Maud und Aud

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Ob ein Körper einen Körper fangen kann

CAPE TOWN, 3. DEZEMBER 1967. Die Form von Aktivität, die als Leben definiert wird, findet in dem jungen Körper nicht mehr statt (der es selbst nach dem Aufhören von Leben noch verdient, als jung bezeichnet zu werden). Leben ist aber vor allem eine Verbindung und ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Organen, eine Zusammenarbeit und ein Rhythmus, ebenso eine Arbeit wie ein Lied zur Arbeit – nun ja, jedenfalls öffnen sie den jungen Körper, der einmal einem Mädchen gehörte – den jungen Körper der nun niemandem mehr gehört – sie nehmen ihn und öffnen das, was vor dem Autounfall ein Mädchen war und es weiterhin ist, und heben ihr junges, aber nicht speziell mädchenhaftes Herz aus der jetzt beendeten Arbeit und aus dem Lied, das nicht mehr klingt, um es in einen neuen Körper, eine neue Verbindung hineinzulegen, um einen neuen und gleichartigen Rhythmus anzustoßen, damit es Wissen oder Erinnerung wecken kann (was in der Summe vielleicht Lust ist: zu klopfen, zu schlagen, zu gehen).

Zwar wird das zweifellos von einer Mannschaft ausgeführt, doch der Bauherr ist Christiaan Barnard; sein Auge entscheidet, was man sehen muss und was man übersehen kann, seine Vision spurt die Handgriffe vor, die aus zwei Leben eines schaffen, zwei gerissene Ketten verkoppeln. Ein Wort ist ein Gegenstand in seiner Befehlskette, ein Wort ist ein Instrument in einer Hand, und ein Instrument ist eine vorbestimmte Handlung. Wort für Wort übernimmt das Herz für ein Herz. Gewiss stirbt Louis Washkansky bald (zum ersten Mal) und mit ihm Denise Ann Darvalls Herz (zum zweiten Mal), doch die Technologie überlebt. Und nun, da sie sich als lebenstüchtig erwiesen hat, gibt es reichlich Bedarf und Nachschub von Seiten des Verkehrs, von der Verbindung, der Zusammenarbeit, dem Lied; Organ sucht Kreislauf, Kreislauf sucht Organ. Frisch oder frisch aufgetaut werden sie in die Operationssäle getragen, erfahren, doch unerprobt in dem, was nun geschehen soll. Verhandlungssteine in einem Spiel. Ein und derselbe Mensch kann gleichzeitig am Leben sein und am Sterben, wie es ausgeht, werden die Spielsteine entscheiden.

Am Sterben: unterwegs in den Tod.

Am Leben: unterwegs ins Leben.

Beim Unfalltod werden sich die Umstände nie mit dem Ausgang messen können, oder vielleicht eher umgekehrt, am Ende erliegt das Schicksal dem Trivialen. Denise und ihre Mutter wollten die Straße überqueren, um einen Kuchen zu kaufen, um die letzten Details entsteht eine melancholische Mathematik: Hätte der Onkel keine Nussallergie gehabt, hätten sie eine andere Konditorei gewählt, wie wäre es mit Orangenfüllung, wäre die Umleitung wegen Bauarbeiten nicht gewesen, die Umleitungsstrecke länger gewesen, warum nicht mit Baisers garniert, mit Brombeeren? Hätte sie, wenn das Radio einen anderen Song gespielt hätte, ihn zu Ende gehört? Der banale Lebensabbruch hat kein Timing, keine Dramaturgie, nichts ist fertig, vorbereitet oder in Gang gesetzt, und doch klammern sich die letzten Augenblicke an ihren definitiven Zweifel: Hat sie den Kopf gedreht, als sie aus dem Auto stieg? War das Letzte, was sie sah, der Himmel oder ein Reklameschild, oder war es das Gesicht des Fahrers, der sie niedermähte? Selbst wenn man sagen kann, dass der Tod prompt ist, gibt es zwei kurze Wartezeiten, von denen man sich nur schwer lösen kann, die erste zwischen dem Unfall, der mit Sicherheit passieren wird, und seinem Eintreffen, und die zweite zwischen dem eingetretenen Unfall und seinem Ausgang, der bereits feststeht. In dieser kleinen Luftreise, was ist da? Angst, Ärger? Verwunderung? Resignation? Rausch?

Oder, bereits, nichts?

Mit ins Grab nehmen die Verkehrstoten nur ihren Mangel an Geheimnissen. Die Geschwindigkeit erklärt alles, die Kräfte liegen offen zutage. Die Umstände, die kleinen Faktoren und Geschehnisse, werden hervorgeholt und vergrößert, nicht um, wie im Kriminallabor, etwas aufzudecken, sondern als im Zusammenbruch befindliches Ornament, groteske Eigenschaften, die keinen Halt bieten. Es war keine Rahmtorte, es waren Mille-Feuilles. Fürs kommende Wochenende war ein Ausflug mit den Freundinnen nach Bloubergstrand geplant. Sie trug den blauen Plisseerock.

Denise war eine perfekte Universalspenderin: Blutgruppe 0-negativ. Nehmt ihr Herz, sagte der Vater, und gewiss merkt man es den Formulierungen im »Heart of Cape Town«-Museum an, dass schwer zu sagen ist, wer eigentlich der Spender sei: Eine enorm großzügige Tat, heißt es taktvoll, wie es das Herz verlangt. Und doch weist der Washkansky-Körper, anders als das Washkansky-Bewusstsein, die Gabe mit einer Kraft zurück, der man sich letztlich nicht widersetzen kann. Ein Körper will lieber sterben, als mit einer feindlichen Kraft zu leben; ein Körper ist des anderen Feind, wenn dieser andere in ihn hinein will. Wirklich in ihn hinein will, und mehr als das, wenn er in ihn eingehen will. Für ein Bewusstsein sieht die Sache komplizierter aus. Während der Körper durch die Instinkte in einen größeren Körper übergeleitet wird, wie eine Biene etwa oder eine Ameise, möchte das Bewusstsein liebend gern all das im Körper ersetzen, was nötig ist, um selbst intakt zu bleiben. Das Bewusstsein findet, ein wenig Anpassung müsse möglich sein, Selbstzerstörung sei selbstzerstörerisch, und lässt folglich zu, dass der neue Körper mit Imoran und Kortison vollgestopft und mit Gammastrahlen bestrahlt wird. Das Bewusstsein kämpft für seine eigene Sache und versagt es dem Körper, seiner ersten, seiner uralten Reaktion zu folgen;

der Körper, der bereit ist zu töten, um nicht zu sterben, nicht aber Leben anzunehmen, um zu leben.

Eine Methode für die Gegenwart ist entwickelt. Ein alter Körper gibt nach. Im Dezember 1967 siegt der Drang, jede Grenze zu überwinden.

Auch die der Apartheid: Der zehnjährige, farbige Jonathan bekommt die Nieren der weißen Denise.

Ob ein Körper ein Körper sein kann.

VERKEHR, DENKT DER OPERIERENDE ARZT, als die Augenlider des Patienten flackern.

Auch sonst liegt Jon Berre fast immer mit geschlossenen Augen da, denn im Innenfutter aus Fleisch und Haut rumoren unangenehme Schmerzen, die mit Morphin betäubt werden müssen. Aud und Maud glauben, irgendwo im Innern seines leichten Schlafs sei er gleichwohl wach. Sie hauen und streicheln ihn, drücken und lauschen, und meinen, einen neuen Klang in seiner Stimme zu hören, wenn ein Laut aus ihm hervordringt, einen Widerklang aus der Kehle und dem Schattenreich, wie ein Stück Folie, das ihre Mutter über die Verpackungszahnreihe abriss, um die Schulbrote einzupacken oder einen Essensrest für den nächsten Tag aufzubewahren.

Heben sie die Bettdecke, sehen sie ein einsames linkes Bein und einen Stumpf, wo früher das rechte war. Das Gesicht des Vaters wurde mithilfe frischer Haut vom noch vorhandenen Oberschenkel neu gestaltet, die eine Gesichtshälfte älter als die andere, oder eigentlich sind jetzt beide Seiten am ältesten, jede auf ihre Art. Es ist nicht leicht, die weiße, etwas wässrige Haut anzufassen, aber es ist ebenso schwierig, es nicht zu tun; die Finger sinken ein wenig ein. Er scheint sowieso nichts zu merken. Stattdessen legt Aud ihr Ohr an seins und hört das Meer. Mit einem Ohr ist das Meer ein fernes Sausen; mit zwei ist es in einem drin. Wenn man es teilt.

Das Meer selbst ist immer eins.

Der Vater hat ein Bein verloren, aber eine Niere bekommen. Die Pfleger haben erzählt, was Nieren sind, Säckchen, die das Pipi ausfiltern, damit man aufs Klo gehen und es rauslassen kann. Man hat auch davon zwei, obwohl man es mit einer schaffen würde, aber die von Vater waren beide kaputt, darum hat er eine von Billie Arnesen Afrets Nieren bekommen, nachdem das Auto, das sie steuerte, vierundsiebzig Tage und drei Stunden nach dem Unfall von Jon Berre und Familie, zweihundertneunundneunzig Kilometer weiter nördlich auf einem geraden Straßenstück ausscherte und im Fjord landete. Unerklärlich ausscherte. Erhebt sich in die Morgensonne, tropfend über dem Wasser, ein Auto, eine Niere, fliegt in eine gelbe Flüssigkeit, wie Pipi. Es regnet, Sonnenregen. Der Vater ist jetzt ein wenig Frau. Hätten sie nicht eine von Mutters Nieren nehmen können? Vater hätte beide Nieren, ihr Herz und ihr Blut haben können. Alles, was er brauchte, hätten sie von ihr nehmen können. Früher waren sie zu zweit, Ruth und Jon, jetzt konnte davon nicht mehr die Rede sein. Hätte man aus der Situation nicht etwas Besseres machen können?

Du kriegst eine Niere von mir, falls du eine brauchst, sagt Aud zu Maud, und Maud verspricht dasselbe. Aud kann alles von Maud haben. Nur nicht ihr Gesicht. Aber wenn ich sterbe, kannst du auch das haben, sagt Maud.

Pisst du jetzt das Pipi von dieser Frau, fragen sie den Vater.

Aber es ist nicht viel zu holen bei dem Körper, der ausgestreckt und festgezurrt daliegt, in- und umdisponiert, der weder der gleiche alte ist noch ein neuer. Die Pupillen bewegen sich in den wachen Stunden von einer Seite zur anderen wie die Luftblasen einer Wasserwaage, und ganz selten einmal ist der ganze Mann ein einziges Plaudern, dann sagt es Sachen wie:

Es ist die Organisierung, irgendetwas stimmt nicht, ich höre es am Geräusch.

Was ist mit der Steuerung los, da will etwas nicht, kann man das hinkriegen?

Es geht zu schnell, ich komme nicht nach. Ich verstehe nicht, was das ist.

Ja, Jon Berre wird in einen Arbeitsplatz verwandelt, in eine Baustelle. Doch einen Mann nach guter alter Manier herzustellen, ist Ingenieurskunst, die Zeit und Können voraussetzt. Sie karren Baumasse herbei, verlegen Rohre, nehmen Proben von Festem und Flüssigem, entscheiden, welches Material gebraucht wird. Man kann mit der Materie fast alles erreichen, wenn man präzise und geduldig ist, bewandert und beschlagen mit Boden und Berg. Das Ziel: Die Menschen sollen sich sicher fühlen. Das Ziel: Die Menschen sollen ankommen. Die Chirurgen versuchen sich vorzustellen, was wo gewesen ist, verschieben Gewebe und verhandeln über Fantasien aus Polyester, Aluminium und Knochenzement, montierbar in einer Stumpfhülle aus gewalktem Leder mit Stahlbeschlägen, so wollen sie ihn Teil für Teil zusammenpuzzeln zu etwas, das zwar nicht derselbe Mann ist, aber doch dem gleicht, der sich verschätzte, der meinte, die Geschwindigkeit sei den herrschenden Fahrverhältnissen angepasst, vielleicht war sie das auch, vielleicht dachte er nur im falschen Moment an etwas oder dachte gar nicht oder dämmerte weg oder, oder;

 

wer kann schon wissen, was entscheidend war, welchen Grund das Grundlose hatte, in dessen Folge er die ihm so vertraute Kurve mit makelloser Klothoide und Querneigung nicht kriegte. Eine perfekte Kurve in den Händen eines erfahrenen Fahrers, und doch konnte er die Kurve dieses Mal nicht. Er hatte, als es wirklich drauf ankam, sie offenbar vergessen, denn es kommt ja, im Verkehr, jedes einzelne Mal wirklich drauf an. Keine Operation ist wichtiger als die bevorstehende, es sei denn die, die du jetzt, eben, ausführst, während wir reden, während wir uns bewegen. Nichts steht jemals still, man sollte die Bewegung, deren Teil man ist, verstehen. Der Betriebsleiter weiß, er versteht, selbst in seinem tiefsten Dunkel, oder gerade da, und seine Hände, die nun im Bett umherfuchteln, sich in einem unmöglichen Verhandlungsprozess befinden, wollen, genauso wie der ganze Mensch, nichts anderes, als alles zu ändern, mitten in der Linkskurve, durch die er schon so oft sicher gesteuert ist, mit Familie und ohne; sie einmal mehr sicher hindurchzusteuern ist alles, was er will, und dieses Mal das Einzige, das zählt. Dieses eine Mal, das er nicht zurückbekommt, von dem er nicht loskommt.

DER GRÖSSTE WUNSCH VIELER, jedenfalls auf dem Wohnungsmarkt, ist es, zum Geräusch des Meeres einzuschlafen und nicht zuletzt, dazu aufzuwachen. Der Immobilienwert schießt in die Höhe, wenn Brausen und Plätschern bis an die Türschwelle reichen. Der Körper kann sich vielleicht besser justieren, wenn sich das kleine Wasser im Großen hört. Das Fleisch, das tagsüber Festland sein muss, darf nachts mitwogen.

In einer Studie über Schlafqualität darf die eine Hälfte der Teilnehmer zu Meeresrauschen, die andere zu Verkehrsbrausen schlafen. Vielleicht ist das Meer gar nicht der offenbare Gewinner. Wie etwa war das zu Zeiten, als die Menschen auf dem Meer arbeiteten und auf dem Meer verlorengingen, als Schrottkähne und zweifelhafte Versicherungen die Wellen beherrschten; sollte das Dröhnen der Brandung jener Zeiten an Glas und in Ritzen denen Gemütsruhe und Erholung bringen, die im Ungewissen warten mussten? Konnte man sich für einige Stunden vom Vergessen des Schlafs einholen lassen, der Abwesenheit des Selbst, in der sich die Seele jede Nacht reinigen muss, oder lag man eher wach wie gepeitschter Schaum – den eine Welle verbreiten und aufwühlen, nicht aber mittragen kann?

Heute schlafen die Menschen zwischen Fahrbahnen und Straßen, begleitet vom Brand der Untermeermasse. Das Öl, das schwarze Himmelstief, wird in Oberfläche und große Lärmflocken übersetzt, die vorbeiziehen und sich auflösen, ohne dass du begreifst, was durch dich hindurchgefahren ist. Dennoch vergewissern diese Geräusche einen Schlafenden der Menschen und ihrer Vorhaben, des Lebens, das auch dann weitergeht, wenn du dich fallen lässt, ja, das von selbst läuft, ohne die Unruhe, die das Leben auf Individualniveau mit sich führt. Geräusche eines Menschen, einer Maus, vielleicht auch eines Vogels aber hätten dich geweckt und an Gefahr erinnert, an dich selbst; ein Ferntransport hingegen ist das Geräusch der Sicherheit.

Ein Ferntransport ist Frieden.

Der Schlaf hat sein neues Element gefunden.

DURCH DEN ABSTAND DES TODES WERDEN DIE VERSTORBENEN auch von Unbekannten mit einer ebenso neuen wie rasch verwitternden Verwunderung betrachtet, wie Fragen, von denen vorher niemand etwas wusste und die sich im selben Augenblick stellten, wie deren Antwort verschwand. Unsere Gedanken sind bei den Nächsten: weiter kommen sie nicht.

Menschen, die Ruth Bore kannten und eben auch manche, die sie nicht kannten, besuchen die Kurve, in der sie von ihnen gegangen ist. Wo sie sie berührte. Ob ein Mensch ein einfaches oder im Gegenteil ein komplexes Phänomen sei, hier ist der Punkt, an dem eine solche Frage zerbröselt, jedenfalls fällt es nicht leicht zu begreifen, dass eine so eigene, eine so besondere Energie – es hätte doch nie jemand an Ruth Bore als etwas anderes als Ruth Bore gedacht – so prompt zu Ende sein kann, an einem so beliebigen, aber kategorischen Ort.

Tendiert man dazu, einen Menschen als ein komplexes Phänomen zu sehen, wird ein solches Ende in der Vereinfachung des Ganzen, verstärkt durch die Steinmassen im Straßeneinschnitt, wo der Unfall geschah, umso überwältigender. Ja, denn hier wurde wirklich etwas Grobes und Fernes freigelegt, dem man nicht näherkommt, so viel man auch sprengen und teilen mag. Vor diesem unwirtlichen Einschnitt legen die Menschen Blumen nieder, Kränze, Briefe mit letzten Grüßen, sie kommen hierher wie Lichter, mit Kerzen, die von Wind oder Regen erstickt werden, dann bücken sie sich und zünden sie wieder an. Verloren stehen sie da und starren in etwas Leeres, das sich in einen anderen Leerraum einfügt, den es quasi hervorruft, von dem aus sie starren;

in dieser zweiseitigen Abwesenheit stehen die Körper und zittern auf dem feuchten Asphalt über Flammen, die keine Wärme, ja nicht einmal Licht spenden, und die doch jede Erinnerung in sich zu bündeln scheinen, die die Einzelnen mitgebracht haben, und sie zu etwas verdichten, das sie alle teilen, etwas, das sich durch die Tagesreste hinunter zur Fahrbahn frisst.

Viele von ihnen erscheinen auch zu Ruths Beerdigung, der offizielleren Leerstelle, die sie hinterlässt, sie und Jons rechtes Bein, das zu spät den Weg zur Bremse fand und ihr darum hier Gesellschaft leistet. Das mag nicht ganz nach Vorschrift sein, solange der Hauptorganismus noch am Leben ist, aber Halldis Tu vom Bestattungsbüro kannte Hjalmar Berre aus alten Zeiten und sagte, das würden sie schon regeln. Es werde ja schließlich keiner den Sarg aufmachen und nachsehen. Wir müssen über diese Grenzen wachen, so gut es geht, das schon, etwas weiter denken als bis zum heutigen Tag. Aber Mann und Frau und ein solcher Knall, wer kann da richtig von falsch trennen, Stoff von Stoff, wenn er einmal selbst unter diesen Stein soll. Wir sind ja alle eins. Daran werden wir erinnert.

Eine Reise in die eigene Abwesenheit macht vielen Angst, nicht unbedingt, weil sie so Großartiges über sich selbst dächten, gar nicht, die Menschen sind in diesem Teil des Landes oft zurückhaltend, in mancher Hinsicht selbstaufopfernd, darum akzeptierten sie auch, dass Ruth Bore ausgelöscht wurde, es hätte ja auch sie selbst treffen können, genauso gut sie treffen können, denken sie und werden dadurch, durch Ruth, daran erinnert, dass leben bedeutet, verschont zu sein. Ein Geschenk ist nicht, was man bekommt, sondern was man hat und einem nicht genommen wird; leben bedeutet eine kurzzeitige Dispensierung von der Abwesenheit. Das Öl verändert, wie darüber gedacht wird, verändert das Leben und mit der eigenen Anwesenheit auch die eigene Abwesenheit, aber im Jahr 1981 sitzen diese Gedanken noch tief, aus einer Zeit, da das Leben ein exponiertes Gut ist, das niemand trennen kann vom Leiden.

Und doch handelt das Erschreckende immer von den anderen, all jenen, die auch verschwinden. In manchen Momenten kann das an absolute Einheit erinnern, wie es bei Halldis war, in anderen an absolute Einsamkeit, auch wenn von Einsamkeit oder so etwas keine Rede mehr sein kann, wirklich nicht. In dieser Gegend glauben die Leute an Gott, machen sich aber keine Illusionen. Gott ist weiß wie Knochen, wie Schaum, wenn das Meer am Stein bricht. Das Leben ist weich, schwer und dunkel. Gott ist hart, leicht und hell.

Anwesenheit und Abwesenheit sind vor Gott gleich. So erzählt es die Kirche.

Doch die Leute denken an die Toten und halten den Gedanken warm, den Gedanken an jene, die sie die Ihren nannten, und in diesen Gedanken liegen die wahren Gräber, das haben die Menschen immer gewusst, Wikinger wie Griechen, Arme wie Reiche; ein natürlicher Tod, ein guter Tod, findet in der Erinnerung statt. An einem guten Tod sind viele beteiligt. Einen armseligen Tod stirbt der, an den niemand denkt.

Entlang der Straßen entstanden, im Laufe der Ära des motorisierten Verkehrs, eine Vielzahl solcher Trauerund Erinnerungsstätten. Die meisten bestehen ein paar Wochen oder Monate lang, bevor sie quasi von selbst verwittern wie Schneeflecken im Frühling. Andere halten sich vielleicht ein ganzes Jahr oder noch länger, schrumpfen aber kontinuierlich, ein immer stärker ausgesetztes Flackern, das schließlich erlischt, aber weiterglimmt, um an dem Datum wieder aufzuflammen, an dem es als Erinnerung der Erinnerung angezündet wird, zwei, drei, fünf Jahre später. Die Unfallorte werden nicht durch Aus- und Anbauten gefestigt, wie es hätte geschehen können, wenn einige wenige über die ursprüngliche Funktion, also das Markieren des einzelnen Unfalls, hinausgewachsen und zu rituellen Stätten geworden wären, wo die Verkehrstoten gleichsam über den Ort oder die Strecke wachten, an der sie einmal ums Leben kamen. Hätte sich die Organisationskultur in die Richtung entwickelt, hätte das Straßenbauamt beschlossen, Aktivitäten am Rande der Straßen und des Weltlichen zu unterstützen, kann man sich vorstellen, dass die Fahrer angehalten wären, um Opfergaben auf diesen Altären niederzulegen. Stille Zeichen des Respekts mit dem Wunsch nach einer guten Reise. Hier würde man alles finden, von selbstgestrickten Handschuhen zu Flaschen mit Tinktur, Blut und Schnaps, Eibenzweigen, Weihrauch und Balsam, Orientierungslauf-Medaillen, Gesangsbücher und eine Kühlerfigur in Form der Nike von Samothrake, dazu die weiterhin niedergelegten Blumen, Briefe und Kerzen. Lokale Spezialitäten würden sich daruntermischen. War man etwa auf der sogenannten Blutstraße in Nordland, der schmalen E6 nach Majavatn, sind Bodø/Glimt-Fußballwimpel vorstellbar, Rentiergeweihe, Peter-Dass-Motive; schwedische Münzen, samische Hornlöffel und Milchschalen, CDs von Halvdan Sivertsen und Thorgeir Stubø, eine Kaffeetasse mit Gravur sämtlicher Tunnels der Gemeinde Hamarøy.

Natürlich würden sich manche nicht mit Anhalten aufhalten und einfach vorbeifahren, natürlich würden die meisten von ihnen mit heiler Haut ankommen. Manche, nicht viele, nur die eine oder der andere, würden bereuen, umkehren und zurückfahren und ein paar Worte murmeln, während sie eine Bußgabe niederlegten; unter diesen Umkehrern gäbe es auch einige, aber hier sprechen wir über wirklich wenige, die dennoch nicht so ankommen würden, wie sie das sollten.

In dieser Straßentradition kann man sich einen Altar etwa für Ole Gjermund Hynde vorstellen, auf der Küstenstraße zwischen Kristiansand und Haugesund: ein Altar, stetig gewachsen seit dem ungewollten Verlassen der Straße am 8. April 1975 bei Nærbo, vier Meter und vierzig Zentimeter misst er an seinem höchsten Punkt, zudem wächst er in die Breite. Neue Gaben werden auf einen Vorsprung des ursprünglichen Altars abgelegt und auf ein Gerüst, das diesen teils abstützt, teils durch neue Ebenen erweitert und in ihn hineinwächst. Ole Gjermund Hynde wollte nur schnell zum Laden, jetzt ist er eine Art Gottheit, und während der Laden längst geschlossen wurde, ist es zumindest vorstellbar, dass im Laufe der Jahre sowohl der Arne-Garborg-Steinkopf, der zwischen die Felsbrocken bei Knudaheio gedrungen ist wie der Götterkopf aus Rekeland in Dalane, beim Steinaltar für Pferdeopfer für den Fruchtbarkeitsgott Frøy, miteinander verschmelzen und für kultische Repräsentationen von Ole Gjermund Hynde gehalten würden.

Doch solche Straßenbräuche wird man nur in anderen Ländern finden, in Norwegen behält der Asphalt das letzte Wort, was einem nie verlöschenden Licht am nächsten kommt, ist der Schein eines weißen Monds auf einer nassen Fahrbahn.

Als Aud Berre eines Tages in der Kurve steht, in der ihre Mutter seinerzeit verschwand, gibt es daher kein Wiedererkennen. Sie ist nicht zum ersten Mal zurückgekommen, aber das letzte Mal muss zehn, vielleicht zwölf Jahre her sein. Es hätte jede beliebige Kurve, jede beliebige gesprengte Stelle sein können. Sie nimmt an, sie ist am richtigen Ort, sicher ist sie nicht; der Stein in der Schneise wirkt vielleicht dunkler. Es hätte jeder beliebige Stein sein können, jede beliebige Kurve.

 

Landschaften verändern sich. Sind nicht auch die Augen mit der Zeit so voller Bilder, dass weniger Licht eindringt? Auds Schultern bewegen sich im Kapuzenpulli. Wie gleichgültig, wie unberührt dieser Ort von dem ist, was geschah. Vom Augenblick, dem Ausbruch, den sich niemand vorstellen kann, im Grauen und Normalen, aus dem ein solcher Tag besteht. Eine solche Straße.

Genauso wenig wie sie sich das vorstellen kann, kann sie sich daran erinnern. Aber sie weiß, hier wurde sie zum zweiten Mal geboren, freigesägt aus einem Leib aus Metall und Feuer. Zusammen mit Maud. Zum zweiten Mal.

Allein ist sie noch nie zur Welt gekommen.

Sie will weder etwas an dem Ort niederlegen noch etwas aufheben und mitnehmen. Jetzt, da sie mit dem Rücken dazu steht, ist sie immer noch unsicher, ob es wirklich hier geschah. Im Auto, fünfzig Meter entfernt auf einem Rastplatz, sieht sie schemenhaft das Gesicht von Maud.

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