Die Spur des Wolfes

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Fünf Jahre später

Es war kurz vor vierzehn Uhr. Ein wolkenloser, heißer Sommertag ließ die Temperatur fast auf vierzig Grad steigen. Der Friedhof am Rande der kleinen Spessartgemeinde Wiesmühl lag direkt hinter der Kirche St. Raphael, in einem durch eine dichte Hecke begrenzten Areal. Nach Osten hin, nur knapp hundert Meter von der Umgrenzung entfernt, war in der flirrenden Luft die dunkle Wand des Waldrandes zu erkennen.

Die letzte Ruhestätte der Familie Hasenstamm lag in der südöstlichen Ecke des Friedhofs, direkt neben der Hainbuchenhecke. Der Erdaushub rund um das frische Grab war mit einer grünen Plane abgedeckt. Einige Buchsbäumchen in Pflanztöpfen und mehrere Flammenschalen auf metallenen Ständern gaben dem Ort eine gewisse Feierlichkeit. Im Augenblick lag das offene Grab noch verlassen da.

Der neutrale, grüne VW-Bus parkte auf dem kleinen Parkplatz in der Nähe des Eingangs des Kirchhofs. Der Motor war aus. Der Fahrer saß hinter dem Steuer und starrte gelangweilt auf das geschlossene Kirchenportal. In dem mit einem Gitter abgetrennten Fahrgastraum saßen auf der mittleren Rückbank drei Männer. Zwei, wie der Fahrer, in die Uniform von Strafvollzugsbeamten gekleidet. Die beiden Beamten klemmten einen Zivilisten mit ihren kräftigen Figuren regelrecht zwischen sich ein. Seine mit Handschellen zusammengeschlossenen Hände lagen locker in seinem Schoß. Die etwa dreißig Zentimeter lange Verbindungskette ließ ihm etwas Spielraum. Der hagere Gefangene, dessen Alter sich irgendwo in Richtung vierzig bewegen durfte, lehnte den Kopf ganz entspannt rückwärts gegen die Kopfstütze und hielt die Augen geschlossen. Er schien zu schlafen. Doch seine beiden Bewacher ließen sich durch dieses Verhalten nicht in Sicherheit wiegen. Der Mann, für den sie bei diesem genehmigten Ausgang verantwortlich waren, war nicht ganz ungefährlich. Vor fünf Jahren war er vom Schwurgericht wegen Totschlags in einem Fall und schwerer Jagdwilderei in mehreren Fällen zu dreizehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Staatsanwaltschaft hatte seinerzeit auch wegen des Verdachts des Mordes gegen ihn ermittelt, konnte ihm diesen aber nicht nachweisen, so dass es bei Totschlag blieb. Während der Strafverbüßung hatte sich der Strafgefangene aus Sicht der Gefängnisverwaltung weitgehend unauffällig verhalten.

Vor zwei Tagen nun hatte die Anstaltsleitung dem Verurteilten Wolfgang Hasenstamm, auf seinen Eilantrag hin, diese bewachte Ausführung genehmigt, damit er an der Beisetzung seines kürzlich verstorbenen Vaters teilnehmen konnte. Zu diesem Zweck hatte man ihm gestattet, die Anstaltskleidung, die er als Strafgefangener normalerweise tragen musste, gegen den Anzug einzutauschen, den er während seines Gerichtsprozesses getragen hatte.

Unvermittelt begann die Totenglocke der Kirche zu läuten. Gleichzeitig öffneten sich die beiden Flügel der Tür von St. Raphael. Zwei Ministranten und ein Priester traten heraus. Diesen folgte eine fahrbare Bahre mit einem Sarg darauf, die von vier Männern in dunklen Anzügen geschoben wurde. Hinter dem Sarg schritten zwei alte, in Schwarz gekleidete Frauen, die kleine Blumengebinde in den Händen hielten. Die Trauerprozession bog auf den Friedhof ein und passierte dort die schmiedeeiserne Pforte.

In die Männer im Transporter kam Bewegung. „Auf geht’s!“, kommandierte einer der Beamten, worauf der andere die Schiebetür des VW-Busses öffnete und ausstieg. Er drehte sich um und fasste den Gefangenen am Arm, um ihm aus den Wagen zu helfen. Hasenstamm lehnte die Hilfe mit einer eindeutigen Körperbewegung ab. Mit einem elastischen Sprung stand er auf dem Boden und streckte sich leicht. Jetzt konnte man sehen, dass er die beiden Beamten um einen ganzen Kopf überragte. Er war drahtig, mit einem scharf geschnittenen Gesicht. Sein Haar trug er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Gefangene hielt den Beamten seine gefesselten Hände hin. In dieser Geste lag eine Aufforderung. Der zuletzt ausgestiegene Vollzugsbeamte, offensichtlich der Chef der Gruppe, schüttelte jedoch entschieden den Kopf.

„Tut mir leid, Hasenstamm, aber die Handschellen müssen dran bleiben. – Anordnung der Anstaltsleitung“, ergänzte er. Nach kurzer Überlegung zog er seinen Dienstblouson aus. Jetzt war sein Einsatzgürtel mit Dienstpistole, Pfefferspray, zusammengeschobenem Schlagstock und Tasche für die Handschellen sichtbar. Ein in einer geschlossenen Scheide steckendes Klappmesser vervollständigte die Ausrüstung. Daneben hing an einem Karabinerhaken der Schlüssel für die Handfesseln. Er legte die Jacke wortlos über die Handschellen des Gefangenen, so dass diese fast völlig verdeckt waren. Dann fassten die beiden Männer den Gefangenen rechts und links an den Ellbogen und führten ihn hinter dem Trauerzug her. Eine der beiden Frauen, Hasenstamms Mutter, blieb kurz stehen und machte Anstalten, zu diesem zu gehen. Die andere hielt sie jedoch mit hartem Griff am Arm zurück, dabei warf sie Hasenstamm und den Wärtern unverhohlen böse Blicke zu.

Nachdem der Priester alle rituellen Handlungen und Gebete vollzogen hatte, senkten die vier Männer in Schwarz den Sarg in die Grube. Sie verneigten sich kurz, dann verließen sie mit der Rollbahre den Friedhof.

Der Priester betrachtete mit ausdrucksloser Miene die wenigen Trauernden. Kritisch musterte er die Schusswaffen der beiden Beamten. Schließlich trat er auf die beiden Frauen zu, gab ihnen die Hand und murmelte dabei einige Worte des Beileids. Anschließend fiel sein Blick auf Hasenstamm. Er zögerte eine Sekunde, gab sich dann einen innerlichen Ruck und streckte langsam dem Gefangenen seine Hand entgegen. Doch Hasenstamm sah ihn nur durchdringend an, als wäre er gar nicht vorhanden, und ignorierte die Geste.

Schließlich zog der Priester seine Hand wieder zurück, murmelte ein pflichtschuldiges „Mein Beileid“ und verließ gemessenen Schrittes, mit den Ministranten vorweg, den Friedhof.

Die beiden Frauen standen einen Augenblick unschlüssig vor dem Grab. Schließlich traten sie nach vorne. Die Witwe ergriff die armlange Schaufel, die in einer Tonschale mit Erde steckte, und warf polternd drei kleine Portionen Erdreich auf den Sarg. Die zweite tat es ihr nach, dann drehten sie sich um. Hasenstamms Mutter blieb vor dem Gefangenen stehen, dann löste sie sich aus dem Griff ihrer Begleiterin.

„Ach, mein Junge“, stieß sie hervor und fiel ihm schluchzend um den Hals. Einer der Beamten ließ sie einen Moment gewähren, dann legte er vorsichtig seinen Arm um ihre Schulter und meinte leise, aber bestimmt: „Frau Hasenstamm, bitte keine körperlichen Berührungen.“

Hasenstamm warf ihm einen eisigen Blick zu, dann schob er seine Mutter langsam von sich. „Mutter, ist ja gut. Jetzt hat er es überstanden.“

Die andere Frau ergriff die weinende Mutter und zog sie weg. „Lass uns gehen“, stieß sie hart hervor. Dabei musste sie an Hasenstamm vorbei, der wie versteinert zwischen den Wärtern stand. Plötzlich drehte sie ihren Kopf und spukte ihm vor die Füße. Dabei stieß sie halblaut einige Worte aus, die für die Umstehenden kaum zu verstehen waren. Hasenstamm zuckte kurz zusammen, dann hatte er sich aber wieder im Griff. Ihre Reaktion verwunderte ihn nicht. Diese Frau war die ältere Schwester seines Vaters. Sie hasste ihn, weil sie der Meinung war, er trage Schuld an dem Drama der Familie. Deshalb hatte sie im Strafprozess auch gegen ihren Neffen ausgesagt. Energisch führte sie Hasenstamms Mutter in Richtung Ausgang.

Die Beamten hatten sich bei der Attacke kurz angespannt und ihren Griff verfestigt. Als ihr Gefangener aber keine sichtbare Reaktion zeigte, entspannten sie sich wieder.

„Du kannst jetzt kurz Abschied nehmen“, erklärte der verantwortliche Wärter zu seiner Rechten leise, „dann müssen wir wieder los.“

Hasenstamm reichte dem Mann seine Jacke zurück, dann trat er an das Grab. Die beiden Beamten flankierten ihn. Langsam griff sich der Gefangene die kleine Schaufel und warf zwei Häuflein Erde auf den Sarg. Als sich die Schaufel das dritte Mal der Tonschale näherte, wirbelte Hasenstamm urplötzlich mit einer einzigen schwungvollen Bewegung herum und rammte die lanzenförmige Spitze dem Beamten zu seiner Linken mit brutaler Gewalt von vorne in den Hals. Ohne Probleme durchdrang das an den Kanten mit einer gewissen Schärfe versehene Schaufelblatt das Gewebe. Mit einem gurgelnden Geräusch griff sich der Wärter an den Kehlkopf und brach dabei zusammen. Aus der schrecklichen Wunde sprudelte unaufhaltsam das Blut. Während der Mann langsam auf die Knie sank, riss ihm der Gefangene das Pfefferspray vom Gürtel und schnellte herum. Der zweite Beamte war für einen Augenblick vom Schock wie gelähmt. Sein Verstand wollte das Geschehen einfach nicht begreifen. Ehe er richtig erfasste, was da gerade geschah, bekam er eine volle Ladung des Pfeffersprays mitten in die Augen. Mit einem heiseren Schrei fuhren seine Hände hoch zu seinem Gesicht. Er war völlig blind und taumelte nach vorne in Richtung Grab. Hasenstamm warf das Pfefferspray zur Seite, dann riss er dem Beamten die Schusswaffe aus dem Holster. Der war so mit dem Schmerz in seinen Augen beschäftigt, dass er den Waffenraub überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Hasenstamm gab ihm einen heftigen Stoß und er schlug mit einem hohlen Laut auf dem Sarg auf. Die beiden Frauen, die schon fast den Ausgang des Friedhofs erreicht hatten, hörten das Geräusch und blieben wie angewurzelt stehen. Wie versteinert verfolgten sie das unfassbare Geschehen aus der Distanz. Hasenstamm bückte sich, riss die Schusswaffe aus dem Holster des blutenden Beamten und warf sie ins Grab. Das Röcheln des Mannes schallte grausig über den Friedhof. Schnell steckte sich der Gefangene die andere Waffe vorne hinter den Hosenbund, dann zerrte er die Handschellenschlüssel vom Gürtel des Sterbenden und steckte auch das Klappmesser ein. Dabei warf er einen schnellen Blick zum VW-Bus. Der Fahrer hatte die Geschehnisse am Grab natürlich mitbekommen. Gerade riss er die Fahrertür auf und sprang mit einem Satz heraus. In der Hand hielt er seine Dienstpistole und stürmte damit durch das Friedhofstor.

 

„Verschwinden Sie!“, brüllte er den beiden Frauen heftig winkend zu, die sich aus ihrer Erstarrung lösten und vom Gelände stolperten.

„Hasenstamm, werfen Sie die Waffe weg und heben Sie die Hände hoch, sonst muss ich von der Schusswaffe Gebrauch machen!“ Er war aber keineswegs so selbstsicher, wie er tat. Sein Warnschuss schallte über das Gelände.

Immer schön nach Vorschrift, dachte Hasenstamm grimmig, hob die Waffe und gab einen Schuss in Richtung des Beamten ab, der sich daraufhin hinter einen Grabstein warf. Offenbar sah er dann ein, dass diese Einzelaktion von ihm sinnlos war. Als sich Hasenstamm seinerseits hinter ein Grabmal in Deckung brachte, drehte er sich um und rannte im Zickzack geduckt zum Fahrzeug. Er musste Verstärkung anfordern. Mit zitternden Händen wählte er die Nummer der Einsatzzentrale.

Hasenstamm gab sich nicht länger mit den Beamten ab. Er hatte nicht vor, sich hier ein Feuergefecht zu liefern. So schnell wie möglich musste er hier weg. Zügig, aber ohne Hast öffnete er die Handschellen und warf sie achtlos hinter sich ins Grab. Angespannt wandte er sich ab und musterte die Hecke in Richtung Wald. Eine weniger dichte Stelle mit schwächerem Bewuchs hatte er schon bemerkt, als man ihn zum Grab führte. Mit einem schnellen Blick überzeugte er sich davon, dass ihm von dem übrig gebliebenen Vollzugsbeamten keine Gefahr drohte, dann nahm er aus dem Stand Anlauf und brach mit Gewalt durch die Zweige. Die Kratzer, die ihm einige störrische Zweige ins Gesicht schlugen, ignorierte er.

Als der Notarzt später eintraf, konnte er nur noch den Tod des einen Vollzugsbeamten feststellen. Der extrem wuchtige Stoß mit dem scharfen Schaufelblatt hatte die Halsschlagader, die Luft- und die Speiseröhre durchtrennt. Die Obduktion würde ergeben, ob der Beamte verblutet oder womöglich schon vorher an seinem eigenen Blut erstickt war. Der zweite Vollzugsbeamte, dessen Gesicht und Augen von dem aggressiven Pfefferspray verätzt waren, wurde versorgt und dann ins nächste Krankenhaus transportiert. Der Mann stand massiv unter Schock.

Die vom Fahrer des VW-Busses verständigte Polizei traf kurz nach dem Notarzt ein. Die Streifenpolizisten begutachteten kurz den Tatort, dann verständigten sie die Mordkommission in Würzburg. Anschließend sperrten sie den Friedhof ab und verwehrten den immer zahlreicher werdenden Neugierigen aus dem Dorf den Zutritt. Die Nachricht von der Bluttat auf ihrem Friedhof hatte sich in dem kleinen Spessartdorf wie ein Lauffeuer herumgesprochen und heizte die Gerüchteküche enorm an.


4

Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Brunner, Leiter der Würzburger Mordkommission, traf gleichzeitig mit der Spurensicherung in einem mit allem möglichen elektronischen Equipment ausgestatteten Einsatzbus am Tatort ein. Sein Stellvertreter, Kriminalhauptkommissar Kauswitz, saß während der Fahrt am Steuer, so dass sich Brunner in der Zeit telefonisch erste Einzelheiten über den Tatablauf und den Täter verschaffen konnte. Nachdem er erfahren hatte, dass es sich bei dem flüchtigen Täter um einen gewissen Wolfgang Hasenstamm handelte, schlugen bei ihm sofort alle Alarmglocken. Der Name war ihm durchaus in Erinnerung. Er selbst hatte vor ungefähr sieben Jahren, damals noch als stellvertretender Leiter der Mordkommission, im Fall eines getöteten Forstbeamten ermittelt. Der Mann war in einem Revier, etwa zwanzig Kilometer von Wiesmühl entfernt, abends auf die Jagd gegangen und am nächsten Morgen nicht mehr zurückgekehrt. Ein Kollege fand ihn, schrecklich zugerichtet, im Wald.

Im Rahmen der Ermittlungen geriet auch der Name Hasenstamm ins Visier der Kriminalpolizei. Die Beamten hatten aus der Bevölkerung anonyme Hinweise erhalten, dass ein Richard Hasenstamm und sein Sohn Wolfgang, die in der Nähe des Dorfes in einer heruntergekommenen Mühle lebten, wildern würden. Allerdings gab es keine konkreten Zeugenaussagen. Natürlich war Brunner dieser Spur nachgegangen und hatte das Umfeld der Hasenstamms gründlich durchleuchtet. Er erinnerte sich noch ganz genau, weil der Fall so frustrierend gewesen war. Vater und Sohn hatten jede Aussage verweigert. Die Mutter bestätigte, dass die beiden Männer zum Tatzeitpunkt in der Mühle waren. Eine Tante, die mit in der Mühle lebte, schwieg.

Im Umfeld ermittelten die Beamten, dass Wolfgang Hasenstamm Zimmermann gelernt hatte, dann längere Zeit auf Wanderschaft gewesen und irgendwann wieder aufgetaucht war. Er brachte einen jungen Wolfshund mit, der mit ihm in der halb verfallenen Mühle am Rande von Wiesmühl lebte und ihm praktisch nicht von der Seite wich. Die Menschen meinten, der Hund sei gefährlich. Da der tote Förster am Hals Bisswunden von einem großen Raubtier aufzeigte, bekam man eine richterliche Durchsuchungsanordnung und durchforstete die Mühle. Aber man fand weder Hinweise auf illegale Aktivitäten der beiden noch den Hund. Wolfgang Hasenstamm gab damals an, das Tier sei ihm entlaufen. Es gelang den Beamten allerdings, am Fressnapf des Hundes Genmaterial sicherzustellen. Man verglich es mit den Spuren, die man an der Wunde des Försters gefunden hatte. Sie waren übereinstimmend. Hasenstamms Wolfshund hatte also den Förster angefallen. Es war allerdings nicht feststellbar, ob das Tier auf den Förster gehetzt worden war oder aus eigenem Antrieb angegriffen hatte. Blieb nur noch zu klären, wer den Pfeil abgeschossen hatte, der für sich alleine gereicht hätte, den Förster zu töten.

Als die Beamten Wolfgang Hasenstamm festnehmen wollten, war er verschwunden. Richard, der zweite als Täter in Frage kommende Verdächtige, bekam von seiner Frau und seiner Schwester für die Tatzeit ein Alibi und musste wieder aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Zu seinem Sohn befragt, verweigerte er die Aussage. Er blieb zwar im Fokus der Ermittler, verhielt sich aber vollständig unauffällig. Damals begann die Jagd auf Wolfgang Hasenstamm. Sie gestaltete sich allerdings äußerst schwierig. Er hatte sich offenbar mit seinem großen Wolfshund in die Wälder zurückgezogen. Immer wieder fanden Jäger und Förster Spuren, dass in den Spessartrevieren gewildert wurde. Die Pfotenabdrücke eines großen Wolfes in der Nähe eines toten Rehs oder eines Hirschkalbs sprachen dabei eine beredte Sprache. Hasenstamm und der Wolf teilten sich dabei wohl die Beute, denn Teile des Wildes zeigten Fraßspuren, andere Stücke waren mit dem Messer aus den Kadavern herausgetrennt. Man verdächtigte Hasenstamm, von den Höfen der Bauern Enten, Gänse und Hühner zu stehlen. Gelegentlich wurde auch in Kellern eingebrochen. Straftaten, die auch ihm zugeordnet wurden. Erwischt wurde er nie. Als ein Förster an einem Morgen ein frisch gerissenes Reh und bei der Beute eindeutige Wolfs- und Schuhspuren fand, verständigte er sofort die Polizei. Eberhard Brunner war eine Stunde später mit zwei Hundeführern und drei weiteren Beamten am Riss. Zunächst kam Rex, ein erfahrener Deutscher Schäferhund, zum Einsatz. Der kräftige Rüde nahm sofort die Fährte auf. Der zweite Hundeführer folgte mit seinem jungen Dobermannrüden Sascha in einigen Meter Abstand hinterher. Sascha hatte erst vor kurzem seine Ausbildung abgeschlossen und sollte erst dann zum Einsatz kommen, wenn der Erfolg der Suche abzusehen war. In Begleitung des Försters, der als ortskundiger Führer diente, ging es fast einen Kilometer über Stock und Stein, rauf und runter über die Höhenzüge des Spessarts. An Rex’ Verhalten erkannte der Beamte, dass der Rüde noch immer auf der Fährte war. Gelegentliche Schuh- und Pfotenabdrücke im weichen Waldboden gaben weitere Hinweise. Vor einer dichten Fichtenanpflanzung zog Rex plötzlich stark am Riemen. Der Förster erklärte ihnen, dass es sich um eine mehrere Hektar große Anpflanzung handele, die sehr dicht und daher nur sehr schwer zu durchdringen sei. Nach kurzer Beratung entschlossen sich die beiden Hundeführer, ihre Hunde von der Leine zu lassen, so dass sie sich frei vor ihnen bewegen konnten. Die beiden Beamten wollten ihnen so schnell wie möglich folgen. Rex und Sascha waren gleich zwischen den dicht stehenden Bäumen verschwunden. Schon nach wenigen Metern mussten die nachfolgenden Männer feststellen, dass der Forstbeamte recht hatte, das Gehölz war wirklich fast undurchdringlich. Teilweise mussten die beiden Beamten auf allen vieren kriechen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Von ihren Hunden hörten sie zunächst nichts mehr. Beide waren so abgerichtet, dass sie Laut geben würden, wenn sie auf etwas gestoßen wären.

Die beiden Männer verloren langsam jegliches Zeitgefühl. Sie verständigten sich gegenseitig durch Zurufe, da sie kaum Sichtkontakt hatten. Plötzlich hörten sie ein ganzes Stück vor ihnen wütendes Bellen, dann lautes Knurren. Kurz darauf rumpelte es laut, dabei hörte man ein wildes, fauchendes Knurren, das wenig später von heftigem Schmerzensgejaule unterbrochen wurde. Das war eindeutig Kampfeslärm! Wahrscheinlich waren die Hunde auf den Wolf gestoßen und er stellte sich seinen Verfolgern. Die beiden Beamten ließen alle Vorsicht fahren. Mit Armen und Beinen wühlten sie sich durch die Zweige in Richtung Kampfplatz. Sie mussten ihren Hunden unbedingt zu Hilfe eilen! Als sie Minuten später, völlig verschwitzt, verdreckt und mit Fichtennadeln bedeckt mit gezogenen Dienstwaffen vor ihren vierbeinigen Kameraden standen, zerriss es ihnen fast das Herz. Rex lag mit durchbissener Kehle im Dreck und zuckte nur noch schwach. Sascha blutete ebenfalls heftig aus zahlreichen Bisswunden, sein Bauch war aufgerissen und die Eingeweide hingen ihm heraus. Von dem Wolf war nichts mehr zu sehen. Den beiden Beamten war völlig klar, dass es für beide Hunde keine Rettung mehr gab. Mit Tränen in den Augen hoben sie ihre Pistolen und erlösten Rex und Sascha von ihren Leiden. Hasenstamm wurde nicht gesehen.

Später kamen die Ermittler niemals mehr so nahe an Hasenstamm und seinen Wolfshund heran.

Im Prozess kam natürlich auch der tragische Tod von Wolfgang Hasenstamms Freundin zur Sprache. Anna Drescher war eine Waise, die von der Landwirtsfamilie Karl-Heinz und Doris Lederer aus Wiesmühl mit zehn Jahren adoptiert worden war. Die Eltern des Mädchens, die als Entwicklungshelfer in Afrika gearbeitet hatten, waren bei einem Flugzeugabsturz in Kenia ums Leben gekommen. Doris Lederer war die Schwester der verunglückten Yvonne Drescher und hatte das Kind später mit ihrem Mann zu sich geholt. Anna war ein rebellisches Kind. Von Afrika her ein sehr eigenständiges, von Zwängen weitgehend freies Leben gewöhnt, ordnete sie sich nur mühsam in den Haushalt der sehr konservativen, stark religiös geprägten Adoptiveltern ein. Da sie in Afrika von ihren Eltern unterrichtet worden war, empfand sie die Schule in Deutschland als einengend und den Lehrstoff als wenig sinnvoll. Entsprechend unkooperativ verhielt sie sich. Nach einer Ehrenrunde schaffte sie mit Ach und Krach dann doch das Abitur.

Letztlich ließ sich nicht mehr genau ermitteln, wie die junge Frau und Hasenstamm zusammengekommen waren. Vermutlich verliebte sich Anna in den unabhängigen, jungen Mann, weil er ein Leben führte, das sie an ihre ungezwungene, freie Jugend in Afrika erinnerte. Es konnte damals nicht festgestellt werden, ob sie an den Straftaten Hasenstamms in irgendeiner Form beteiligt gewesen war. Hasenstamm verneinte dies, schwieg sich im Übrigen aber beharrlich aus. Jedenfalls half sie ihm auf der Flucht, wobei sie dann tödlich verunglückt war. Als dieser Punkt im Strafverfahren zur Sprache kam, konnte man bei Wolfgang Hasenstamm erstmals eine emotionale Regung erkennen. Bei der Bestätigung Kerners, dass er als Staatsanwalt den Schießbefehl auf das Fluchtauto empfohlen hatte, sprang Hasenstamm wutentbrannt auf und musste vom Justizwachtmeister mit Gewalt auf seinen Platz zurückgedrückt werden.

Brunner würde niemals das Verhalten von Vater und Sohn Hasenstamm beim weiteren Prozessfortgang vergessen. Lange Zeit waren beide wie versteinerte Monumente vor ihren Richtern gesessen und hatten geschwiegen. Simon Kerner gelang es nicht, das Schweigen der Männer zu brechen.

 

Von einem Tag auf den anderen änderte sich diese Haltung der Angeklagten. Sehr zur Überraschung der Prozessbeteiligten erklärten die Verteidiger der beiden am zweiten Verhandlungstag, dass Wolfgang Hasenstamm eine Aussage machen wolle. Mit dürren Worten gestand er, auf den Förster Wohlfahrt einen Pfeil abgeschossen zu haben, weil dieser mit seinem Gewehr auf ihn geschossen hatte. Der Wolfshund habe ihn bedroht gesehen und darauf den Förster aus eigenem Antrieb angefallen. Sein Vater sei zwar an gemeinsam begangener Jagdwilderei beteiligt gewesen, habe mit dem Tod des Forstbeamten aber nichts zu tun. Richard Hasenstamm bestätigte die Aussage seines Sohnes.

Aufgrund dieser beiden Aussagen kam das Gericht zu der Überzeugung, dass Wolfgang Hasenstamm des Totschlags und der schweren Jagdwilderei überführt sei. Zur Aburteilung wegen Mordes reichten die Beweise nicht. So wurde er zu dreizehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil nahm Wolfgang Hasenstamm wortlos und mit undurchdringlicher Miene an.

Richard Hasenstamm wurde vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen, jedoch wegen schwerer Jagdwilderei zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.

Wie es der Anwalt Hasenstamms geschafft hatte, ihm zur Beerdigung seines Vaters einen bewachten Ausgang zu verschaffen, war Brunner rätselhaft. Brunner vermutete, dass sich Hasenstamm in der Haft ordentlich geführt hatte und der Gefängnispsychologe dadurch zu der Überzeugung gekommen war, diese Aktion verantworten zu können. Eine folgenreiche Fehlentscheidung! Hasenstamm hatte alle getäuscht. Die Umstände seiner Befreiungsaktion bewiesen, zu welcher Brutalität dieser Mann fähig war.

Während Brunner auf dem Friedhof die Umstände der Tat untersuchte, sorgte Kauswitz dafür, dass sämtliche denkbaren Stellen, die Hasenstamm nach seiner Flucht anlaufen konnte, überwacht wurden. Dazu gehörte insbesondere die heimische Mühle. Außerdem forderte er mehrere Hundeführer an, die die Spur des Geflüchteten verfolgen sollten, solange sie noch warm war. Die Hunde verloren jedoch schon nach wenigen Kilometern die Spur des Flüchtigen, da er offenbar längere Zeit in einem Bach gelaufen war. Die Suchtrupps mussten mit Einbruch der Dunkelheit die Verfolgung aufgeben. Am nächsten Tag veranlasste Eberhard Brunner eine Polizeiaktion, wie sie der Spessart, insbesondere die Gegend um Wiesmühl, noch nicht erlebt hatte.

Noch am Abend rief Eberhard Brunner seinen Freund Simon Kerner zuhause in Partenstein an und berichtete ihm von der geglückten Flucht Wolfgang Hasenstamms. Er verschwieg ihm auch die brutalen Umstände des Ausbruchs nicht. Kerner war sofort alarmiert. Er konnte sich noch sehr gut an den Prozess mit den beiden schweigsamen Angeklagten erinnern. Wolfgang Hasenstamm hatte ihn stundenlang mit brennenden Augen angestarrt. Für Kerner war sofort klar, dass in erster Linie der Wunsch nach Vergeltung für den Tod seiner Freundin die Triebfeder seiner Flucht war.

Die Leitung der Justizvollzugsanstalt, in der Hasenstamm eingesessen war, wurde von der Kriminalpolizei umgehend vom Entkommen des Verbrechers und vom Tod des einen und der Verletzung des anderen Beamten unterrichtet. Die Nachricht von der erfolgreichen Flucht Hasenstamms und deren Umständen verbreiteten sich unter den Strafgefangenen wie ein Lauffeuer. Es gab nur zwei Gefangene, die mit Hasenstamm näheren Kontakt hatten, da sie, getrennt voneinander, eine Zeit lang die Zelle mit ihm geteilt hatten. Einer der beiden stand den Ermittlern am nächsten Tag im Zimmer des Gefängnisdirektors Rede und Antwort. Für seine Kooperationsbereitschaft versprach er sich Vorteile bei der gerichtlichen Prüfung des Erlasses seiner Restfreiheitsstrafe auf Bewährung. Er beschrieb Hasenstamm als ausgesprochenen Einzelgänger, der von allen Gefangenen respektiert wurde. Kurz nach dem Strafantritt Hasenstamms hatte sich ein Vorfall ereignet, der ermittlungstechnisch nie aufgeklärt werden konnte. Der Strafgefangene Dimitri Bulganov, wegen mehrfachen Totschlags zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt, war im Knast der unangefochtene Anführer einer Russengang. Wegen seiner Brutalität, insbesondere gegenüber Neuzugängen unter den Gefängnisinsassen, war er gefürchtet. Was alle Gefangenen mit Spannung erwarteten, ereignete sich zwei Tage nach Hasenstamms Strafantritt beim morgendlichen Duschen. Die Vollzugsbeamten hatten sich auf einen Wink Bulganovs vor den Duschraum zurückgezogen. Es gab im Knast nun einmal eine Hierarchie, die sie stillschweigend duldeten, solange die Ordnung in der Anstalt dadurch nicht gestört wurde. Als die anderen Insassen mitbekamen, was sich da zusammenbraute, verschwanden sie schleunigst aus der Dusche. Lediglich zwei Männer aus Bulganovs Gang blieben zurück.

Was sich im Detail im Duschraum wirklich abspielte, wurde nie aufgeklärt, da alle Beteiligten schwiegen. Letztlich hatte keiner der Männer ein gesteigertes Interesse daran, die Angelegenheit aufzuwühlen. Die Vollzugsbeamten sagten im Rahmen eines Dienstaufsichtsverfahrens aus, sie hätten aus der Dusche klatschende Geräusche gehört, dann einen unterdrückten Schrei. Sie seien von einer harmlosen Rangelei unter Gefangenen ausgegangen. Kurz darauf verließ zu ihrer Verwunderung Hasenstamm völlig gelassen den Raum und nickte den beiden Beamten mit einem merkwürdigen Lächeln zu. Es sollte einer der wenigen Momente gewesen sein, dass man den Gefangenen Hasenstamm lächeln sah. Die Beamten sahen daraufhin in der Dusche nach und fanden zu ihrer Überraschung die Gangmitglieder Bulganovs vor, deren Köpfe ziemlich malträtiert aussahen. Dem einen blutete die Nase, dem anderen schwoll bereits ein Auge zu. Bulganov selbst hatte es aber am härtesten getroffen. Das Handtuch, das sich der Russe aufs Gesicht drückte, war bereits blutgetränkt. Die Beamten bemerkten zu ihrem Entsetzen, dass aus dem linken Auge des Russen ein Fremdkörper herausstand. Die beiden Gangmitglieder des Russen behaupteten stur und steif, dass es sich um einen Unfall handele. Sie hätten unter der Dusche spaßeshalber etwas herumgecatcht, um den Neuen ein wenig zu testen. Dabei sei Bulganov auf den nassen Kacheln ausgerutscht und mit dem Gesicht gegen die Wand der Dusche geknallt. Dabei sei eine Fliese gebrochen und ein Fragment in Bulganovs Auge gedrungen. Das Auge des Russen konnte nicht gerettet werden. Bei der nachfolgenden Untersuchung stießen die Ermittler auf die berühmte Mauer des Schweigens. Die Russen blieben bei ihrer Version der Geschichte und Hasenstamms Kommentar bestand in einem Schulterzucken. Bulganov trug fortan eine schwarze Augenklappe und ging Hasenstamm aus dem Weg. Der Burgfrieden wurde nie gebrochen. Es drang nie nach außen, dass Hasenstamm Bulganov gedroht hatte, ihm beim nächsten Versuch einer Belästigung durch ihn oder seine Vasallen die Eier abzuschneiden. Keiner zweifelte an der Ernsthaftigkeit seiner Drohung.

Auch der kooperative Strafgefangene behauptete, von dem Fluchtplan Hasenstamms keine Ahnung gehabt zu haben. Wolfgang Hasenstamm teilte sich niemandem mit. Er sprach nur das Nötigste. Wie der Gefangene berichtete, hatte sich Hasenstamm nur einmal, es war, wie er sagte, der Jahrestag des Todes seiner Freundin, emotional berührt gezeigt und sein Schweigen ein wenig gebrochen. Dabei habe er sich dahingehend geäußert, dass er ein ausgezeichnetes Personengedächtnis habe und sich ihm alle Gesichter der Menschen, die am Tod seiner Anna beteiligt gewesen waren, eingebrannt hätten.

Diese Informationen wurden umgehend an Eberhard Brunner weitergegeben. Beim Studium der Verfahrensakten stieß er auf der Rückseite eines Blattes auf einen interessanten handschriftlichen Vermerk, den er fast übersehen hätte. Danach hatte man die damalige Anordnung der Ordnungsbehörde, die eine Tötung des als höchst gefährlich eingestuften Wolfshunds Hasenstamms bestimmt hatte, nicht vollzogen. Wenige Monate nach der Verurteilung Hasenstamms stellte ein Wissenschaftler, der im Spessart zu Studienzwecken ein Versuchsgehege mit einem kleinen Wolfsrudel unterhielt, den Antrag, ihm einen ihm zugelaufenen Wolfsrüden zu überlassen. Er benötige Ersatz für einen eingegangenen Leitrüden und garantiere, dass von dem Tier keine Gefahr mehr ausgehen würde. Daraufhin wurde das „Todesurteil“ aufgehoben. Zweck der Studie war es, die Rudelstrukturen einer Wolfsfamilie zu studieren, um daraus Erkenntnisse für das Wolfmanagement in Bayern zu gewinnen. Die Spezies Wolf, die sich in den letzten Jahren als Einwanderer aus dem Osten viele ihrer alten Jagdgründe in Teilen Deutschlands zurückerobert hatte, stand nach Expertenmeinung auch kurz vor der Einwanderung in den Spessart.