Der Schoppenfetzer und der Henkerswein

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»Weißt Du was, wir machen einen Spaziergang. Vielleicht werde ich dann wieder müde. Schlafen wir halt morgen etwas länger.«

Rottmann erhob sich und zog sich an. Öchsle wedelte zaghaft mit dem Schwanz, weil er diesen nächtlichen Ausflug nicht einordnen konnte, dann trippelte er ergeben zur Tür. Grundsätzlich war er von seinem Menschen ja merkwürdige Verhaltensweisen gewohnt.

Wenig später tappten Rottmann und Öchsle am Mainkai entlang in Richtung Alte Mainbrücke.

Mitternacht war lange vorüber. Der Polizeiwächter am heiligen Kilian war mittlerweile durch einen Streifenpolizisten ersetzt worden, der sein Fahrzeug an der Auffahrt zur Brücke in der Nähe des Vierröhrenbrunnens postiert hatte. Der Polizeibeamte, der allein im Fahrzeug saß, konnte die Heiligenfigur von seinem Platz aus einigermaßen im Auge behalten.

Der Beamte war ein Polizeihauptmeister im letzten Dienstjahr, dem man diese Wache aufgetragen hatte. Als abgeklärter Streifenbeamter wusste er, wie man aus einem derartigen Auftrag das Beste machte. So lehnte er sich bequem in den Sitz zurück und lauschte dem Polizeifunk, um bei dieser langweiligen Aufgabe wenigstens ein bisschen Abwechslung zu haben. – Wer konnte es ihm verdenken, dass ihm die Augenlider immer schwerer wurden? Aber selbst wenn er nicht eingenickt wäre, hätte er das Fahrzeug nicht sehen können, das sich auf der anderen Flussseite der Alten Mainbrücke näherte und im Bereich der Auffahrt beim Brückenbäck parkte.

Zwei Männer saßen in dem Auto. Sie blieben erst eine ganze Zeit lang ruhig sitzen und beobachteten die Umgebung. Außer einigen wenigen vorbeifahrenden Spätheimkehrern war keine Menschenseele auf der Straße.

»Schorsch, Du gehst jetzt über die Brücke und siehst nach, ob die Bullen noch immer Wache schieben«, flüsterte Christian Schöpf-Kelle, obwohl dies im Fahrzeuginneren völlig überflüssig war. »Ich mach’ mich jetzt fertig. Wenn Du mir von drüben mit dem Handy grünes Licht gibst, marschier’ ich los. Die ganze Aktion muss schnell über die Bühne gehen. Wenn wir erwischt werden, kann’s gewaltigen Ärger geben. Also, pass auf, dass Du keinen Mist baust!«

Schorsch, ein alter Spezi von Schöpf-Kelle, den dieser mit einem Fünfziger für diese Aktion engagiert hatte, nickte, dann öffnete er die Beifahrertür des alten Kombis und stieg aus. Schöpf-Kelle konnte die Wagentür gerade noch abfangen, die Schorsch mit Schwung zuschlagen wollte.

»Armleuchter!«, entfuhr es dem Journalisten zischend. »Pass doch auf! Soll das ganze Viertel aufwachen?« Dann verließ auch er leise den Wagen. Schorsch war schon auf dem Weg.

Schöpf-Kelle überzeugte sich davon, dass er mit dem Mobiltelefon guten Empfang hatte, dann holte er seinen Rucksack aus dem Wagen und wartete.Es dauerte noch einige Minuten, dann ging der Vibrationsalarm des Handys los.

»An der Auffahrt der Brücke steht ein Streifenwagen. Der Bulle sitzt am Steuer und rührt sich nicht. Sieht so aus, als wäre er eingepennt. Aber wahrscheinlich könnte er die Bodenklappe von seinem Platz aus auch gar nicht sehen.«

Christian Schöpf-Kelle gab ein zufriedenes Grunzen von sich. »Gut. Versteck Dich hinter dem Vierröhrenbrunnen und behalte den Burschen im Auge. Wenn er auf die Brücke geht, sagst Du mir sofort Bescheid. Du musst ihn dann irgendwie ablenken, dass ich wieder abhauen kann. In einer halben Stunde müsste ich alles durchgezogen haben!«

»Ablenken? Wie denn?«, fragte Schorsch ratlos zurück.

»Mann, Du bist vielleicht eine Träne! Lass Dir halt was einfallen! Spiel den Besoffenen oder so was. Das dürfte Dir doch nicht schwerfallen!«

Schöpf-Kelle unterbrach die Verbindung. »O Gott, schmeiß Hirn vom Himmel!«, brummte er und steckte das Handy in die Brusttasche seines Hemdes, damit er einen eventuellen Anruf auch mitbekam.

Mit geschultertem Rucksack marschierte er über die Mainbrücke. Seine innere Anspannung war gewaltig. Schöpf-Kelle liebte Situationen, in denen das Adrenalin durch seine Adern schoss und jeder Nerv des Körpers angespannt war wie eine Gitarrensaite.

Als der Journalist die Figur des heiligen Kilian erreicht hatte, duckte er sich und huschte in die Ausbuchtung der Brücke. Das Polizeifahrzeug hatte er nur als dunklen Schatten erkennen können.

Er wartete einen Augenblick, ob sein Kumpel Alarm schlug. Als das Handy ruhig blieb, zog er einen Sechskantschlüssel heraus, mit dem er die Bodenklappe, die in den Pfeiler führte, öffnen wollte. Es war nur eine Sache von Sekunden, dann war der Riegel geöffnet. Jetzt kam der schwerste Teil: Er musste die Eisenklappe aufbekommen, und das leise.

Er lauschte nochmals, ob jemand über die Brücke kam. Alles war ruhig. Schließlich schob er seine Finger in den Spalt und zog an der Metalltür. Es ging erstaunlich leicht. Er stellte die Klappe aufrecht, dann schaltete er die LED-Leuchte an, die wie ein Mantelknopf an seiner Jacke aussah.

Mit Bedacht betrat er die Treppe, die in die Kammer des Pfeilers führte. Die Metallklappe ließ er dabei wieder langsam über sich zugleiten. Als ihm dies fast geräuschlos gelungen war, stieß er die angehaltene Luft vernehmlich aus. Das war der schwierigste Teil des Unternehmens gewesen.

Er zog eine Stirnlampe aus seinem Rucksack und setzte sie sich auf den Kopf. Im Schein der Leuchte erkannte er in der Steinkammer die Tür, die hinaus ins Freie auf den Eisbrecher führte.

Als investigativer Journalist, der sich nicht zum ersten Mal in einer derartig brenzligen Situation befand, verfügte Schöpf-Kelle selbstverständlich über das erforderliche Werkzeug, um Türen öffnen zu können. Dass er dabei gegen Gesetze verstieß, tat er mit einem Schulterzucken ab.

Er holte das Mäppchen mit den Schlüsseln heraus und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Es dauerte nur wenig mehr als eine Minute, dann hatte er den Schließmechanismus geknackt. Schnell schaltete er die Kopflampe wieder aus und spähte vorsichtig ins Freie.

Das Rauschen des Mains übertönte alle anderen Geräusche. Ein feucht-kühler Luftzug streifte sein Gesicht.

Als Schöpf-Kelle sicher war, dass er nicht beobachtet wurde, kletterte er über die Metalleiter auf den Eisbrecher hinunter. Noch befand er sich im Schutz des Brückenbogens, so dass er von oben nicht gesehen werden konnte.

Er warf einen prüfenden Blick auf den Fluss. Das Wasser bewegte sich eine gute Handbreit unterhalb des gemauerten Vorwerks. Von dort bestand keine Gefahr.

Schöpf-Kelle atmete durch. Jetzt durfte er keine Zeit mehr verlieren. Rasch packte er seine Ausrüstung aus, die er sich von einem ihm bekannten Arzt mit einer phantasievollen Lüge ausgeliehen hatte. Genau genommen hatte sie ihm nicht der Arzt geliehen, sondern dessen Arzthelferin! Eine schnuckelige Maus, die an ihm einen Narren gefressen hatte. Dafür musste er sie einmal ins Theater ausführen. Nicht gerade eine Strafe.

Aus dem Rucksack holte Schöpf-Kelle ein Endoskop, ähnlich dem, das die Beamten benutzt hatten. Im Unterschied zu diesem konnte an das Gerät eine Kamera angeschlossen werden, mit der normalerweise Bilder vom Körperinneren eines Patienten gemacht wurden. Das Instrument war bereits fertig montiert, so dass er den Schlauch des Endoskops nur durch den Spalt im Pfeiler stecken musste.

Die dunkelrote Leuchtdiode an seiner Brust erzeugte genügend Licht, dass er sich orientieren konnte, war aber schon aus geringer Entfernung nicht mehr zu sehen.

An den kühlen Stein gepresst, hatte Schöpf-Kelle nach kurzem Tasten den Riss im Pfeiler gefunden. Hastig schob er das Endoskop hindurch. Er benötigte einige Anläufe, bis er zu dem Hohlraum durchgedrungen war.

Schöpf-Kelle zögerte nicht lange. Er schaltete das Endoskop und die Kamera ein, dann drückte er auf den Auslöser. Dabei bewegte er die Spitze des Schlauchs immer wieder in eine andere Position. Er wollte sichergehen, dass zumindest ein Teil der Aufnahmen brauchbar sein würde.

Als er glaubte, genügend Bilder gemacht zu haben, packte er seine Ausrüstung wieder hastig zusammen. Obwohl die Luft kühl war, lief ihm der Schweiß in Strömen über die Stirn und tränkte das Stirnband der Kopflampe.

Schnell kletterte er die Leiter hinauf, stieg in den Pfeiler ein und schloss die Tür wieder ab. Nachdem er seine Kopflampe ausgeschaltet hatte, hob er vorsichtig die Metallklappe etwas in die Höhe und spähte durch den Spalt auf die Brücke. Soweit er sehen konnte, war die Luft rein. Langsam drückte er die Klappe auf, bis sie fast senkrecht stand, und stieg ins Freie. Er ließ die Öffnung langsam in ihre ursprüngliche Position zurückgleiten und verriegelte den Einstieg schnell mit dem Sechskant.

Das wäre geschafft, dachte er. Seine Anspannung wich einem triumphalen Gefühl.

Das Knurren des Hundes klang hingegen ausgesprochen bedrohlich und vor allen Dingen sehr nah. Schöpf-Kelle spürte, wie ihm schlagartig das Blut aus dem Kopf wich.

»Darf ich mal fragen, was Sie da treiben?« Hinter dem Podest des heiligen Kilian kam die massige Gestalt eines Mannes zum Vorschein. Neben ihm stand der knurrende Hund.

»Ich … bin …, ich … wollte …«, stammelte Schöpf-Kelle.

»Aha«, erwiderte der Mann und trat einen Schritt nach vorn, »das erklärt natürlich alles.«

Durch den veränderten Standort fiel das Licht der Straßenlaterne nun auf das Gesicht des Journalisten.

»Ja, ich werd’ verrückt… der Christian Schöpf-Kelle«, stieß der Mann hervor und trat ein Stück näher, so dass er ebenfalls im Lichtschein stand. »Was treibt denn den rasenden Starreporter der unterfränkischen Printmedien zu mitternächtlicher Stunde in den Untergrund der Alten Mainbrücke?«

Schöpf-Kelle, der seinen ersten Schrecken überwunden hatte, sah genauer hin.

»Ja, der Herr Rottmann… ich dachte schon…« Dem so kalt Ertappten fiel ein großer Felsbrocken vom Herzen. Er kannte den ehemaligen Kommissar und hatte mit ihm immer ganz gut zusammengearbeitet. Mit dem Mann konnte man reden. Allerdings wusste er auch, dass er dem alten Fuchs kein X für ein U vormachen konnte.

 

»Sie dachten, ich wäre der Kollege aus dem Fahrzeug da vorn. Stimmt’s?« Rottmann sah den Mann mit schief gelegtem Kopf und zusammengekniffenen Augen durchdringend an.

Öchsle hatte aufgehört zu knurren, weil er merkte, dass sich sein Herrchen mit dem Fremden ganz entspannt unterhielt. Neugierig schnupperte er am Bein des Mannes.

»Na ja, ich bin gerade dabei, für einen Artikel zu recherchieren …«

»… unter den Fußsohlen von unserem heiligen Kilian? Was soll es da denn Interessantes zu recherchieren geben? Noch dazu mitten in der Nacht! Mein Guter, könnte es sein, dass Sie einen alten Kriminaler auf den Arm nehmen wollen?« Rottmanns Neugierde war geweckt. So heftig, dass er seinen Zahnschmerz für einen Augenblick völlig vergaß.

Schöpf-Kelle wand sich wie ein Aal am Haken. Er wusste, dass er dem Mann eine halbwegs glaubwürdige Erklärung für sein Verhalten geben musste. Er warf einen besorgten Blick in Richtung Brückenauffahrt. Hoffentlich bekam der Polizist im Streifenwagen nichts mit. Sonst wäre die Exklusivität seines Berichts dahin.

Rottmann hatte seine Reaktion natürlich bemerkt und lehnte sich entspannt gegen den Sockel der mächtigen Heiligenfigur. »Also …? Ich höre!«

Schöpf-Kelle entschloss sich, wenigstens einen Teil der Fakten preiszugeben. Ihm war klar, dass Rottmann, wenn er ihn anlog, durch seine Verbindungen zur Kripo sehr schnell die Wahrheit herausfinden würde. Mit mühsam kontrollierter Atmung weihte er sein Gegenüber in groben Zügen ein.

Rottmann ließ den Journalisten zwar ausreden, blickte aber während dessen Ausführungen immer ungläubiger drein. Die Geschichte, die ihm der Journalist da auftischte, war schon mehr als abenteuerlich.

»Sie werden es spätestens übermorgen in der Presse lesen können«, schloss Schöpf-Kelle seinen Bericht. »Sie werden sicher verstehen, dass ich jetzt mit diesem Exklusivmaterial schleunigst in die Redaktion muss, um die Bilder zu bearbeiten und meinen Artikel zu schreiben.«

Er sah Rottmann bittend an.

Der Ex-Kommissar trat einen Schritt zur Seite. »Verschwinden Sie schon. Wenn Sie mir allerdings einen Bären aufgebunden haben …« Er hob drohend seinen Finger. »Ich weiß ja, wo ich Sie finde!«

Schöpf-Kelle bedankte sich rasch, dann verschwand er hastig in die Richtung, aus der er gekommen war.

Erich Rottmann sah ihm einen Moment lang nach, dann stiefelte er ebenfalls weiter in Richtung Brückenbäck. Er wollte die Löwenbrücke überqueren und so den Rundgang beenden.

Sein Zahn begann sich wieder bemerkbar zu machen. Es würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als endlich zum Zahnarzt zu gehen. Lange genug hatte er den Termin vor sich hergeschoben. Gleich morgen würde er in der Praxis anrufen und sich einen Termin geben lassen.

Als Rottmann außer Sicht war, eilte Schöpf-Kelle zu seinem Auto. Von dort aus sah er Rottmann und Hund hinter der nächsten Ecke verschwinden. Jetzt griff er zum Handy, um Schorsch Entwarnung zu geben. Während er auf seinen Kumpel wartete, bemerkte er erst, dass sein T-Shirt von Schweiß durchnässt war. Er zog es hoch und wischte sich über das feuchte Gesicht. Wer konnte denn ahnen, dass sich der ehemalige Leiter der Mordkommission nachts auf der Alten Mainbrücke herumtreiben würde?

Es dauerte nicht lange, bis Schorsch auftauchte. Während er einstieg, startete Schöpf-Kelle den Motor. Dabei hielt er nur triumphierend die Daumen in die Höhe.

»Bei Dir alles klar? Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?«

»Nein«, entgegnete Schorsch und gähnte ausgiebig. »Da war nur so ein Alter mit Hund.Völlig harmlos. Der Polizist im Streifenwagen pennt noch immer. Wenn Du nichts dagegen hast, würde ich mich jetzt auch ganz gern in mein Bett verziehen.«

Schöpf-Kelle gab wortlos Gas. Er verzichtete darauf, seinen Mitstreiter darüber aufzuklären, dass er gerade der schärfsten Schnüffelnase von Würzburg begegnet war. Von wegen harmlos!

Nachdem Schöpf-Kelle seinen Spezi abgesetzt hatte, gab es für ihn nur noch ein Ziel: den Computer in der Redaktion. Er musste sehen, wie die Bilder geworden waren. Denn eine zweite Chance würde er nicht bekommen.

In den verschwitzten Klamotten fuhr er zum Heuchelhof und betrat die Redaktion. Hastig startete er seinen Laptop und legte den Kamerachip in das Kartenlesegerät des Computers ein. Mit glänzenden Augen betrachtete er die Bilder, die er geschossen hatte. Die ersten waren zu dunkel und es war kaum etwas darauf zu erkennen. Offenbar hatte er die Spitze des Endoskops in die falsche Richtung gehalten.

Doch dann verschlug es ihm fast den Atem. Bildschirmgroß starrten ihm die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels entgegen. Auf einem anderen Foto war unterhalb des Schädels das Skelett auszumachen. Es sah ganz so aus, als wäre der Tote vollständig erhalten.

Schöpf-Kelle lehnte sich im Bürostuhl zurück. Für ihn bestand kein Zweifel, dass man hier in Würzburg auf einen sensationellen Fund gestoßen war. In Gedanken formulierte er bereits eine Schlagzeile, die in den nächsten Tagen und Wochen mit seinen Exklusivbildern durch die Presseagenturen gehen würde: »Würzi, der rätselhafte Tote im Brückenpfeiler!«

Der Mann beugte sich über das Formular, setzte den Kugelschreiber auf und schrieb etwas steif seinen Namen auf die gestrichelte Linie: Rüdiger Maybaum. Zehn Jahre lang hatte er kaum Gelegenheit gehabt, seine Unterschrift unter ein Dokument zu setzen. Da musste der Kopf den ungelenken Fingern erst die richtigen Befehle geben, um die Bewegungen richtig zu koordinieren.

Er richtete sich wieder auf. Heute war der Tag, den er schon lange herbeigesehnt hatte. Der Tag, der ihm die Freiheit schenken sollte. Der Tag seiner Entlassung. Der Tag, vor dem er sich gefürchtet hatte.

Der Verwaltungsleiter der Justizvollzugsanstalt St. Georgen, in der Nähe von Bayreuth gelegen, zog den unterschriebenen Vordrucksatz zu sich heran und riss das unterste Blatt ab.

»So, Herr Maybaum, jetzt gehen Sie bitte noch rüber ins Zimmer 135 und holen sich Ihre persönlichen Sachen, dann nebenan an die Kasse. Dort bekommen Sie Ihren Arbeitslohn ausbezahlt, den wir für Sie in den ganzen Jahren angespart haben. Anschließend sind Sie ein freier Mann. Versäumen Sie nicht, sich möglichst schnell bei der Agentur für Arbeit zu melden, damit Sie auf die Warteliste kommen.«

Der Verwaltungsleiter warf einen Blick in die Papiere, dann sah er den vor ihm sitzenden Mann an. »Sie haben als künftigen Wohnsitz Würzburg in Unterfranken angegeben. Haben Sie dort persönliche Bindungen?«

Der Strafgefangene, besser gesagt: der ehemalige Strafgefangene nickte knapp. »Ich habe vor meiner Verurteilung in einem Dorf in der Nähe von Würzburg gelebt … in Obereisenheim, wenn Sie schon einmal davon gehört haben. Wie Sie aus meinen Akten ersehen können, bin ich gelernter Winzer. Ich hoffe, dass ich bei einem der Weingüter Arbeit bekomme. Im Weinberg werden immer fleißige Hände benötigt.«

»Vielleicht haben Sie auch die Möglichkeit, bei einer der Rettungsorganisationen unterzukommen«, stellte der Verwaltungsleiter fest. »Sie haben ja ihre Haftzeit genutzt und die Ausbildung zum Rettungssanitäter durchlaufen. Melden Sie sich auf jeden Fall umgehend bei Ihrem Bewährungshelfer, der wird Sie entsprechend unterstützen.« Er erhob sich.

Auch der ehemalige Strafgefangene stand auf. Das Hemd, die Jeans und die Lederjacke, die er trug, stammten aus dem Kleiderfundus der Justizvollzugsanstalt. Es handelte sich um getragene, aber noch guterhaltene Kleider, die aus Spenden stammten. Seine eigenen Kleidungsstücke, die er bei seinem Haftantritt vor zehn Jahren getragen hatte, waren schon vor langer Zeit im Müll gelandet. Sie hätten ihm auch mit Sicherheit nicht mehr gepasst.

Maybaum hatte sich im Knast nicht hängen lassen. Regelmäßig hatte er Krafttraining betrieben und in der Volleyballmannschaft gespielt. So war er über die Jahre drahtiger und schlanker geworden. Obwohl er sich schon im sechsten Jahrzehnt seines Lebens befand, war er topfit und konnte es an Körperkraft leicht mit wesentlich jüngeren Männern aufnehmen. Nur sein grauer Vollbart zeugte von seinem fortgeschrittenen Alter.

Der Verwaltungsleiter gab dem ehemaligen Häftling die Hand und begleitete ihn zur Tür. »Viel Glück, Herr Maybaum! Ich gehe mal in Ihrem Interesse davon aus, dass wir uns nicht wiedersehen werden.«

Sein Gegenüber nickte wortlos.

Die übrigen Formalitäten waren schnell erledigt. Zwanzig Minuten später öffnete sich mit einem Knarren die kleine unscheinbare Pforte, durch die der entlassene Häftling hinaus in die Freiheit schritt.

Als hätte er eine Schleuse zwischen zwei Welten durchschritten, strömte unvermittelt das pulsierende Leben der Stadt auf ihn ein. Es war ein Schock. Wie betäubt blieb er stehen.

Verkehrslärm, Kindergeschrei, das Geräusch eines Hubschrauberrotors drangen auf ihn ein. Die Vollzugsanstalt lag inmitten eines Wohngebiets.

Langsam entfernte er sich vom Tor, drehte sich um und betrachtete das Schild mit der Aufschrift Markgrafenallee 49. Eine Adresse, die sich in sein Gehirn eingebrannt hatte und die er den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen würde.

Nach diesem letzten Blick drehte er sich um, griff die kleine Sporttasche, die seine ganze Habe enthielt, fest am Griff und lief entschlossen los. Er hatte nicht vor, auch nur einen Moment länger in dieser Stadt zu bleiben, als es nötig war.

Am Bahnhof löste er eine einfache Fahrt nach Würzburg. Wenig später saß er allein in einem Abteil der Regionalbahn. Als der Zug ruckelnd anfuhr, schloss er für einen Augenblick die Augen. Endlich, endlich war es so weit! Die rhythmisch ratternden Räder des Zuges brachten ihn Kilometer für Kilometer der Stadt näher, in der sein Unglück begonnen hatte. All die Jahre, eingeschlossen in seiner Zelle, hatte er sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn er dorthin zurückkehren würde.

Die Stimme des Schaffners riss ihn aus seinen Gedanken. »Die Fahrscheine, bitte!«

Maybaum holte den Fahrschein aus der Tasche und ließ ihn abstempeln. Mit einem routinierten Gruß marschierte der Bahnbedienstete weiter. »Gute Reise!«

Maybaum nickte zurück, dann starrte er hinaus auf die vorbeihuschende Landschaft. Eine Welt ohne Gitter und ohne Mauern. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, sich in dieser ungewohnten Weite zu verlieren.

Fast genau zehn Jahre war es her, dass er vom Schwurgericht des Landgerichts Würzburg wegen Totschlags verurteilt worden war. Der vorsitzende Richter hatte ihm bei der mündlichen Urteilsbegründung gesagt, dass man die Tatsache, dass er sofort geständig gewesen war, zu seinen Gunsten bewertet hatte. Trotzdem blieb er nach seiner Verurteilung weiterhin in Untersuchungshaft. Das Schwurgericht hatte den Haftbefehl wegen bestehender Fluchtgefahr nicht aufgehoben. Bis zum Strafantritt war er in der Justizvollzugsanstalt in Würzburg geblieben, ehe er schließlich für den Strafvollzug nach Bayreuth verlegt worden war.

Er hatte sich eigentlich vorgenommen, nicht wieder in Grübeleien zu verfallen. Aber die Gespenster der Vergangenheit kamen aus ihren finsteren Löchern und drängten sich in seine Gedanken.

Er wusste, dass er seine Strafe zu Recht bekommen hatte. Allerdings hatten damals Personen und Umstände eine Rolle gespielt, von der das Gericht niemals erfahren hatte. Wäre dies der Fall gewesen, wären noch weitere in die Sache verwickelt worden. Er hatte geschwiegen und sich als Sündenbock hergegeben, weil man ihm versprochen hatte, sich um seine Familie zu kümmern. Das war dann aber nicht geschehen. Seine Familie war an dieser Verurteilung zerbrochen. Er hatte im Gefängnis gesessen und nichts dagegen tun können.

Mit finsterer Miene starrte er aus dem Fenster. Es gab mehrere Menschen in dieser Stadt, die für das alles büßen mussten. Dieser brennende Wunsch hatte ihn all die Jahre aufrechterhalten.

Als er in Würzburg den Bahnsteig betrat, schallte ihm die Lautsprecheransage entgegen: »Grüß Gott, meine Damen und Herren, willkommen in der Universitätsstadt Würzburg!«

Der Mann hob verwundert die Augenbrauen. Zehn Jahre zuvor hatte die Ansage, wenn er sich recht erinnerte, noch ganz anders geklungen. Ihm war klar, dass nicht nur er älter geworden war, sondern dass sich in der Zwischenzeit die Welt und auch Würzburg verändert hatten.

Über die Treppe und durch die Unterführung hindurch erreichte er die Bahnhofshalle. Als er sich unvermittelt in der ungewohnten Menschenmenge wiederfand, raubte ihm die Nähe der Leute für einen Augenblick fast den Atem.

 

Er sah zu, dass er schleunigst aus dem Strom der Reisenden herauskam. Dabei landete er vor dem Zeitungskiosk gegenüber den Fahrkartenschaltern. Spontan ging er hinein und erwarb die neueste Würzburger MAIN-POSTILLE. Von der Titelseite schrie ihm eine riesige Schlagzeile entgegen: »Würzi, der Tote im Brückenpfeiler! — Die Alte Mainbrücke als Grab eines Unbekannten«. Daneben war ein düsteres Foto abgebildet, auf dem, offenbar nur von einem schwachen Blitzlicht erhellt, die bleckenden Zähne eines Totenschädels zu erkennen waren.

Maybaum klemmte sich die Zeitung unter den Arm und verließ den Bahnhof. Nach wenigen Metern blieb er stehen und nahm den Platz wie eine Momentaufnahme in sich auf. Hier hatte sich seiner Erinnerung nach nur wenig geändert. Menschen hetzten über den Platz. Straßenbahnen bestimmten das Bild. Auf dem Rasen vor dem Kiliansbrunnen hockte eine Gruppe jugendlicher Gestalten in schwarzen Klamotten, wild gestylten Haaren, umgeben von mehreren Hunden und jeder Menge Müll. Ein befremdlicher erster Eindruck, den ihm seine Heimatstadt vermittelte.

Maybaum betrat ein kleines Stehcafé in einem der Pavillons, bestellte einen Kaffee und eine Butterbrezel, zog sich an einen der Bistrotische zurück und las interessiert den Zeitungsartikel.

Würzi, der Tote im Brückenpfeiler!

Die Alte Mainbrücke als Grab eines Unbekannten?

Der zufällige Fund eines Skeletts in einem der Brückenpfeiler der Alten Mainbrücke dürfte aus wissenschaftlicher Sicht eine echte Sensation darstellen. Denn dass es sich bei dem Toten um eine Leiche aus der grauen Vorzeit unserer Stadt handelt, steht außer Frage. Dieser einmalige Fund ist nur vergleichbar mit dem Auffinden des legendären Ötzi im Ötztal in Österreich. Was liegt näher, als den unbekannten Toten » Würzi« zu nennen? Die Frage, wie und vor allen Dingen warum dieser Mensch in den Brückenpfeiler gekommen ist, gibt zu vielen Spekulationen Anlass. Das Einmauern von Menschen als Strafe für besonders verwerfliche Taten ist für das Mittelalter historisch belegt. Bis jetzt war aber nicht bekannt, dass diese besonders grausame Hinrichtungsmethode auch in Würzburg praktiziert wurde.

Im Augenblick befassen sich die Rechtsmediziner und die forensischen Anthropologen der Universität Würzburg mit dem Toten. Ziel ist es zunächst, das Alter des Skeletts zu bestimmen, um es einer Epoche zuordnen zu können. Wir sind sicher, dass dieser Fund noch für viele Überraschungen sorgen wird. Es liegt die Vermutung nahe, dass hier im wahrsten Sinne des Wortes das Grab zu einem finsteren Geheimnis dieser Stadt geöffnet wurde. Eine Stellungnahme der Wissenschaftler war bis jetzt noch nicht zu bekommen. Wir werden weiter berichten.

Maybaum las den Artikel ein zweites Mal. Es war schon merkwürdig, dass dieser spektakuläre Fund eines auf unmenschliche Weise Eingekerkerten mit seiner Heimkehr nach Würzburg zusammenfiel. Sollte er dies als ein Omen betrachten?

In Gedanken versunken, starrte er zum Fenster hinaus auf die Menschen, die hastig vorübereilten. Genussvoll trank er seinen Kaffee und aß die Brezel. Es musste die Würze der Freiheit sein, die beides so schmackhaft machte.

Wenig später überquerte er im Pulk der Passanten an der Ampelanlage den Röntgenring in Richtung Kaiserstraße und ließ sich von der Menschenmenge durch die Einkaufsstraße treiben.

Keiner der geschäftigen Bürger in der mainfränkischen Metropole, denen er auf diesem Weg begegnete, konnte ahnen, dass an diesem Tag die Vergeltung in die Stadt gekommen war.

Am Barbarossaplatz las Maybaum mit gerunzelter Stirn ein Plakat, das verkündete, dass Würzburg Spaß mache. Dann verlor sich die Spur des Neuankömmlings in den Straßen der Innenstadt.

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