Der Schoppenfetzer und das Riesling-Attentat

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Der Präsident würde dann schon dafür sorgen, dass nicht herumquirlende Pressevertreter die erforderliche Ermittlungsarbeit vor Ort erschwerten.

Rottmann überlegte, wie er dies diskret bewerkstelligen konnte. Landgerichtspräsident Peters befand sich, wie er wusste, im Kellergeschoss bei der Feier. Um ihn zu sprechen, hätte Rottmann den Tatort verlassen müssen. Das aber wollte er nicht. Er erinnerte sich, dass er vorhin das Schlagen einer Tür gehört hatte. Nachdem der Tote das wohl nicht gewesen sein konnte, bestand die Möglichkeit, dass sich noch eine weitere Person auf dem Stockwerk befand. Er dachte an den Justizwachtmeister und – was besonders pikant war – an Bürgermeister Farmer. Unter den gegebenen Umständen war das Auftauchen dieser beiden Männer nun anders zu bewerten.

Rottmann entschloss sich zu einer etwas ungewöhnlichen Vorgehensweise. Er verließ das Büro und trat auf den Flur. Dort zog er sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und rief die Vermittlung des Justizgebäudes an. Diese befand sich zwar im neuen Strafjustizzentrum gegenüber, war aber vermutlich während der Feier besetzt. Die Nummer war ihm von früher noch bekannt. Sie hatte sich nicht geändert.

Seine Vermutung traf zu. Nach zweimaligem Läuten wurde abgehoben. Rottmann meldete sich.

„Servus, Erich“, erwiderte der Mann in der Zentrale, der Rottmann sofort erkannte. „Hier ist Eddie. Ich denke, du bist bei der Feier im Altbau und lässt dir den Schoppen schmecken. Jedenfalls stehst du auf der Gästeliste, die ich hier liegen habe.“ Rottmann war froh, dass der Mann, der gerade Dienst tat, ein altgedienter Justizwachtmeister war, den er noch aus seiner aktiven Zeit kannte. Das würde seine Aufgabe erleichtern.

„Pass auf, Eddie“, erklärte er, „stell mir jetzt keine Fragen, mach nur das, um was ich dich bitte. Es geht um einen Notfall! Geh so schnell wie möglich rüber zur Feier. Dort schnappst du dir den Landgerichtspräsidenten und nimmst ihn zur Seite. Sag ihm, er soll unauffällig in den dritten Stock des Altbaus kommen. Er soll aber unbedingt darauf achten, dass die Presse keinen Wind davon bekommt!“

„Du bist lustig“, gab der Beamte zurück, „ich kann doch hier nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Kann es sein, dass du einen Schoppen zu viel erwischt hast?“ Er lachte. Offenbar hielt er Rottmanns Anruf für einen Scherz.

Rottmann atmete tief durch und zwang sich zur Geduld. „Hör zu, Eddie, das ist kein Witz. Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber es handelt sich wirklich um einen Notfall. Schwing um Gottes willen deinen Hintern rüber in den Altbau und tu, was ich dir gesagt habe! Wenn die Presse etwas mitbekommt, kannst du zukünftig bis zu deiner Pensionierung im Keller Akten abstauben! – Los jetzt, beweg dich!“

Endlich hatte der Justizwachtmeister kapiert, dass es Rottmann ernst war. „Ist ja schon gut!“, brummte er. Dann wurde die Leitung unterbrochen.

Erich Rottmann steckte das Mobiltelefon wieder ein. Dann lehnte er sich gegen einen der alten Heizkörper, die unter den Flurfenstern angebracht waren. Öchsle setzte sich neben ihm nieder und lauschte aufmerksam nach beiden Seiten in den dämmerigen Flur.

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis aus der Richtung des Treppenhauses herannahende Schritte zu hören waren. Öchsle stemmte seine Vorderpfoten gegen den Boden und nahm eine aufrechte Haltung ein. Irgendwie wirkte sein Brustkasten dadurch breiter und kräftiger. Unwillkürlich dachte Rottmann an einen kampfbereiten Boxer – und musste trotz der heiklen Situation leicht schmunzeln.

„Also, Rottmann, ich hoffe, Sie haben eine gute Begründung dafür, dass Sie mich von diesem ausgezeichneten Silvaner weggelockt haben.“ Präsident Peters atmete etwas heftig vom Treppensteigen. Der hochgewachsene Behördenleiter wirkte allerdings eher neugierig als ungehalten oder beunruhigt.

Öchsle schnupperte interessiert an seiner Anzughose, dann begann er mit dem Schwanz zu wedeln. Als Hund eines Kriminalbeamten wusste er natürlich, was er einem höhergestellten Richter schuldig war.

„Tut mir leid, Ihnen das Fest vermiesen zu müssen“, erwiderte Rottmann mit ernster Miene und stieß sich von der Heizung ab. „Erschrecken Sie nicht, aber der Anblick dort drinnen geht ziemlich an die Nieren.“ Dabei deutete er auf das Dienstzimmer gegenüber, aus dessen angelehnter Tür das Licht auf den Flur drang.

„Was ist denn passiert?“, wollte Peters wissen. Er kannte Rottmann noch aus der Zeit, als er bei der Staatsanwaltschaft Würzburg als Leitender Oberstaatsanwalt tätig gewesen war. Ohne auf eine Antwort zu warten, näherte er sich dem Lichtschein und stieß die Tür ganz auf.

Er schützte seine Augen gegen das grelle Licht der Schreibtischlampe, die noch immer auf den Eintretenden zielte. Rottmann hatte im Zimmer selbstverständlich nichts verändert.

Als der Präsident den Mann am Schreibtisch sah, drehte er sich mit einem fragenden Blick zu dem Ex-Kommissar um. „Betrunken?“

„Wenn es nur das wäre, hätte ich Sie sicher nicht verständigt“, erwiderte Rottmann. „Der Mann ist leider tot!“

Peters Miene wurde schlagartig ernst, dann ging er wortlos ins Zimmer hinein und musterte das Gesicht des Mannes.

„Mein Gott, das ist ja Dr. Scharpf! Was macht der denn hier im Zimmer von Oberstaatsanwalt Roland? Vor einer Stunde habe ich mich noch mit ihm unterhalten.“

Rottmann machte sich in Gedanken eine Notiz. Es handelte sich also um ein Büro der Staatsanwaltschaft. Die Justizbehörden waren in den letzten Monaten so oft umgezogen, dass man kaum noch nachvollziehen konnte, welche Behörde im Augenblick in welchem Flur residierte.

Rottmann wies nur wortlos auf das Spritzbesteck neben dem Kopf des Toten.

Präsident Peters musterte das medizinische Utensil mit starrem Blick, dann sah er Rottmann wortlos an. Er wusste, was als unausgesprochene Frage im Raum stand.

„Ich denke, wir werden die Kripo verständigen müssen“, sagte er schließlich leise. „Können Sie das veranlassen? Aber bitte sagen Sie den Beamten, sie sollen das Haus durch den Eingang an der Parkstraße betreten. Ich werde zwischenzeitlich dafür sorgen, dass ein Justizwachtmeister bereit steht, der sie hereinlässt. Außerdem werde ich den Leitenden Oberstaatsanwalt informieren.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Rottmann, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie die Angelegenheit so diskret behandelt haben. Wenn die Presse hiervon erfährt, gibt es einen Riesenskandal.“ Mit einem Blick auf das Spritzbesteck ergänzte er: „Wir müssen erst mal abklären, was hinter dem ersten Anschein steckt.“

Er wandte sich zur Tür. „Ich gehe jetzt wieder runter zu der Veranstaltung, sonst fällt meine Abwesenheit auf. Ich werde dafür sorgen, dass die Feier bald zu Ende geht.“

„Wissen Sie, wo sich Herr Roland aufhält?“, wollte Rottmann noch beiläufig wissen, während er hinter Peters den Raum verließ. Oberstaatsanwalt Roland war, wie Rottmann wusste, unter anderem auch für Betäubungsmittelstraftaten zuständig.

Der Präsident blieb stehen und musterte Rottmann durchdringend. „Sie meinen doch nicht …“

Der Ex-Kommissar zuckte mit den Schultern. „Mit Sicherheit will die Kripo wissen, wo der eigentliche Besitzer des Büros zur Tatzeit war. Es wäre sicher hilfreich, wenn er bei Ankunft der Polizei hier wäre.“

Peters nickte, dann ging er mit langen, schweren Schritten den Flur entlang. Rottmann sah hinter ihm her. Er war froh, im Augenblick nicht in seiner Haut zu stecken. Um den Ärger, den der Mann in den nächsten Wochen mit seinen vorgesetzten Dienstbehörden und der Presse haben würde, beneidete Rottmann ihn nicht.

Er holte sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und wählte die Rufnummer der Polizeieinsatzzentrale. Er hatte sie noch immer als Kurzwahl eingespeichert.

Öchsle hatte es sich mittlerweile auf den Steinplatten des Flurs bequem gemacht. Entspannt streckte er die Hinterläufe. Als erfahrener Hund eines Polizisten nahm er im Einsatz jede passende Gelegenheit wahr, um sich auszuruhen und Kräfte zu sparen. Daran, dass er und sein Herrchen sich im Einsatz befanden, hatte er keine Sekunde lang gezweifelt.

Der alte weißhaarige Mann saß in einem Sessel hinter seinem Schreibtisch und hatte die Zeitung vor sich aufgeschlagen. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würde er lesen. Einem aufmerksamen Beobachter wäre allerdings schnell aufgefallen, dass er schon seit geraumer Zeit mit leerem Blick auf die schwarzen Zeilen der Seite starrte. Seine Augen bewegten sich dabei nicht. Es war offensichtlich, dass er den Inhalt der aufgeschlagenen Artikel gar nicht zur Kenntnis nahm.

Neben der Zeitung stand eine Tasse Darjeeling. Der Tee war mittlerweile ebenso erkaltet wie die Zigarre, die der Mann auf dem Metallaschenbecher daneben abgelegt hatte. Der Ascher bestand aus dem hinteren Teil einer Granate aus dem Zweiten Weltkrieg, die er sich vor einigen Jahrzehnten von einem Schlosser in der richtigen Länge hatte zuschneiden lassen. Ein Erinnerungsstück, das ihm einen prägenden Abschnitt seines langen Lebens für immer vergegenwärtigen sollte.

Der Mann war hager, hoch gewachsen und hatte eine Respekt einflößende Ausstrahlung. Menschen, die ihn nicht näher kannten, schätzten ihn auf rüstige siebzig, nicht zuletzt wegen seines vollen Haares. In Wirklichkeit zeigte der Zeiger seiner Lebenszeit schon auf dreiundachtzig Jahre.

Er hatte in seinem Leben glücklicherweise nur selten einen Arzt in Anspruch nehmen müssen. Seit einigen Tagen ging es ihm allerdings schlecht. Ein Gespenst seiner Vergangenheit, das er längst in die Abgründe seines Gedächtnisses verbannt geglaubt hatte, war unvermutet wieder zum Leben erwacht und machte ihm schwer zu schaffen. Durch eine Pressenotiz in der Zeitung war er auf die Gefahr aufmerksam geworden. Da er wohl der letzte war, der noch einschätzen konnte, welche Bedrohung da aus den Untiefen der Geschichte aufgestiegen war und welche Folgen sie haben konnte, hatte er sich verpflichtet gefühlt, alles dagegen zu unternehmen, was in seinen Kräften stand. Selbst wenn er dabei das Gesetz hatte brechen müssen. Da er selbst körperlich dazu nicht mehr in der Lage war, hatte er sich Hilfe engagiert, ohne seinem Helfer den wahren Grund für sein Anliegen zu offenbaren.

 

Leider war die Aktion missglückt. Er konnte dafür niemandem die Schuld geben. Das Schicksal hatte ihm schon wieder einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht. Seitdem machte er sich große Sorgen, weil ihm die Kontrolle entzogen war.

Der Mann erhob sich schwerfällig und stieß seinen Sessel zurück. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass ihn dieser längst vergessen geglaubte Teil seiner Vergangenheit irgendwann wieder einholen würde. Nicht in dieser Form.

Langsam trat er ans Fenster und sah hinaus in den Garten und auf die fernen Dächer der Stadt. Auf dem frischgemähten Rasen vor der Terrasse stritten sich zwei Amseln um einen Regenwurm. Er nahm es nicht zur Kenntnis.

Schließlich drehte er sich um und griff zum Telefonhörer. Sein Helfer hatte schon seit zwei Tagen nichts mehr von sich hören lassen. Das machte ihm Sorgen.

Es dauerte geraume Zeit, bis am anderen Ende jemand abnahm. Als der alte Mann zu sprechen begann, zitterte seine Stimme leicht.

Erster Kriminalhauptkommissar, kurz EKHK, Weiland hatte heute Spätdienst und ging der Truppe voraus. Die Männer der Mordkommission hatten die Treppe im alten Justizgebäude nehmen müssen, da der Aufzug des Hauses aus Sicherheitsgründen schon lange außer Betrieb war. Die Beamten der Spurensicherung atmeten heftig, da sie die schweren Koffer mit der technischen Ausstattung schleppen mussten.

Rottmann erwartete sie am Treppenabsatz.

„Ach, der Herr Kollege Rottmann“, begrüßte der korpulente Kripobeamte seinen ehemaligen Kollegen, nachdem er den Treppenabsatz erklommen hatte. „Die Einsatzzentrale hat mich informiert, dass du eine Leiche gemeldet hast.“

Er kraulte Öchsle, der interessiert an seinen Hosenbeinen schnüffelte, zur Begrüßung kurz hinter den Ohren. Schwanzwedelnd quittierte der Rüde diese Freundlichkeit. Kollegen begrüßte er immer herzlich.

„Wo ist Krämer?“, wollte Rottmann wissen. Er hatte eigentlich mit seinem ungeliebten Nachfolger im Amt gerechnet. Zwischen Rottmann und Krämer bestand schon lange ein – gelinde gesagt – angespanntes Verhältnis. Man konnte es auch anders ausdrücken: Die beiden konnten sich nicht riechen. Eine Empfindung, die Öchsle teilte.

Weiland war eigentlich der Leiter des Betrugsdezernats. Wegen der zahlreichen Personaleinsparungen bei der Polizei musste er im Rahmen des Einsatzdienstes außerhalb der üblichen Dienstzeiten auch einmal bei der Mordkommission aushelfen.

„Er hält einen Vortrag auf einer Tagung im Bayerischen Wald. Ich darf ihn heute Abend vertreten.“ Weiland grinste. „Wenn er allerdings gewusst hätte, dass ihm hier ein Fall im Kreise der Justizprominenz in den Schoß fällt, wäre er sicher hiergeblieben.“

Die Kollegen kannten alle das Geltungsbedürfnis des neuen Leiters der Mordkommission.

„Wo finde ich denn unseren Kunden“, fuhr Weiland etwas flapsig fort. Rottmann wunderte sich über den angeschlagenen Ton überhaupt nicht. Viele Kriminalbeamte schützten sich auf diese Weise vor den Belastungen ihres Berufs.

Selbstverständlich war Weiland darüber informiert worden, dass er wegen der Presse möglichst diskret vorgehen sollte. Die Brisanz des Tatorts – und des möglichen Täterkreises – war ihm durchaus bewusst.

Rottmann wies zur Tür. Die beiden betraten das Büro.

„Bei dem Toten handelt es sich um Stadtrat Dr. Scharpf. Er war Gast auf der Feier. Ich habe ihm nur den Puls gefühlt“, erklärte er ohne Aufforderung, „ansonsten habe ich nichts berührt.“

Weiland streifte sich Gummihandschuhe über und unterzog die Leiche einer vorsichtigen äußerlichen Untersuchung, ohne natürlich ihre Lage zu verändern. Dabei musste er allerlei Verrenkungen machen. Routiniert griff er von der Seite in die Brusttasche des Jacketts und fischte mit spitzen Fingern eine Brieftasche heraus. Er erhob sich, legte sie auf den Schreibtisch und klappte sie auf. Mehrere Kredit- und Visitenkarten und ein Personalausweis bestätigten die Identität des Toten. Im hinteren Fach der Brieftasche befanden sich einige große Geldscheine, insgesamt fast sechshundert Euro.

„Also, nach einem Raubmord sieht es jedenfalls nicht aus“, stellte Weiland fest. Dann fiel sein Blick auf die Spritze neben dem Glas.

„Hmm“, brummte er und hielt die Spritze vorsichtig, um keine Fingerabdrücke zu verwischen, an der Nadel in die Höhe gegen das Licht. An der Seite des heruntergedrückten Kolbens war ein winziger Substanzrest zu erkennen.

„Ein etwas merkwürdiger Ort, um derartigen Neigungen nachzugehen.“ Einen weiteren Kommentar gab er nicht ab. Vorsichtig legte er die Spritze wieder exakt an ihren Platz zurück. „Lassen wir erst mal den Fotografen ran.“ Er räumte seinen Standort neben der Leiche für den Polizeifotografen, der sofort damit begann, aus allen Perspektiven sein Blitzlichtgewitter abzuschießen.

Draußen vor dem Büro standen die Beamten der Spurensicherung in Bereitschaft. Bevor sie mit ihrer Arbeit anfangen konnten, mussten sie noch auf den verständigten Gerichtsmediziner warten.

Rottmann und Weiland stellten sich etwas abseits.

„Ich bin mir sicher, dass uns dieser Tote dort drinnen noch viel Arbeit machen wird“, orakelte Weiland. „Was glaubst du, was los ist, wenn die Medien von der Sache erfahren. Spätestens morgen tanzt der Bär in der Stadt!“

Rottmann zuckte mit den Schultern. Während seiner beruflichen Laufbahn hatte es auch einige Fälle gegeben, in die Personen des öffentlichen Lebens verstrickt waren. Die Presseleute hatten einen Riecher für solche Fälle. Manchmal hatte Rottmann mit den Wölfen geheult und mit den Journalisten zusammengearbeitet. In ein paar Fällen hatten sie mit dazu beigetragen, dass die Verbrechen aufgeklärt werden konnten.

Dr. Friedmann, der Gerichtsmediziner, kam eine Viertelstunde später. Gemeinsam mit ihm traf das Beerdigungsunternehmen ein, das die Leiche abtransportieren sollte. Auch sie waren vom Justizwachtmeister durch den Seiteneingang an der Parkstraße eingelassen worden und über das Treppenhaus gekommen. Der Arzt grüßte nickend in die Runde, dann ließ er sich von Weiland und Rottmann kurz einweisen. Während er anschließend die Leiche begutachtete, blieben die beiden unter dem Türrahmen stehen.

„Todeszeitpunkt vor etwa einer guten Stunde – nicht viel länger“, deklamierte der Gerichtsmediziner während der Untersuchung laut. „Die Totenstarre an den Augenlidern ist erst im Anfangsstadium, der Kopf ist noch völlig frei beweglich.“

Der Arzt betrachtete den Kopf von allen Seiten, drehte ihn, hob die fast schulterlangen Haare des Verstorbenen in die Höhe. Dort betrachtete er intensiv eine bestimmte Stelle im Nacken. „Hier ist eine kleine Verletzung. Sieht aus wie ein feiner Stich. Kann allerdings auch völlig unwichtig sein. Ich kann ihn noch nicht einordnen. Es könnte auch ein größeres Insekt gewesen sein.“

Er sah die beiden Kriminalisten auffordernd an und hielt das Haar weiter von der bezeichneten Stelle fern. Rottmann und Weiland traten näher und betrachteten sich die beschriebene Verletzung. Sie war wirklich kaum erkennbar.

„Was kann das sein?“, fragte Weiland. „Ein tiefer Stich hätte doch wesentlich mehr bluten müssen.“

Der Mediziner zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, das kann auch völlig harmlos sein.“ Dann fuhr er mit seiner Bewertung fort: „Soweit ich sehen kann, sind auch keine verdächtigen Hautveränderungen im Gesicht zu erkennen, die beispielsweise auf einen Erstickungstod hinweisen könnten … aber, meine Herren, das sind alles nur Vermutungen. … Wie man deutlich riechen kann, hat der Mann Alkohol konsumiert. Er ist …, war auch nicht mehr der Jüngste. Da kommen natürlich alle möglichen natürlichen Todesursachen in Betracht.“

Er erhob sich und gab den Männern des Bestattungsunternehmens einen Wink. „Sie können ihn mitnehmen. Er kommt raus in die Gerichtsmedizin.“

Während sich der Arzt die Gummihandschuhe auszog, zeigte Weiland auf die Spritze. Der Pathologe hatte sie bisher noch nicht bemerkt.

Dr. Friedmann zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. Er wusste auch ohne Worte, was der Kripomann sagen wollte.

„Sieht so aus, als hätte hier eine kleine Privatparty stattgefunden. Wir werden auf jeden Fall alle möglichen Optionen bei unseren Untersuchungen in Betracht ziehen. Sorgen Sie bitte dafür, dass Ihre Männer uns das Glas und die Spritze zukommen lassen. Ihre Beamten werden sie wohl erst auf Fingerabdrücke untersuchen wollen. – Wir werden dann im Institut alles weitere abklären.“ Dann verließ er mit Weiland und Rottmann das Büro. „Einen pikanteren Ort und diffusere Umstände für sein Ableben hätte sich Scharpf wirklich nicht aussuchen können“, stellte er draußen sarkastisch fest.

Selbstverständlich kannte auch der Rechtsmediziner den Fraktionsvorsitzenden der IGW, der Interessengemeinschaft Würzburg, gut. Die kleine, streitbare Minderheit im Rathaus machte vor allen Dingen durch spektakuläre Auftritte ihres Fraktionsvorsitzenden im Stadtrat von sich reden.

Vor Gericht hatte Dr. Friedmann als Gutachter schon manchen Strauß mit Rechtsanwalt Dr. Scharpf ausgefochten. Dr. Scharpf hatte häufig Schwerkriminelle vertreten. Seitdem er im Stadtrat war, hatte er seine Aktivitäten als Jurist jedoch stark reduziert. Als Kommunalpolitiker war er als heftiger Kritiker von allem und jedem hervorgetreten. Nicht zuletzt deshalb war er auch ein beliebtes Fotomotiv und ein gefragter Interviewpartner einschlägiger Printmedien.

Wenn ein derart prominenter Mann an einem solchen Ort gewaltsam zu Tode kam und dabei auch noch die Möglichkeit bestand, dass dieser Tod mit dem Genuss von Drogen in Verbindung gebracht werden konnte, wäre jeder Journalist bereit, einen Finger zu opfern, um diese Story herausbringen zu können. Es war ein Ereignis, das die Auflage einer Zeitung auf lange Zeit steigern konnte und den Sendern der Region über die Stadtgrenzen hinaus die Einschaltquote erhöhen würde.

Während die Polizeibeamten nun das Büro betraten, um mit der Spurensicherung zu beginnen, tauchte Präsident Peters wieder auf. In seiner Begleitung befand sich Herr Kluftmann, der Leitende Oberstaatsanwalt.

Weiland und Dr. Friedmann informierten die beiden Herren über den Stand der bisherigen Ermittlungen. Beide Männer waren über die Ereignisse äußerst betroffen und besorgt.

Weiland erkundigte sich auch nach dem Verbleib von Oberstaatsanwalt Roland. Von seiner Aussage versprach sich der Ermittler Aufklärung über die Tatumstände. Beide Behördenleiter mussten allerdings eingestehen, dass ihnen der momentane Aufenthalt des Staatsanwalts unbekannt war.

„Ich habe den Kollegen zuletzt auf dem Fest gesehen“, erklärte der Leitende Oberstaatsanwalt nachdenklich. „Es kann natürlich sein, dass er schon nach Hause gegangen ist. Bei solchen Veranstaltungen verliert man schon mal die Übersicht.“

Rottmann hielt sich im Hintergrund und machte sich so seine Gedanken. Was hatte den Anwalt veranlasst, sich hier aufzuhalten? Was hatte Bürgermeister Farmer mit der Sache zu tun? Es war schon ein merkwürdiger Zufall, dass er sich zur gleichen Zeit auf diesem Stockwerk aufhielt, als Scharpf verstarb.

Das Echo der zuschlagenden Tür hallte noch immer in seinen Ohren. Farmer konnte das nicht gewesen sein. Schon eher der Wachtmeister, dem er begegnet war.

Möglicherweise war da noch jemand unterwegs gewesen.

Rottmann rief sich zur Ordnung. Im Prinzip ging ihn das alles gar nichts an. Er hatte die Leiche gefunden und die Kollegen verständigt. Die zuständigen Ermittlungsbeamten waren vor Ort und erledigten das, was zu tun war. Damit hatte er seine Pflicht erfüllt. Er, Erich Rottmann, war Gott sei Dank nur

Pensionist und konnte eigentlich entspannt nach Hause gehen.

Er beneidete seinen Kollegen Weiland nicht. Ermittlungen in einem derart sensiblen gesellschaftlichen Umfeld brachten immer jede Menge Ärger mit sich. Aber nicht für ihn!

Rottmann beugte sich zu Öchsle herab und tätschelte ihn den Rücken. „Weißt du was“, sagte er mit gedämpfter Stimme, „wir beide werden uns jetzt ganz dezent verdrücken.“

Er richtete sich wieder auf und bewegte sich langsam auf die Treppe zu.

Öchsle folgte ihm dicht bei Fuß, hoffte er doch, sich in den Ringparkanlagen an einem geeigneten Baumstamm endlich von einem akuten körperlichen Drang befreien zu können.

 

Als sich Rottmann schon ein Stück entfernt hatte, kam Weiland hinterhergerannt. „Erich, einen Augenblick noch. Kannst du bitte morgen ins Morddezernat kommen? Nachdem du den Toten gefunden hast, müssen wir ja ein Protokoll aufnehmen. Du kennst doch den Bürokram.“

Rottmann versprach, diese Formalität am nächsten Tag zu erledigen.

Nachdem er das Haus durch den Seitenausgang verlassen hatte – hinaus kam man hier immer, nur um hineinzukommen brauchte man jemanden, der die Tür öffnete – atmete er erst einmal befreit auf. Obwohl er viele Jahre beruflich fast täglich mit dem Tod zu tun gehabt hatte, hatte die Begegnung mit den Klienten des Sensenmannes für ihn immer noch etwas Bedrückendes.

Öchsle kannte diese Probleme nicht. Kaum hatte er die Parkstraße betreten, strebte er zielbewusst der Grünbepflanzung zu und hob am nächstbesten Baum das Bein. Wer genau hinsah, konnte aus den Zügen des Rüden eine Entspannung herauslesen, die umso nachhaltiger wurde, je länger er diese Haltung einnahm. Ein Mensch in ähnlicher Lage hätte sicher ein befreites Stöhnen von sich gegeben. – Als er sich erleichtert hatte, eilte er seinem Herrchen hinterher, der derweil schon langsam in Richtung Löwenbrücke weitergeschlendert war.

Für einen kurzen Moment hatte Rottmann erwogen, noch in die Stadt zu seinem Stammlokal, dem Maulaffenbäck, zu gehen. Dort tagte heute, wie fast täglich, der Stammtisch Die Schoppenfetzer, zu dessen Gründungsmitgliedern Rottmann gehörte. Ein wenig Ablenkung im Kreis der pensionierten Juristen und Kriminalisten hätte ihm jetzt ganz gut getan. Dabei war ihm natürlich klar, dass er dort über den Vorfall des heutigen Abends vorläufig nicht sprechen konnte. Denn nichts ist so unsicher wie die Verschwiegenheit von Ruheständlern. Das war nun einmal Fakt.

Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass es bereits 22 Uhr war. Um 23 Uhr schickte der Wirt seine Gäste für gewöhnlich nach Hause. Rottmann beschloss daher, seinen kleinen Absacker zu Hause zu nehmen.

Um Öchsle einen Gefallen zu tun, blieb er auf dem Weg zur Rosengasse so lange in den Ringparkanlagen, bis er schließlich in die Sanderstraße abbiegen musste. So konnte sich der Rüde mit aller körperlichen Konsequenz auf die Nacht vorbereiten, was er dann auch ausgiebig tat.

Rottmann genoss diesen Spaziergang. Der Sommer war in diesem Jahr sehr heiß, begleitet von heftigen Temperaturschwankungen, die gewaltig aufs Gemüt schlugen. Jetzt hatte es etwas abgekühlt, und die laue Nachtluft umschmeichelte die Haut.

Während Erich Rottmann so dahinschlenderte, fuhr ihm plötzlich ein Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf. Er wusste jetzt, was ihn an der Szene mit Bürgermeister Farmer im Sitzungssaal gestört hatte: Farmer hatte ja behauptet, Rottmann habe ihn beim Telefonieren gestört. Wenn sich Rottmann recht erinnerte, war jedoch an dem Handy, das der Bürgermeister in der Hand gehalten hatte, das Display nicht erleuchtet gewesen. Bei Rottmanns Mobiltelefon war die Anzeige immer beleuchtet, wenn er telefonierte. Das war merkwürdig. Konnte es sein, dass ihm Farmer nicht die Wahrheit gesagt hatte?

Slobodan T. betrat das Falkenhaus am Marktplatz, in dem auch die Fremdenverkehrsinformation untergebracht war und man Fremdenführer für Stadtrundgänge buchen konnte. Gerade hatte Slobodan eine Führung mit 25 serbischen Staatsbürgern hinter sich gebracht, die ihm regelrecht Löcher zur Historie der Stadt in den Bauch gefragt hatten.

Slobodan war gebürtiger Serbe. Seine Mutter war Deutsche, die die Liebe nach Jugoslawien verschlagen hatte. Sein Vater hatte sich allerdings bald nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht, so dass ihm diese zweifelhafte Bekanntschaft erspart blieb. Seine Mutter war im Land geblieben. Auf diese Weise war er als Kind zweisprachig aufgewachsen.

Seine Mutter hatte ihm viel von ihrer alten Heimat erzählt, so dass er immer eine gewisse Sehnsucht nach diesem Land empfunden hatte. Als das Staatsgebilde Jugoslawien auseinanderfiel, kämpfte er in der Armee auf Seite der Serben. In dieser Zeit hatte er viele Grausamkeiten erlebt, teilweise auch selbst verübt.

Als er vor fünf Jahren mit gefälschten Papieren in die Bundesrepublik einreiste, war für Slobodan ein Menschenleben nicht mehr wert, als der Preis, den ein Auftraggeber bereit war, dafür zu zahlen. In seinem Heimatland wurde er als Kriegsverbrecher gesucht.

Nachdem er in mehreren Deutschkursen die Kenntnisse seiner Muttersprache deutlich verfeinert hatte, bewarb er sich bei der Stadt Würzburg um eine Anstellung als Fremdenführer.

Da immer mehr Bürger aus östlichen Ländern die Mainmetropole besuchten, waren seine Kenntnisse verschiedener slawischer Sprachen im Touristikbüro der Stadt höchst willkommen, und er bekam die Stelle.

Slobodan war einundvierzig Jahre alt, durchschnittlich groß, von durchschnittlicher Statur, mit einem ausgesprochen durchschnittlichen Allerweltsgesicht, das man schon nach wenigen Minuten wieder vergessen hatte. In vielen Lebenslagen war das von Vorteil.

Slobodan betrat das Touristikbüro und stellte sich seitlich an die Theke. „Gibt es noch einen Auftrag für mich?“, fragte er seine Kollegin mit weicher, wohlklingender Stimme, die ihre slawische Herkunft nicht verhehlen konnte.

Die junge Frau hinter der Theke sah in einen Terminkalender, dann schüttelte sie den Kopf.

„Nein, Slobo, du kannst nach Hause gehen“, erwiderte sie, dann fiel ihr etwas ein: „Warte mal, da ist ein Umschlag für dich abgegeben worden.“ Sie griff in ein Regal hinter sich und holte einen kleinen, festen braunen Briefumschlag aus einem Fach. Der Umschlag hatte weder eine Anschrift noch einen Absender, war aber fest zugeklebt.

Slobodan bedankte sich, nahm den Umschlag und steckte ihn in seine Hosentasche. Er winkte der Frau hinter der Theke zu, dann verließ er das Touristikbüro. Im Gehen nahm er seinen Fremdenführerausweis ab, den er mit einer Klammer an seiner Hemdtasche befestigt hatte.

Im Eingangsbereich des Touristikbüros holte er den Umschlag wieder hervor und riss ihn auf. Ein kleiner Sicherheitsschlüssel rutschte auf seine Handfläche. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Er verließ das Falkenhaus und schlenderte über den Markt. Nachdem er beim Straßenverkauf des Café Michel ein belegtes

Brötchen erstanden hatte, ging er kauend in Richtung Straßenbahnhaltestelle. Es dauerte nicht lange, dann hielt eine Bahn der Linie 1. Slobodan warf die Serviette in den Mülleimer und stieg ein. Am Bahnhof verließ er die Straßenbahn und betrat die Bahnhofshalle. Ohne Zögern wandte er sich nach rechts in Richtung Schließfächer.

Den beiden uniformierten Männern des Bundesgrenzschutzes, die mitten in der Halle standen und sich unterhielten, warf er nur einen flüchtigen Blick zu. Die beiden Beamten achteten kaum auf ihre Umgebung.

Das Schließfach mit der Nummer 101 war schnell gefunden. Der Schlüssel aus dem Umschlag passte. In dem Fach befand sich wiederum nur ein braunes Kuvert.

Der Mann nahm den Umschlag heraus und schob ihn, ohne ihn zu öffnen, in seine Umhängetasche.

Gemächlich verließ er den Bahnhof. Ohne Eile lief er über den Bahnhofsplatz in Richtung Kaiserstraße. Dem desolaten Zustand des Kilianbrunnens, einstmals eines der Wahrzeichen der Stadt, jetzt eher Symbol für den kläglichen Zustand der Stadtkasse, schenkte er keine Beachtung. Nicht nur die Würzburger hatten sich längst an das hölzerne Stützkorsett gewöhnt.

Als er wenig später das Café Kies erreichte, trat er ein und suchte sich einen Platz in einer Ecke. Das Café war von Touristen und älteren Bürgern besucht. Kein Mensch schenkte ihm Aufmerksamkeit.

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