Maud und Aud

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DIE AUTOSCOOTER krachen ineinander, die Halswirbel winden sich wie Peitschenschmitze gegen die Schädel. Die Fahrer sind Kinder, sie steuern ihre Karren, ohne halten zu müssen, ohne tanken, ohne denken zu müssen, sie folgen dem Instinkt, fahren aufeinander auf und ineinander hinein, eifrige kleine Körper, hell jauchzend. Sie weinen, wenn sie doch eine Pause machen und anderen den Platz überlassen müssen, sie lachen, wenn sie sich wieder in die schlittenhaften Autos setzen, die in der Arena unter großen, elektrischen Tentakeln umhertrudeln. Die Eltern stehen ringsum, ohne Gesicht, richtiger gesagt: ohne Gesichtszüge. Wie bei einem Zifferblatt, auf dem man anstelle von Zahlen neue ovale Scheiben findet.

Die fröhlichen Schreie füllen die Nacht wie Schaum.

AUD UND MAUD STREICHEN MIT DEN FINGERKUPPEN über die dünnen blauen Striche in den Armen. Im Spital ist nichts gesund und nichts tot. So ist Kranksein. Der Spitalgeruch unterscheidet nicht zwischen Leben und Tod, alles ist gleich, krank. Medizin ist dasselbe wie Gift. Medizin ist das Metall in der Luft, das Gelbe in den Augen und die Schwere in den Haarspitzen über der Haut. Das ganze Spital ist betäubt, ein Zustand von Schläfrigkeit, Erwachen bedeutet reinen Schmerz.

Die Geräusche sind hier anders als an allen Orten, an denen sie bisher waren. Rundum hören sie Magnetklicken und Luftdruckhauchen, wenn Schranktüren auf- und zugehen, mit einem dumpfen Wehen entfalten sich Leintücher in der Luft, um dann über Matratzen gespannt zu werden; Körper um Körper bleichen diese Leintücher aus, nutzen sie ab, bis man durch sie hindurchsehen kann wie durch Gaze. Ein anderes Knacksen hören sie in den Kehlen alter Leute, in ihren Rollstuhlspeichen auf dem Korridor. Angstvolle Vokale klettern in die Nächte, als kämen sie aus einer ach so tiefen Schlucht. Tagsüber gibt es das Schlurfen und das Knirschen der Krücken, das Ploppen, wenn Plastiktüten geöffnet werden oder die Metallfolie der Tablettenverpackungen platzt. Aber vor allem hören Aud und Maud die Stille, gegen die die Laute überall anstoßen. Im Leintuchausschütteln und Klicken und Knacksen, in den manchmal aufseufzenden Wänden und in widerspenstigen Handschuhen, wenn Hände sie sich überziehen wollen, im Schuhsohlenscheuern auf Epoxidharzböden und dem Arterienklemmenklirren an Rollwägen; in alldem zeigt sich die Stille. Denn die Geräusche finden keinen Einlass in die massive Stille. Sie werden zurückgedrängt, müssen für sich bleiben, werden ausgeschlossen. Die Stille ist etwas, das den Atem anhält und doch nie atmen muss. Die Stille ist auf eine neue Art gefährlich, gefährlich wie der leere Raum unter dem Bett, nicht wie das schwache Kratzen in ihm. Jetzt werden sie sicher nicht mehr in den alten Betten schlafen, wenn Aud repariert ist und sie bei Hjalmar und Karry wohnen werden. Aber einen leeren Raum wird man nur schwer los.

Die Mädchen erwachen und spüren ihren eigenen Atem nicht. Sie glauben, sich im Innern der Stille zu befinden, aber nur, bis neue Laute auftauchen. Sie schließen die Augen, um zu sehen, ob es im Dunkeln stiller ist und hören den Puls wie einen Zug in der Ferne. Sie schauen einander ins Gesicht. Dort ist es bei Maud stiller als bei Aud.

Es ist besser, im Innern der Stille zu sein als außerhalb.

Aud beschließt, so still zu sein, wie sie nur kann.

Auf alles, was anklopft, zu horchen.

Dass Aud nicht mehr sprechen, nicht mehr antworten will, schafft Unruhe. Wenn sie die Sprache verloren hat, muss ihr geholfen werden, sie wiederzufinden. Die Krankenschwestern wollen, dass sie ihnen nachspricht, die Namen der Tiere sagt, die sie auf einer Tafel zeigen, auch die Lippen in ihren Gesichtern bewegen sich wie ein Tier, ein Wurm, wenn sie die Worte formen, die sie sagen soll. Schwan und Spatz. Hase und Fuchs, Bieber und Bär. Das ist die Welt, antwortest du der Welt? Aud sieht, wie sich der Lippenwurm bewegt, er hat weder Kopf noch Schwanz, nur einen Körper, einen ringförmigen Körper, die Laute, die aus dem Ring kommen, ziehen durch den Raum; auch sie prallen an der Stille ab, Dösigkeit rammt sie, sie beginnen, sich zu wiederholen, ein ums andere Mal, bis sie nicht mehr zusammenhalten können, einander in Bahnen immer schneller umschwirren. So lösen sie sich von den Wörtern und die Wörter lösen sich von den Dingen, den Zeichnungen, und wenn das geschieht, öffnet sich ein Wald.

Im Wald ist es kühl und blau. Es ist ein uralter Wald, begreift Aud, ein Wald, der immer da war und sich ihr jetzt geöffnet hat. Wie ein Schrank aufgehen, eine Tür aufgleiten kann. Der Wald heißt Wales, und zwar so, wie das Wort in der Zeitung und auf dem Fernsehbildschirm aussieht: W a l e s. Wales ist eigentlich farblos und doch blau und ein bisschen orange. Das Blau kommt von den Bäumen, nicht vom Himmel, dort oben ist kein Himmel. Sie merkt, dass ihre Mutter in dem Wald ist, irgendwo hinter ihr, während sie nur dasteht und die andere Welt ansieht, die Lautwelt, die abgewiesene Welt, aber sie kann sich nicht umdrehen und die Mutter sehen. Sie ist da, wie ein kühler Luftzug im Nacken, in der Nähe der Stämme rundum. In einem kleinen Schmerz im Handgelenk.

Aud weiß: Jetzt ist sie im Innern der Stille.

Und so alt wie hier ist die Mutter nie gewesen.

Während Aud zwischen den Stämmen in der Stille steht, liegt sie auch im Bett neben einem Rollwagen mit Schachteln und Medikamenten. Maud nestelt an dem kleinen Sortiment herum, das sich hier zusammendrängt, einer Anhäufung von Pillen und braunglasigen Flaschen mit maschinengeschriebenen Etiketten; im matten Widerschein der gebürsteten Stahlplatte wirkt ihre Haut wie gelber Belag, und dieser Belag, der nur ein Abglanz ist, ist auch ein Teich, den Aud vom alten Wald aus sieht. Ein Teich aus gelbem Schmieröl, auf dem Garagenboden. Bis in den Wald riecht es nach diesem Öl, nach feuchtem Zement und eingeschlossener Motorhaube. Maud kann diesen Geruch nicht riechen. Aud kann ihr nicht davon erzählen, nicht von Wales und der Mutter. Maud steht mit ihrem stillen Gesicht mitten in der sprechenden Welt, und Aud kann nicht sagen: Komm.

Aud hebt eine Hand und kratzt in der Luft.

Am Abend, unterwegs in den Schlaf, fünf Rillen Blut in den Augenlidern. Männer und Frauen kommen zu ihr, setzen sich und sprechen, gehen umher und sprechen, testen verschiedene Bewegungen, mit denen sie die Worte in Schwung versetzen, um eine Frequenz zu finden. Aud hört jetzt, dass ihre Stimmen große Decken sind, die die Wörter unter sich begraben. Die Stimmen sind eine andere Haut, die sofort rubbelig und klumpig wird. Andere Besucher probieren es mit Stille, entschließen sich aktiv für Stille, als wollten sie mit Aud mit-schweigen oder als versuchten sie, etwas zu hören, das zu hören sie nicht gewohnt sind, bevor sie, als wäre es abgesprochen, ihrer Wege ziehen.

Darin sind sie sich einig: Etwas stimmt nicht mit Auds Tempo. Wie kann man wiederfinden, was jetzt verlorengeht, weil es gar nicht entsteht, weil ihm sein natürlicher Gang in die Welt abhandenkommt? Eine sich öffnende Kluft ist ein unheimlicher Anblick. Techniken gegen das Entgleiten sind vonnöten. Großmutter Karry hat einige der alten Spielsachen dabei, Puppen, Stoffesel, Lebenslinien zum alten Dasein, Aud holt sie zu sich ins Bett. Es stört die Spielsachen nicht, dass sie schweigt.

Nichts weiß mehr über Stille als sie.

KRANKENSCHWESTER TURID SAHL steht am Fenster und spürt den Drang zu rauchen, da knallt es im Fensterglas, und ein Vogel fällt auf die Erde.

Diese Schläge kommen wie etwas, das sich vom Licht da draußen gelöst hat, plötzlich ist es Fleisch, plötzlich Glas geworden. Einen Moment lang weiß man nicht, was es ist, wo es ist – geschieht das, was passiert, in einem selbst oder außerhalb. Ist es das Herz?, fragt verschreckt das Herz. Draußen und drinnen sind wesentliche Größen in einem Krankenhaus und sobald man versteht, was geschehen ist, finden die Körper zu ihren alten Konturen zurück, ihren eigenen, privaten Umläufen. Turid und die anderen Krankenschwestern müssen ihre Fürsorge begrenzen, damit sie wirken kann, sie müssen sie mit derselben Präzision bemessen, die sie brauchen, wenn sie mit einer Spritzenspitze das Blut suchen, so, wie auch die Kranken von ihrer Krankheit abgegrenzt sein müssen und sich wegen der Gefahr, dass die Krankheit gleichziehen und an Kraft zulegen könnte, nicht erlauben dürfen, sich über sie hinauszustrecken. Man muss ausschalten und selektieren, fokussieren. Leben müssen manchmal auf ihr Minimum schrumpfen, um wieder zu Kräften zu kommen, aber auch, um abtreten zu können.

Auch Turid Sahl bekommt keine Antwort, wenn sie mit Aud spricht, und sie merkt, wie ihre Stimme mit der Zeit eine eigene Spur findet, in die sie verfällt, sobald sie mit denen spricht, die zum Antworten zu alt oder zu krank sind, die aber Menschenstimmen hören sollen; diese Stimme erwartet keine Antwort, erbittet sie auch nicht, und einige Stunden später, bevor der Schlaf sie mit seinem milden Opiat einholt, denkt Turid Sahl, dass sie eigentlich nicht so mit dem Mädchen sprechen will.

Als sie die Augen schließt, hört sie dasselbe Schlagen.

Dieses Mal lässt sie das Herz herein.

WIR VERBRENNEN DAS ÖL. Wir verbrennen das Öl.

Ist es ein Traum, so ist es unmöglich, am Ende aus ihm aufzuwachen.

Nicht der Traum, das Erwachen brennt.

Es gibt Morgen ohne Zweifel: Ein anderer hat da geschlafen. Nicht ich war das. Daher dieser Frost. Ohne die Nacht im Rücken, eine sichere Nacht, ist der Tag so verletzlich. Worin kann man sich ausruhen. Was kann man sein, das man nicht selbst erschaffen muss. Dieser Tag wird zerbrechen; wie ein dürres Laubblatt zwischen den Fingern zerbröseln und zu Streu werden.

Das Öl brennt und wächst nicht nach. Nie mehr Nacht.

Nicht noch einmal.

 

EIN ZUFÄLLIGER ZEUGE DES GANZEN, hätte gesagt, das Auto sei in normaler Geschwindigkeit in den Tunnel gefahren. Anders gesagt: etwa die Geschwindigkeit, in der die meisten Autos in den Tunnel fahren. Und sollte die Geschwindigkeit einen Hauch zu hoch sein, sinkt sie meist, sobald das Auto sich im Tunnel befindet, da die biologischen Sensoren sich an eine neue Optik, ein dunkleres, quasi gefaltetes Licht gewöhnen müssen und an etwas anderes, schwieriger zu Benennendes, das einem anderen Bereich angehört; etwas, das sich zusammenzieht.

Feuchte.

Steinumschließung.

Wie man es nun nennen mag, es durchdringt binnen Zehntelsekunden das Metall und die Polsterung. Fleisch altert, oxidiert. Die Stimmung wechselt die Farbe. Und dann beginnt die Beschleunigung. Das Auto bewegt sich in diesem Augenblick mit 125 Stundenkilometern in stetigem Tempo, doch das Tempo ist nicht stetig. Der Brennstoffverbrauch ist bei einer Beschleunigung auf die Höchstgeschwindigkeit maximal hoch. Da sich die Straße neigt, beschleunigt das Auto auch noch, als das Gaspedal, das mittels einer Klappe im Vergaser die Benzinzufuhr zu den Zylindern erhöht, sich nicht mehr weiter gegen die Unterlage drücken lässt.

Das Auto ist jetzt eine Kugel auf ihrem Weg durch den Lauf. Rund um die Karosserie knallt und scheppert es. Über einer gewissen Grenze gleicht Geschwindigkeit Gewalt. Diese Grenze wird überschritten. Die Luft selbst ist jetzt ein Massiv, durch das sich das Auto hindurchpresst. Der Meeresgrund ist irgendwo weit oben. Die Nadel zittert an einem Markierungsstrich. Unruhige Bewegungen in einem geschlossenen Auge. Ein Traum auf der Jagd nach einem Träumer.

Hier kann ein Auto entgegenkommen, ein Auto, das mit alldem nichts zu tun hat, nichts außer diesem Tunnel. Es ist lange einer Landschaft gefolgt, in der das Terrain planiert und aufgefüllt und mit Blick auf gute Lösungen und Übergänge angepasst wurde, mit guter Sicht und Arealnutzung, mit Rücksicht darauf, wie ein Fahrer Proportionen und Harmonie erlebt. Der Horizont ist wie das Längenprofil eine straßentechnische Frage, eine gewählte Lösung; so sprechen die Verkehrsplaner durch die Straße zu den Fahrern.

Auch dieser Tunnel hat einen Vorbau, der die Lichtintensität reduziert oder erhöht. Nichts soll zu jäh auftauchen. Ein Autokörper soll die erste Zeit, die er vor sich hat, kennen. Die Straße deutet das Land für dich. Einem Autokörper wird der Weg gezeigt. Verlangt wird nur, dass du tust, was die Straße sagt. Dass sich alle einfügen, dass keiner vorprescht.

Dass wir alle, im Verkehr, vor einander gleich sind.

Denn ein Auto kann sich nicht gegen ein anderes Auto entscheiden. Darauf basiert der Verkehr. Zusammenarbeit, Koexistenz. Ein ruhiges Auto, ein normales, angesehenes Auto, das daran gewöhnt ist, auf weit vorausschauenden Straßen zu fahren und sich jetzt im steilsten Tunnelabschnitt befindet, fast am tiefsten Punkt, wird daher nicht erwarten, einem Kugelblitz ausgesetzt zu werden, einem verzerrten Brüllen, einem Biss in die Seite, wenn die Luft zuschnappt.

Genau das kommt entgegen, jetzt, und ist schon wieder vorbei.

Endlich aus dem Tunnel draußen stoppt das nüchterne, nichtschuldige Auto und eine Fahrerin steigt aus. Es fühlt sich an, als würde in ihrem Körper gerade ummöbliert. Der Atem geht keuchend, sie versucht, ihn in den Bauch zu bekommen, stattdessen klettert er in den Hals. Unter dem Meeresgrund zwingt sie sich immer, nicht darüber zu grübeln, was sie über sich hat, jetzt hingegen versucht sie, den Blick zu heben und an zivile Rechte zu denken, daran, welche Instanzen es gibt. Das Gehirn schaltet dadurch einen größeren Körper ein, einen anderen, Last abnehmenden Körper, der nicht der privaten Angst, sondern einer übergeordneten gesellschaftlichen Verantwortung angehört. Sie weiß, das hier muss man aufgreifen können, man muss diesen Vorfall vom Normalen trennen, den Finger darauf richten können; so wie das war, soll es nicht bleiben dürfen. Dieser andere Körper sollte die Polizei anrufen, ohne dass das etwas nützen würde. Was kann sie schon über Modell oder Kennnummer sagen, über Fahrer und Farbe. Schwarz, kann sie sagen, vielleicht war es ein schwarzes Auto, jedenfalls dunkel, aber hat sie es wirklich gesehen, erinnert sie sich, erinnert sie sich nicht nur an das Brüllen und den eigenen, das Lenkrad umklammernden Körper?

Sie kann nur über ihren Körper erzählen, über das Maßlose, dem er ausgesetzt war, auf das er so empfindlich reagierte. Also ruft sie lieber die Lokalzeitung an, die tags darauf einen Bericht über neue, wahnsinnige Temposünden bringt, so unheimlich kurze Zeit nach dem Unfall, der fünf Menschen in den Tod riss. In eben diesem Tunnel. Bei eben dieser Geschwindigkeit. Fast als hätte jemand die jüngste Tragödie schänden wollen. Dazu ein Bild von ihr vor der Tunnelöffnung. Der andere Körper. Eine Zeugin, die nichts gesehen hat.

Die Überlebende: die nicht verstehen kann.

FRÜHER SO ZUFÄLLIG WIRKENDE ERINNERUNGEN, geprägt vom großen Überschuss an Leben im Leben, haben sich wie auf einer Eisfläche zusammengeschart, um Jon Berre zu betrachten:

ist er wach?

sieht er uns?

können wir zu ihm durchdringen,

wenn wir alle hierbleiben?

er liegt dort so alleine

wir kennen ihn so gut,

kann er uns noch kennen?

sind wir nicht sein Leben?

da ist etwas in ihm, das nicht er selbst ist,

das hält ihn jetzt zusammen

Sicher kann Jon sie sehen. Hier ist des Sommers möwendreck- und saftfleckenbesudeltes Wachstischtuch, Mädchengelächter hallt von stahlblanken, an einer Wandplatte aufgehängten Töpfen, eine schlechte Gefriertruhe mit grobkörnigen Eisgaumen, die Frost atmet, wenn man sie öffnet und nach den Preiselbeeren tastet oder dem Hirsch von den Freunden aus Hjartdal. Und hier ist eines der Mädchen, es hat gerade Laufen gelernt, wie ruhig es sich an sein Bein lehnt, bevor es plötzlich losgeht – wusste es überhaupt, dass er das war, dass das Bein zu ihm gehört? Es knistert im Walkie-Talkie des Vermessungsingenieurs einige Meter weiter, die Stimme ist im Rauschen wie ein Körper in einer Dusche. Am Wegrand wachsen Mädesüß und Vogel-Wicke, ein Blutrinnsal zwischen den anderen, die den Körper hinabströmen. In zehn Jahren steht dieses Seitental unter Wasser, es gibt Licht im Dunkeln, Wärme im Winter. Das Gesicht des Vaters schwebt über dem Bett, dessen grobe Züge vermitteln ein 19. Jahrhundert-Gefühl. Hab keine Angst, Jon. Florgardinen, Blumenmuster, der Schatten einer in ein Keimblatt kriechenden Fliege. Das Bett bewegt sich, bin ich noch hier, Vater? Er steht in der kiesbedeckten Einfahrt, und das Autowachs rinnt über die Kühlerhaube. Die Sonne blinzelt. Er verfolgt einen Abstoß, wird geblendet, weggegrätscht. Das Schmatzen von Quickton. Der Schmerz, wenn sich ein Haar auf dem Handgelenk im Riemen der Armbanduhr verfängt. Ruth wendet ihm den Rücken zu, Nachbarn, Kindersilhouetten, die Sonne und die schwarzen Körper. Versengte Insekten. Mauersegler am Himmel. Oder Rauchschwalben? Kennst du den Unterschied, Vater? Das Gras muss noch einmal gemäht werden, frisst sich hoch und in den Oktober hinein. Die harten, weißen Streifen werden nach einer Flugübung breiter, fransen aus. Die Flugzeuge sind glühende Spitzen, verspäteter Lärm. Dank des Horizonts wird dir im Auto nicht schlecht, also folge ihm. Ruth erzählt von einem Kollegen aus Tønsberg, der nötig so ausspricht, dass es sich auf schlöfrig reimt. Das Geräusch von Stahl, das im Fleisch abkühlt, oder ist das eher ein Seufzer der Kaffeemaschine, die keiner abgestellt hat? Dort unten auf der Müllhaldensohle liegt ein Klavier, sie haben mich gezwungen, darauf zu üben, krakeelt einer, jetzt rächt er sich, jetzt wälzt sich der Schluff darüber, die Vibrationswalze fährt über die Massen, ein schwacher Ton dringt durch den Lärm. Eine Melodie, sie hängt noch in der Luft, als die Maschinen fort sind. Chopin, Deng Xiaoping. Die Mädchen haben einen Schmetterling gefunden, die Farbe ist aus ihm hinausgerieselt, der Flügel ist eine alte, durchscheinende Landkarte. Nur Feuer kann es mit Landkarten aufnehmen, Feuer und fließendes Wasser. Die Plastikwäscheklammern sind winters draußen geblieben, die blauen und grünen Fischmäuler schnellen mit trockenem Knacken in die Höhe. Unerwartet erscheint Ruth auf dem Parkplatz des Verwaltungsgebäudes, sie sieht ihn nicht. Der kleine Sommersprossengürtel über der Nase ist wie eine Frequenz, die nur wenige, etwa sie, empfangen können. Der Oberschenkelknochen in der Mulde ist hohl, wie sich zeigt, wo das Mark hätte sein sollen, rieseln schwarze Tierchen heraus, wenn man ihn schief hält. Die Vögel handeln rasch, ihre scharfen Konturen schneiden die Luft, als wäre sie, oder sie selbst, aus Papier. Rauchschwalben, sagt der Vater. Der mitnichten nüchterne Nachbar schaut zu, jedes Mal, wenn er an Land kommt, geht er unter, heißt es. Eine Zeichnung liegt noch auf dem Tischtuch. Wieso hat es die nicht hinuntergeweht? Die Sprengung, als müsste der Berg nach Millionen Jahren husten. Die Sprengung hat den Wind gedreht. Und das ist keine Zeichnung, es ist ein Zeitungsausschnitt, Männer mit Helmen stehen vor der Bergbaumaschine und prosten einander zu, durch einen Riss im Felsvorsprung dringt Licht. Steine sausen durch die Luft. Wie Wurfinstrumente aus dem Mittelalter, Katapulte. Die Hummeln in den Johannisbeerbüschen, hast du gesehen, so groß in diesem Jahr? Nimm die ältesten Zweige weg, April, ist April zu früh, zu spät? Jon, hörst du etwas? Weißgebrannte Säume, knallgrünes Gras, Asphalt in Töpfen und Gläsern, Ölhonig. Dort ist eines der Mädchen im Auto, es ist Maud, sie hat alle Verriegelungen runtergedrückt. Jetzt muss sie aufmachen, womit soll er es tun, falls er das Fenster einschlagen muss? Der Staub beginnt zu glitzern, als die Sonne unerwartet hinter den Wolken hervorblitzt. Er liegt still wie ein Ohr.

Slll-sll. Sllllllsllll

Das weiße Licht. Das Nichtslicht.

Fähigkeit zum Zusammenhang.

Sind wir jetzt drin?

SIE SIND MIT PAPIER UND STIFTEN zu den Mädchen gekommen, sie zeichnen gern, haben sie gehört. Die Papierbögen sind grauweiß und alles andere als leer. Die Fasern schlingen sich in- und umeinander, sie gleichen verfilzten Rücken, Beinen und Armen. Maud und Aud nehmen je einen Stift. Ihre Zeichnungen zeigen ein Haus mit großen, sprossenlosen Fenstern. Zwei Mädchen sitzen in Regenanzügen – es ist ein unfreundlicher Tag, mit Matsch und Niesel – in der aufgewühlten Brache am Hügel neben dem Haus. Hier wird vielleicht bald gebaut, vermutlich ein Geräteschuppen, oder entsteht hier Extravaganteres, ein Swimmingpool oder ein Außenkamin, etwas, das die Jahreszeiten und die Nestwärme ausdehnt? Auf der Kuppe über ihnen ist ein Wäscheständer in den Boden betoniert, er ächzt leise in vereinzelten Böen, und lauter, aber in anderem Ton, wenn man ihn dreht, so schnell man kann.

Das eine Mädchen sitzt auf einem Baumstrunk, der ausgerupft und mit gefächerten Wurzeln im Feld liegt wie ein altes Ungetüm. Das Mädchen hält sich die Ohren zu. Das andere kniet zwischen zwei Wurzeln, in einer Hand einen Stein, in der anderen eine Nadel. Es sticht die Nadel in den Stein. Das erste Mädchen schneidet eine Grimasse. Das zweite sticht noch einmal zu, und noch einmal. Atome sind so winzig klein. Es sticht und sticht. Es gilt, genau in die Mitte zu treffen. Das erste hat aufgegeben und nimmt die Hände runter.

Aud und Maud erinnern sich an all das, da ist ja das Haus, ganz nah bei ihnen. Dort gibt es bald Abendessen, warm, heute vielleicht Labskaus, hier draußen werden die Finger steif. Wenn sie so still sind wie jetzt, ist das Wasser im Boden deutlich zu hören, ein ständiges Rinnen, Blubbern und Gurgeln. Keine von beiden rührt sich, auch nicht als ein Nachbar parkt und sie im Hineingehen grüßt. Dass es nicht der Vater sein konnte, haben sie schon von weitem am Auto gehört. Das Brummen ihres Autos ertönt kurz darauf, das Dach gleitet über die Heckenkrone, bevor das Auto, nur halb sichtbar, am Ende der Einfahrt hält. Ihr Vater kommt aus dem halben Auto, sein Kopf zeitgleich mit dem Türenknallen, sein Rufen im Echo des Knalls und des Körpers: Was macht ihr da? Nichts, rufen sie zurück. Nichts ist etwas feucht, ein weißes Wort, es vibriert in der klammen Luft. Seiner Stimme folgen Schritte über seufzende Kieselsteine, die Haustür wird zugeschlagen, Luft in den Kanten, dann hören sie wieder die Erde. Das Blubbern der Erde ist ein kühles Gären, es wächst in ihren Hunger hinein. Vielleicht frischt der Wind auf. Sie frieren und brauchen etwas zu essen, könnten aber ewig so sitzen. Der Matsch, die Erde und die kaltgekochten Steine sind auch ein Labskaus, den sie sich von den Fingern schlecken könnten. Die Finger sind Gabeln. Der große Baumstrunk ist dunkel und morsch, auch den könnten sie essen wie Fleisch. Doch bald wird ihre Mutter auftauchen. Von der Küche her wird sie am Tisch vorbeigehen, an dem sie bald sitzen werden, durch den Geruch des Essens, das sie bald essen werden, und weiter durch die Diele mit Kleiderhaken und Hutablage voller Jacken, Mäntel, Handschuhe und Mützen, sie wird in die abgeschnittenen Gummistiefel steigen, die Haustüre öffnen und über die Schieferplatten im schmutzigen Gras gehen, vier lange, vertraute Schritte bis zur Hausecke, von wo aus sie die Mädchen sehen und hineinrufen wird. Sie hätte auch von der Tür aus rufen und sich das Stiefelanziehen sparen können, aber dann hätte sie lauter rufen müssen, ohne sie zu sehen, und das macht sie nicht. Das macht sie nie. Es gluckst. Sie warten.

 

Mädchen, Essen.

Das ist eine schöne Zeichnung, sagt Krankenschwester Berit Lund, geborene Hartmann. Was habt ihr dort gemacht, auf dem Hügel? Nichts, sagt Aud. Nichts, sagt Berit Lund und wird still. Dann geht sie hinaus zu den anderen.

Sie ist zurück, sie ist wieder da.

Frag nicht, wo sie gewesen ist.