Sie war sicher, dass auch Emma bei dieser Party gewesen war.

 

»Köhler«, meldete sich nach dem zweiten Läuten eine Frauenstimme.

»Guten Morgen, Frau Köhler, entschuldigen Sie bitte die frühe Störung, aber ich habe da ein Problem. Meine Ronja war gestern auf der Party von diesem Moritz. Sie ist auch zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause gekommen. Als ich sie heute Morgen wecken wollte, war sie allerdings nicht da. Sie muss heimlich noch einmal weggegangen sein, ohne mir etwas zu sagen. Ich bin total beunruhigt! Emma war doch sicher auch dort? Vielleicht hat sie was mitbekommen, weshalb Ronja sich nochmals davongestohlen haben könnte.«

»Guten Morgen, Frau Schönbrunn«, erwiderte Frau Köhler, »das ist ja wirklich komisch. Es stimmt, Emma war auch auf der Party. Warten Sie mal, ich frage sie.«

Theresa Schönbrunn hörte, dass die Frau ihre Tochter rief. Nach kurzem Hintergrundgemurmel ging das Mädchen ans Telefon.

»Hallo, Frau Schönbrunn, Mama sagt, Ronja ist nicht nach Hause gekommen? Das verstehe ich nicht, weil sie praktisch gleichzeitig mit mir gegangen ist.«

»Sie ist ja auch nachhause gekommen. Aber dann heimlich wieder weg. Hat sie irgendetwas zu dir gesagt? Hat sie sich mit jemandem auf der Party intensiver beschäftigt? Einem Jungen vielleicht?«

Die Leitung blieb einen Augenblick stumm.

»Bitte, Emma, du musst mir das sagen! Ich mache mir große Sorgen. Ronja hat so etwas noch niemals gemacht. Sie hat keine Nachricht hinterlassen, nichts! Hast du vielleicht eine Telefonnummer von Moritz? Ich muss unbedingt mal bei ihm anrufen.«

Die Antwort kam etwas zögerlich. »Ich habe Ronja nur gelegentlich gesehen. Es waren ungefähr zwanzig Leute auf der Party. Die haben sich auf die Räume in der Wohnung verteilt. Mir ist wirklich nichts aufgefallen. Die Mobilfunknummer von Moritz kann ich Ihnen geben.« Sie diktierte die Nummer und Frau Schönbrunn schrieb hastig mit.

»Emma, kannst du Ronja bitte in der Schule entschuldigen? Sag der Klassleiterin, dass sie unpässlich ist und ich die Entschuldigung nachreichen werde. Unser Gespräch erwähne besser nicht.«

Emma sagte das zu, dann war das Telefonat beendet. Theresa Schönbrunn war sich nicht sicher, ob Emma ihr die volle Wahrheit gesagt hatte. Mädchen in diesem Alter hatten ihre Geheimnisse, die sie nur mit der besten Freundin teilten. Es war gut möglich, dass Emma ihr aus falsch verstandener Solidarität etwas verschwieg. Sie dachte im Augenblick nicht weiter darüber nach. Der Anruf bei diesem Moritz Adler hatte jetzt absolute Priorität.

»Ja!«, kam kurz und knapp eine männliche Stimme aus dem Telefon. Frau Schönbrunn nannte ihren Namen und erläuterte kurz den Grund ihres Anrufs. Aus dem Hörer kam ziemlich laute Rockmusik.

»Einen Moment bitte«, erklärte Adler mit erhobener Stimme, »ich mach’ die Musik mal leiser.« Einen Moment später wurde das Nebengeräusch deutlich erträglicher. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Frau Schönbrunn, wollen Sie wissen, wann Ronja von meiner Party nach Hause gegangen ist. Wieso? Ist irgendetwas?« Aus seiner Stimme glaubte sie eine gewisse Vorsicht herauszuhören.

Frau Schönbrunn wiederholte den Grund ihres Anrufs.

»Haben Sie vielleicht bemerkt, dass meine Tochter sich irgendwie auffällig benommen hat? Hatte sie vielleicht etwas getrunken?«

»Ich hatte natürlich nicht jeden meiner Gäste ständig im Auge, aber ich habe nichts bemerkt, was mir als auffällig in Erinnerung geblieben wäre. Was den Alkohol betrifft, hatte ich für die Kids alkoholfreie Cocktails im Angebot. Es gab aber auch welche mit Stoff … für die Älteren. Wer was getrunken hat, habe ich natürlich nicht kontrolliert. – Was ist denn passiert?«

Frau Schönbrunn schilderte ihm nochmals ihre Sorge.

»Tut mir leid«, erklärte Moritz Adler, »aber ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Offenbar war Ronja pünktlich zu Hause. Warum sie sich wieder davongeschlichen hat, weiß ich nicht. Auf meine Party ist sie dann jedenfalls nicht mehr gekommen.«

Theresa Schönbrunn bedankte sich und beendete das Gespräch. Schließlich fasste sie einen Entschluss. Sie griff erneut zum Telefon und wählte die Nummer ihres Vorgesetzten im Amtsgericht Gemünden. In der Schreibkanzlei des Zivilgerichts hatte sie eine Ganztagsstelle. Sie erklärte ihm, sie habe sich am Wochenende offenbar eine Magenverstimmung zugezogen und könne deshalb heute nicht zum Dienst erscheinen. Es ging ihr zwar gründlich gegen den Strich, eine derartige Ausrede gebrauchen zu müssen, aber es blieb ihr jetzt keine Zeit für aufwändige Erklärungen. Nach dem Gespräch legte sie das Telefon beiseite und eilte ins Bad. Zehn Minuten später schnappte sie sich ihren Schlüsselbund und hastete aus dem Haus. Auf dem Küchentisch hinterließ sie sicherheitshalber eine Nachricht für Ronja mit der Bitte, sie umgehend anzurufen, wenn sie nach Hause käme. Ihr VW-Golf parkte direkt vor dem Haus. Sie musste etwas unternehmen, sonst würde sie vor Sorge durchdrehen. Sie fand einen Parkplatz am Main. Eilig durchschritt sie ein kleines Tor in der Stadtmauer und erreichte kurz danach die Polizeidienststelle an der Hauptstraße.

Hinter dem Tresen im Eingangsbereich saß ein älterer Beamter in Uniform vor einem Computerbildschirm. Als Theresa Schönbrunn eintrat, hob er den Kopf und fragte: »Was kann ich für Sie tun?« Er besaß reichlich berufliche Erfahrung und erkannte sofort die Erregung der Frau. Der Polizist erhob sich und kam nach vorne an den Empfangstresen.