Cyberland

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Das Internet, zu dem ARPAnet, NSFnet und bis heute rund achtundvierzigtausend andere Subnetze verschmolzen und von dem aus sich ebenfalls zahlreiche kommerzielle BBS erreichen lassen, ist eine internationale, demokratisch und dezentral verfasste Gemeinschaft. Keine einzelne Institution kontrolliert diesen größten zusammenhängenden Landstrich des Cyberspace. Das Internet samt seiner modernsten Region, dem graphischen World Wide Web (WWW), gehört niemandem und allen. Der Zugang ist unbeschränkt und wird lediglich in einigen Gebieten Osteuropas und der dritten Welt vom technischen Zustand des jeweiligen nationalen Telefonnetzes limitiert.

Jeder, der über einen Computer und ein Modem verfügt, kann Bürger dieser virtuellen Ansiedlungen werden und selbst zu der ungeheuren Anhäufung von professionellem Fachwissen und kommerziellen Angeboten, bizarren Meinungsäußerungen und künstlerischer Kreativität beitragen - zur, in John Barlows Worten, »größten funktionierenden Anarchie, die je auf dem Planeten Erde erfunden wurde«.

Die gegenwärtige Situation im Cyberspace vergleicht der Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation denn auch »mit dem Wilden Westen des 19. Jahrhunderts. Er ist weit, unerschlossen, kulturell wie legal offen ... ein perfekter Nährboden sowohl für Outlaws wie für neue Vorstellungen von dem, was Freiheit ist.« Und Donald Gooding von Accel Partners, einer Risikokapital-Investmentfirma, die sich an einem halben Dutzend Cyber-Unternehmen beteiligt hat, sagt: »Das Internet ist der Wilde Westen der Technologie. Bislang hat noch niemand gültige Regeln aufstellen können.«

Alles, was sich menschliche Gehirne zwischen hedonistischer Lifestyle-Erweiterung und utopischer Zukunftsbastelei, zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Traum und Alptraum auszudenken vermögen, lässt sich so im Cyberspace erfahren. Wie keine andere Gegend am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zieht er Spinner und Träumer, Abenteurer und Visionäre an. Und in manch ordentlichen Menschen, Militärs und Wissenschaftlern, Studenten und Bankern, weckt er gleichfalls eine wilde Ader.

»Der Cyberspace ist genauso eine frontier, wie die Neue Welt es für das Europa des siebzehnten Jahrhunderts war«, schreibt James Gleick im »New Yorker«: »Es gibt keinen Grund, das zu romantisieren. Die Welt der frontiers ist unangenehm, hässlich und gesetzlos. Zu oft herrscht dort eine entartete Stimmung wie im ‘Herr der Fliegen’. Die Leute lügen schamlos, und andere Leute glauben ihnen. Versteckt hinter den Masken ihrer Pseudonyme, kreischen sich zornige Teenager gegenseitig an. Ich hatte einige schockierend unangenehme Begegnungen der elektronischen Art ... Erst vor ein paar Tagen hat ein erboster junger Mann, den ich nie zuvor getroffen hatte, eine öffentliche Nachricht hinterlassen, in der er dem Wunsch Ausdruck verlieh, dass mir meine Hände mal in einer Explosion abgerissen würden.«

An der frontier.

Ein Pionier erzählt

»Wir haben ein Dutzend Laserkanonen mit Bewegungsmeldern aufgestellt, und die haben in der Nacht die Waschbären einfach weggebraten.«

Während wir auf R. U. Sirius warten, gibt Richard Bandler eine klassische Pioniergeschichte aus der Zeit zum Besten, als die pazifische Techno-Boheme an den Grundlagen der Gegenwart bastelte.

Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Lobby des Mandarin Hotel in der Bay Area. Zeit: ca. 00:11 h vor dem ersten Kontakt.

Bandler ist um die fünfzig. Er hat mehr Bücher geschrieben als normale Menschen Finger und Zehen ausbilden. Er war des Mordes an seiner Freundin Corine Christensen angeklagt, die wie er selbst kokainabhängig war und durch einen Kopfschuss aus Bandlers Waffe starb, nachdem er gedroht hatte, sie zu töten, und er ist 1988 freigesprochen worden. Er hat zusammen mit Linda Hughes Allen das »Neurolinguistische Programmieren« (NLP) begründet, eine äußerst erfolgreiche »Dein-Körper-verrät-dich-und-dein-Gehirn-weiß-mehr-als-du-denkst«-Selbstverbesserungstechnik, die der »Spiegel« zur »Modetherapie der neunziger Jahre« erklärte. Zudem hält er einen Haufen Patente für Erfindungen, die er vor zwanzig Jahren in der Wildwest-Ära der Hightech-Revolution gemacht hat - in einem einsamen Haus in den Bergen, wo eine vielköpfige Waschbären-Plage allnächtlich die Labors heimsuchte.

»Die Farmer dachten natürlich, wir wären verrückt. Drogen-Irre.« Richard Bandler lacht: »Was wir wohl waren.«

Eines Tages, Bandler und seine Truppe arbeiteten an einer Weiterentwicklung des Hologramms als Datenspeicher, kam jedoch Besuch, der sich ein wenig besser auskannte.

»Die Jungs vom FBI wollten, dass ich für sie arbeite.«

Bandler lacht lauter. Er hat ihnen das ganze Zeug hingeschmissen, andere Forschungen begonnen und ist eben damit reich geworden. Das rüstungsrelevante Hologramm-Projekt gedieh in den Händen der Sicherheitskräfte kaum.

»Es reicht nicht, alles einzusacken«, sagt Richard Bandler. »Man muss es auch kapieren.«

Der Mann ist ein Musterbeispiel für die Silicon-Psychedelic-Szene, die R. U. Sirius anvisierte, als er Mitte der achtziger Jahre das Cyberpunk-Magazin »High Frontiers« gründete, den Vorvorgänger von »Mondo 2000«. Das »High« im Titel spielte aufs Drogen-Hoch an wie auf die Hohe Technik - Cyberpunk als Gegenkultur aus High Tech und Haight-Ashbury, aus Drogen und Silicon.

»Wir leben hier an der Grenze«, sagt Richard Bandler ruhig und hält mir das ziemlich wilde Kinderbuch hin, das er gerade veröffentlicht hat: »An der äußersten frontier.«

Jeder halbwegs neutrale Beobachter wird es ihm glauben. In »New Brainia«, wie die smartesten San Franziskaner die Bay Area nennen, wo die Zukunft angeblich immer zuerst geschieht, drängen sich die innovativen Außenposten des Cyber-Zeitalters, von Apple und zahllosen anderen Computerfirmen im Silicon Valley über das NASA Ames Research Center an der Südspitze der Bucht und die Virtual-Reality-Pioniere in Redwood City und Sausalito bis hin zu George Lukas’ Industrial Light & Magic in Marin County. Im Zentrum dieser Hightech-Kultur liegt der Multimedia Gulch, ein alter Warenhaus-Bezirk in der Nähe von Downtown, dessen billige Loftmieten Hunderte von Multimedia-Firmen mit insgesamt über sechstausend Angestellten angezogen haben - junge Leute, die meisten zwischen zwanzig und vierzig, deren Hightech-Lifestyle auf eine Zeit voraus weist, in der biologisches und elektronisches Leben eine vollständige Symbiose eingegangen sind.

»Ich bin der Ansicht, San Francisco sollte ein eigener unabhängiger Staat sein«, hat R. U. Sirius einmal gesagt: »Wir haben die kreativsten Leute in der Computerindustrie, eine blühende Kultur, was Künstler und Schriftsteller angeht, und die stärkste Ökonomie in den USA. Von Marihuana bis Microchips - wir haben den kraftvollsten multikulturellen transsexuellen Polizeistaat in der Welt.«

Richard Bandler ist ganz seiner Ansicht. Gerade erzählt er, begleitet von wilden Handbewegungen und lautem Lachen, eine weitere frontier-Geschichte, die davon handelt, wie er einst die Xerox-Entwicklungscrew in die gewaltigen Rechner-Gewölbe der »Los Angeles Times« lockte, um ihnen vor Augen zu führen, was er mit dem papierlosen Büro als Vorform zukünftiger Entmaterialisierungen meinte, da schwebt plötzlich ein cherubinisches Lächeln über unseren Köpfen.

»Papierlos? Huuuh?« sagt R. U. Sirius und streicht sich die langen Strähnen aus dem Gesicht: »Ich schreibe aber wieder ein Buch. Zusammen mit St. Jude, meiner Partnerin im Provozieren. Darüber, wie wir mutieren und die Welt übernehmen.«

Der Diderot des Cyber.

Ein Lebenslauf

»Eine utopische Persönlichkeit war ich immer. Ich habe mich nie mit dem abfinden können, was da ist«, sagt R. U. Sirius.

Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, chinesisches Restaurant Silk in der Bay Area. Zeit: 02:45 h nach dem ersten Kontakt.

Die Luft, die sich wie eisiger Atemhauch aus der leise rauschenden Aircondition auf uns herab senkt, riecht klarer und reiner, als es die Natur erlaubt. Die Flottille chinesischer Kellner bedient sprachlos und geschmeidig wie von seidener Hand programmiert. Sollte das Hochhaus, in dem wir speisen, Fenster haben, so hat der Innenarchitekt sie unsichtbar werden lassen. Wir könnten nirgendwo sein oder in einem tiefgekühlten Traum.

»Ich bin alt«, sagt R. U. Sirius und sieht durch mich hindurch, als läge hinter mir eine andere Galaxis. »Ich bin Jahrgang 1952.«

Der bisherige Lebensweg meines Cyber-Zerberus folgte strikt den Windungen des Zeitgeistes, und so begehrte er, ein Hippie zu werden, kaum dass er in seiner damaligen Inkarnation als Ken Goffman pubertierte:

»Das Angenehme daran war, dass diese Veränderung meines Lebens keiner besonderen Anstrengung bedurfte.«

R. U. Sirius lächelt das leicht buddhistische und enervierende Lächeln, das sein Markenzeichen ist, und erzählt weiter, wie er im Sommer 1968, bereits vom Hippie zum Marxisten bekehrt, in einem Buchladen jobbte und eine Kopie von Abbi Hoffmanns »Revolution for the Hell of It« stahl.

»Das wurde der größte Einfluss meines Lebens. Da fand ich die psychedelische Dada-Energie, das Potential für Aggression und Spannung, das Verlangen, alles auf den Kopf zu stellen. Die Cyberkultur ist nur mein jüngster Schritt in diese Richtung.«

Der Marxist wandelte sich damals zum anarchistischen Yippie und, im Gegensatz zur Mehrheit seiner alternativen Wegbegleiter, zum radikalen Anhänger des technischen Fortschritts.

»Technophil wurde ich aus der Überlegung heraus, dass in der befreiten Gesellschaft den Menschen alle Arbeit von Maschinen abgenommen würde. Im Grunde ist das ein Gedanke von Herbert Marcuse, der hier in der Bay Area sehr populär war.« R. U. Sirius holt Luft: »Trotzdem hat mir meine Technikliebe lange Zeit viel Ärger eingetragen. Die Alternativ-Szene verkannte ja die ungeheuren Möglichkeiten. Die Leute des ‘New Age’ zum Beispiel wollen alles verlangsamen, während wir an der ‘New Edge’ alles beschleunigen wollen. Aber ich wusste, die Gegenkultur würde irgendwann aus der pessimistischen Ablehnung des technischen Fortschritts herausfinden müssen. Die Revolution wird aus Optimismus gemacht. Aus Begehren und nicht aus Versagung, aus Verschwendung und nicht aus Askese; nicht aus Verboten, sondern aus Wünschen.«

 

Anfang der achtziger Jahre, kurz nach seiner Ankunft an der Westküste, beschloss R. U. Sirius, zum Verkünder der technischen Heilslehre zu werden.

»Ich fühlte, dass ich etwas mitzuteilen hatte. Erst wollte ich eine Band gründen. Aber wir konnten keinen Schlagzeuger finden. Und dann versuchte ich es eben mit einer Zeitschrift.«

1984 traf er auf der Äquinoktium-Party eines lokalen Magiers die Anthropologin Queen Mu alias Alison Kennedy. Die Ex-Freundin von Aldous Huxley ist Expertin für Kröten, Spinnen und Stachelrochen, über deren halluzigene Körpersäfte sie wissenschaftliche Abhandlungen veröffentlicht hat. Mit ihrem bescheidenen Erbe gründeten Queen Mu und R. U. Sirius das Billig-Zine »High Frontiers«.

»Ich fühlte, dass digitale Technologie und auch abstrakte Erkenntnisse und Entdeckungen wie die Chaostheorie und die Quantenphysik ein neues Totem für das psychedelische Bewusstsein werden würden. Wir wollten diese Technik und das neue Wissen propagieren. Wir wollten Leute sein, die herausragen und sich nicht fürchten.« R. U. Sirius grinst stolz: »Als erstes haben wir damals die Hacker-Gemeinschaft an den Ohren aus ihren abgedunkelten Zimmern ans Tageslicht gezerrt. Sie haben geschrien und gezetert. Aber es hat ihnen nichts geholfen. Die gesamte Computerindustrie im Silicon Valley war ja durchsetzt von Leuten, die eine Hippie-Ästhetik hatten, linke oder libertäre Politik, all diese wirren Zauberer, und das wusste keiner.«

Ende der achtziger Jahre und getragen von der Cyberpunk-Welle mutierte das bescheidene »High Frontiers« (Auflage fünfzehnhundert Stück) erst zu »Reality Hackers« (Start 1987, Auflage zwanzigtausend Exemplare) und schließlich zum hochglänzenden »Mondo 2000«.

»Diese Namensänderung und das äußere upgrading waren nötig, um wenigstens ein Stück weit ins Massenbewusstsein vorzustoßen«, sagt R. U. Sirius über sein »Mutazin«: »Ich betrachte es nicht wirklich als Journalismus, mehr als Performance Art. Wobei ich den Gedanken liebte, ein Magazin zu veröffentlichen, das in seinem Titel ein Verfallsdatum trägt: das Millennium. Mit jeder Nummer von ‘Mondo 2000’ betreiben wir den Countdown zur Apokalypse.«

Das kunst- und technikverliebte Kult-Blatt, zwischen 1989 und Ende 1995 mit nur vierzehn Ausgaben zu je rund siebzigtausend Exemplaren erschienen, wirkte auf dem amerikanischen Zeitschriftenmarkt äußerst stilbildend. Der Gesamtkunstwerk-Ansatz schert sich selbst um ökonomische Nachteile nicht: Werbekunden müssen ihre Seiten zur Genehmigung vorlegen, als handele es sich um redaktionelle Illustrationen. Entsprechen die Anzeigen - für Hightech-Konsumgüter und Wilhelm Reichsche Orgondecken, für Ufo-Detektoren und Computermessen - nicht den ästhetischen Standards, werden sie abgelehnt.

Die Ansprüche ans Lesepublikum sind ebenfalls hoch. »Mondo 2000« adressiert die Verrücktesten und Neugierigsten unter den Klugen und präsentiert technologische Innovationen, arkanes Wissen und die neuen Computer-Wirklichkeiten nicht nur erotischer als der »Playboy« seine nicht minder künstliche Wetware, sondern auch komplizierter als manch wissenschaftliches Fachbuch.

»Wir verlangen von unseren Lesern, dass sie sich anstrengen«, sagt R. U. Sirius.

Er firmiert im Impressum als »Icon-at-Large«, was in Anspielung auf den »Reporter-at-Large«, der gründliche Artikel schreiben darf, wie auf den Kriminellen, der »at large«, also auf der Flucht ist, soviel bedeutet wie »flüchtige Ikone mit sehr viel Freiheiten«. Weggefährtin Queen Mu übt die Funktion einer »dominineditrix« aus. Zusammen sorgen sie für intelligente hedonistische Artikel, die vom Einfluss ihrer Idole William S. Burroughs und Timothy Leary, Abbi Hoffmann und Robert Anton Wilson zeugen, aber ebenso für seltsame Berichte über seltsame Dinge.

»Mondo 2000«-Leser erfahren zum Beispiel einiges über »Die Musik der Doppelhelix«, »Kybernetische Juwelen - tragbare Microcomputer« oder Extrem-BBS, die schwer zu beschaffende Infos enthalten, etwa wie man eine eigene Atombombe baut oder einen Mörderwal masturbiert. Ein Leichenteil-Memorabilien-Händler verteidigt sein Gewerbe - »Einzig der Tod ist noch demokratischer als der freie Markt, richtig? Also, hier haben wir einen Geschäftszweig, in dem beides zusammengeht« - und schwärmt dabei von dem idealen Package-Deal: »Das Tagebuch von Che Guevara zusammen mit der Hand, die es schrieb!« Blixa Bargeld von »Einstürzende Neubauten« offenbart: »Die RAF-Leute waren meine Helden.« Jeff Koons wird als »Liberace der Endzeit« porträtiert. Ein Essay des führenden L.A.-Historikers Mike Davis über die kalifornische »Ökologie der Angst« beschreibt die Planung virtueller Gefängnisse. Und in einem Interview spricht der »Ausserirdische-Elfen-brachten-uns-die-Drogen«-Pabst Terence McKenna von der Möglichkeit, das gesamte Wissen der Menschheit auf ein paar dunkle Kontaktlinsen herunterzuladen, um es so jederzeit vor Augen zu haben, und schließlich gesteht er: »Der menschliche Verstand ist unglaublich pervers. Ich weiß das, weil ich selbst einen habe.«

Das zweite »Katzenjammer-Kid der Psychedelic-Szene« ist Terences Bruder Dennis. Zur Diskussion seiner Theorien merkt die »Mondo 2000«-Redaktion in Klammern kühl an: »Dennis McKennas Hyperkarbolations-Theorie verbindet Elektronenwirbelresonanzlehre, holographische DNA-Informationsgewinnung, Supraleiterforschung und psychedelische Chemie. Postdiplom-Abschlüsse auf irgendeinem dieser Wissensfelder wären hilfreich, um herauszufinden, ob das alles nicht nur eine Kiste voller Scheiße ist.«

»Und wenn?« R. U. Sirius macht eine wegwerfende Handbewegung. »Die Wirklichkeit ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass wir Kreativen und Verrückten mehr Macht und Einfluss bekommen als die engstirnigen Sturköpfe, die normalerweise den Ton angeben.« Um seine eigene Machtbasis auszuweiten, forme er gerade eine Unternehmungsgruppe. »Natürlich mit dem Fernziel, die Welt zu übernehmen. Wenn man eine Sache anfängt, muss man sie auch voll durchziehen.«

Wie Andy Warhol sich selbst zur Ikone des Pop inszenierte, arbeitet R. U. Sirius an seinem Aufstieg zur Ikone des Cyber. Warhol verfügte mit »Interview Magazine« über ein eigenes Sprachrohr, Sirius hat »Mondo 2000«, um seinen Ruhm zu mehren. Warhol brachte seine Pop-Philosophie in Buchform unter die Menschen, Sirius hat den »User’s Guide to the New Edge« publiziert. Nun hat er - wie Warhol mit »Velvet Underground« - eine eigene Band gegründet. Als Name für seine akustische Schöpfung, die »Hauskapelle des Simulacrums«, wählte er »Mondo Vanilli«:

»Ich trete auf und wieder ab. Ich bin der Michael Jackson für Arme. Und Kluge. Ich erscheine und verschwinde. Das soll meine Rolle in der Band sein. Doch wir haben daneben eine phantasievolle Sängerin, Simone 3Arm, eine elektrische Göttin, die schon viele Pornos gemacht hat, eine wunderbare Mischung aus Salvador Dali und Alice Cooper.«

Meint er das ernst?

»Ich nehme nie etwas ernst. Am Ende geht alles zu Ende, unser Leben, die Welt, wie wir sie kennen.« Kein Anflug von Traurigkeit schwebt dabei um seine Miene. »Aber natürlich bin ich von Andy Warhol sehr beeinflusst worden. Er war der erste, der an seiner Stelle einen Roboter hat auftreten lassen. Und er hat jemanden angeheuert, der für ihn Reden gehalten und Interviews gegeben hat. Er erregte Aufmerksamkeit, und ich möchte gleichfalls noch einige Jahre öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Es ist so verdammt leicht, das Interesse der Leute zu verlieren.«

Nachsichtig legt R. U. Sirius mir seine ganz private Theorie der Öffentlichkeit dar: Das menschliche Gehirn ist rückständig, seine Aufnahmekapazität äußerst beschränkt. Wir können die Daten nicht so schnell aufnehmen, wie sie erzeugt werden. Das hat im digitalen Zeitalter zu einer Mangelökonomie besonderer Art geführt. Nicht an Waren oder Informationen, nicht an Ausdrucksmöglichkeiten oder an Einnahmequellen fehlt es uns, sondern an der Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen. Sie ist das einzige Gut, das sich im Zeitalter universeller Reproduzierbarkeit nicht mehr vermehren lässt.

»Wenn eine Frau wie Madonna vierzig Prozent aller im Land vorhandenen Aufmerksamkeit absorbiert, bleibt für uns andere wenig übrig. Bruce Sterling hat mal bei einer Podiumsdiskussion gesagt, die Aufmerksamkeitsökonomie löse allmählich die Geldökonomie ab. Alle Werte werden früher oder später danach berechnet werden, wie viele Leute etwas wahrgenommen oder benutzt haben. Nach der Aufmerksamkeit, die man erregt, wird man zukünftig bezahlt.« Der Cyberpropagandist strahlt: »Das wird meine Welt sein.«

Kritiker attestieren R. U. Sirius eine »koffeinreiche Prosa«, beste Voraussetzung, um Aufmerksamkeit en gros zu erregen. Eine wandelnde PR-Veranstaltung, Mundstück der Plattitüden, die auch ein Millionenpublikum begreifen könnte, mag der Cyberpropagandist allerdings nicht sein. Er strebt nach intellektuellerem Ruhm.

»Ich bin auf der Suche nach dem Stein der Weisen, was Cyber angeht«, sagt er. »Ich setze immer alles auf die beste Karte in der Stadt. Und das ist gegenwärtig die Cyberkultur, wo das biologisch-physische Menschwesen eine technische Lösung für die quälendsten Probleme seines Seins findet.«

Eine höhere Ordnung in dem wirren und verwirrenden Boheme-dynamischen-Komplex aus kybernetischen und künstlerischen Verrücktheiten zu entdecken, fällt jedoch selbst mit Hilfe avantgardistischer Technik- und Kulturphilosophie, auf die mein Fremdenführer soviel gibt, nicht leicht. Unzählige maßgeschneiderte Subkulturen und Kults, artistisch und artifiziell, elektronisch und eklektisch, scharen sich um die verschiedensten Forschungsgebiete und Kunstrichtungen, um Denk- und Computer-Modelle.

Wenn er dieses grelle Weltbildkaleidoskop aber schon nicht auf den geschichtsphilosophischen Begriff bringen kann, will R. U. Sirius wenigstens der Diderot des Cyber-Age sein, derjenige, der das subkulturelle Chaos enzyklopädisiert. Die sammelsurische Tour d’Horizon, die er mir versprochen hat, absolviert er denn auch atemberaubend versiert mit Warp neun.

Cyberklopädie II:

Gehirnhacking & Cybertheorie,

Körperhacking & Bionische Engel,

Top-vier-Cyberclans

»Für eine Gesellschaft ist es grundsätzlich von Nutzen, eine kleine, kontrollierte Gruppe von selbstzerstörerischen Narren zu besitzen, die bereit sind, ungetestete und unverstandene Geräte und Substanzen an sich auszuprobieren«, schreibt Bruce Sterling: »Und wenn ich je einen Mann getroffen habe, der wie kein anderer für ein solches Leben am äußersten Rande geeignet ist, dann ist es R.U. Sirius.«

An unserem zweiten Initiations-Abend beschränkt der zum Pummeln neigende Cyberguru seine Selbstversuche jedoch auf die Einnahme von wenig Kalorien und gewaltigen Mengen von Mineralwasser. Dazu lächelt er dauerhaft unirdisch.

Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Julie’s Supper Club in der Bay Area. Zeit: 24:15 h nach dem ersten Kontakt.

Der Strom steter Worte, mit denen R.U. Sirius die zu Clans verschworene Cyberszene heraufbeschwört, ist dafür berauschend genug. Was wir beobachten, erklärt er, seien die gewagten Experimente einer Zwischenzeit, der lange Anlauf zum großen evolutionären Sprung. Die Menschheit habe sich eine Umwelt erschaffen, für die ihre genetische Ausstattung nicht mehr hinreiche, ihre Techniken zur immer notwendiger werdenden Selbstverbesserung aber seien noch zu unausgereift.

Im Zentrum der Cyberkultur stehen daher provisorische Versuche, der Realität auf die Sprünge zu helfen. Sie zielen auf eine Befreiung des Alltagslebens und die Erschaffung alternativer Wirklichkeiten, auf eine Steigerung der körperlichen Empfindungen und eine Erweiterung des Bewusstseins. Darin sind die Cyberclans Nachfolger der Hippie-Revolte der sechziger Jahre und der psychedelischen Popkultur, die um sie herum entstand. Deren revolutionäre Triebkraft war der Rock’n’Roll. Zum ganz normalen Milliardengeschäft mutiert, hat er heute seine innovative und existentielle Bedeutung verloren. Die Musik vermag nicht mehr das Bewusstsein einer neuen Generation zu formulieren. Alles ist ausprobiert und gesagt worden, alles Neue ist Revival. Diese Einsicht markiert Kurt Cobains melancholische Frage auf dem letzten »Nirvana«-Album vor seinem Selbstmord: »What else can I say?« - »Was kann ich noch anderes sagen?«

 

Seit die Musik von der vordersten Front ins Glied der Künste zurückgetreten ist, spielt der Computer die Rolle, Gemeinschaften und Kultur zu stiften. Das Woodstock der Cyberszenen liegt im Internet, ihre Utopie sieht den Menschen im Medium der Technik, befreit von seinen sozialen wie biologischen Zwängen.

»Meiner Ansicht nach gibt es einen generellen Trend in Richtung dessen, was man die ‘Veräußerlichung der Seele’ nennt«, sagt R. U. Sirius. »Mehr und mehr von dem, was wir sind, realisiert sich in medialen Räumen oder im Cyberspace und nicht mehr in unserer lokalen Umgebung oder in unseren Körpern. Das ist Teil eines Prozesses, der sich nicht aufhalten lässt. Ich glaube, dass wir uns am Ende wahrscheinlich auf die Netze hoch- oder auf Datenspeicher runterladen werden oder Kopien von uns machen werden, um unsere Biologie zu überwinden - ohne notwendig auf sie zu verzichten -, um uns mit der Technik zu vereinen und Alternativen zur Biologie zu haben.«

Solange derlei noch an technische Grenzen stößt, konzentriert sich der utopische Wille der Cyber-Subkulturen, dem Ist-Zustand zu entkommen, auf die bereits vorhandenen Mittel und Wege, die Grenzen der äußeren Realität und des eigenen Körpers zu erweitern.

Gehirnhacking: smarte Drogen. Intelligenz und Kreativität sind in der Cyberkultur so hip, wie es flache Bäuche einst in Yuppiekreisen waren. Der Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch Workout und Steroide entspricht die Erhöhung der eigenen Smartheit durch Psychotechniken und vor allem Smart Drugs, Hightech-Drogen, die smart hergestellt sind und smart machen.

»Wir können nicht Schritt halten mit der Entwicklung, die uns und die Maschinen vorantreibt, ohne unsere Frequenzen zu erhöhen. Smarte Drogen ermöglichen uns das; sie ermöglichen uns, ein Stück freier von biologischer Kontrolle zu werden. Sie gleichen Steroide für Börsenmakler«, sagt R. U. Sirius: »Ich verwende diese Metapher, um anzudeuten, dass wir uns von genussorientierten psychedelischen Drogen wegbewegen und zu solchen hin, die die Leistungsfähigkeit erhöhen. Wir haben Steroide für den Körper und Intelligenz steigernde Drogen für den Verstand. Wenn man dabei ist, Karriere zu machen, kann man es sich dann wirklich leisten, auf den Vorteil zu verzichten, den die smarten Drogen bieten?«

Der Ausdruck Smart Drugs selbst geht auf John Morganthaler zurück, der auch 1990, zusammen mit Ward Dean, die bestsellernde Bibel der Smartdrogen-Szene geschrieben hat: »Smart Drugs and Nutrients: How to Improve Your Memory and Increase Your Intelligence Using the Latest Discoveries in Neuroscience« - »Smarte Drogen und Ernährungsstoffe: Wie man sein Gedächtnis verbessern und seine Intelligenz steigern kann, indem man von den jüngsten Entdeckungen der Neuroforschung Gebrauch macht«. Das Buch ist gewissermaßen das Alte Testament. Das Neue erschien drei Jahre später und heißt »Star-Trek«-inspiriert: »Smart Drugs II: The Next Generation«.

Die Smart-Drogisten machen sich Erkenntnisse der Psychobiologie zunutze, die zeigen, dass das Gehirn keine unveränderliche Hardware darstellt. Es ist vielmehr eine Art chemischer Dampfkessel, in dem die Synapsen- und Neurotransmittersäfte unter Hochdruck zirkulieren. Ihre Konzentration lässt sich so einfach erhöhen wie die von Alkohol im Blutkreislauf - mittels nootropischer und neuromantischer Drogen, die Intelligenz steigernd und Bewusstseinserweiternd auf die höheren Gehirnzentren einwirken.

Generell lässt sich der Effekt der Nootropics mit der traditioneller Stimulantien wie Koffein, Kokain und Amphetaminen vergleichen. Die jedoch verschaffen dem Körper nur einen schnellen Schub, der die Gedächtnisleistung und das Kombinationsvermögen momentan steigert und das Gehirn wenig später erschöpft zurücklässt.

»Psychedelische Drogen verstärken die Fähigkeit zu fokussieren, sich zu erinnern und Informationen zu verarbeiten«, sagt R. U. Sirius. »Aber sie haben die Nachwirkung eines Vorschlaghammers.«

Smarte Drogen hingegen sollen als Dauerbrenner eine langfristige Erhöhung von Gehirnleistungen wie Konzentrations- und Assoziationsfähigkeit bewirken sowie die Alterungsprozesse des Gehirns verzögern.

Der Vorschlag, die Frequenzweite der Wahrnehmung und die Zahl der arbeitenden Schaltkreise im Gehirn durch chemische Stimulation zu erhöhen, dem Gedächtnis mehr Speicherfähigkeit und dem Denken schnellere Prozessoren zu besorgen, stieß im amerikanischen Westen auf ein breites Bedürfnis. Von San Francisco bis Phoenix schossen im Dutzend Mailorder-Firmen und Smart Bars aus dem Boden, in denen man sich mit Designer-Gehirnfutter und Denk-Getränken mit so schönen Namen wie »Intellex«, »Psyber Tonic« oder »Energy Elixir« versorgen kann, meist Mixturen aus Vitaminen und Koffein plus Cholin, Phenylalaline und Ephedra.

Prominenteste Lieferanten der Gehirnbrennstoffe für die smarte Szene sind die Lebensverlängerungs-Gurus und »Mondo 2000«-Autoren Durk Pearson und Sandy Shaw. Ihre Trockendrinks, die auch der Achtundsechziger-Revolutionär Jerry Rubin bis zu seinem tödlichen Unfall vertrieb, bestehen zu einem Großteil aus Aminosäuren, die sich im Körper zu zell- und Gewebe stärkenden Proteinen verbinden. Einige Aminosäuren und Ernährungsstoffe wie Choline verwandeln sich zu Neurotransmittern - Zerebralfutter, das die Verbindungen zwischen den Gehirnzellen stärkt.

Stärkere nootropische Gehirnbrennstoffe wie Deprenyl, Hydergine, Phenylalin, Milacemide, Phosphatidyleserin, Vasopressin oder Piracetam sind oft rezeptpflichtig und erfordern umständlichere Beschaffungswege. Piracetam etwa wird üblicherweise zur Nachbehandlung bei Schlaganfällen mit Gedächtnisverlust verschrieben. Als typische Droge des Computerzeitalters beschleunigt es den Datenbus zwischen den getrennten Denkmaschinen in der linken und rechten Gehirnhälfte. R. U. Sirius’ Liebling unter den smarten Drogen ist jedoch das euphorisierende und Gedächtnis steigernde Vasopressin.

»Vasopressin ist der chemische Stoff, der im Gehirn erzeugt wird, wenn man Kokain oder Amphetamine schnupft. Das Zeug gibt einem einen richtigen Kick. Man fühlt sich sehr stimuliert und interessiert sich für alles viel stärker«, sagt Sirius. »Anders als Kokain jagt es aber den Kreislauf nicht so hoch. Man hat das gute Gefühl ohne die Neben- und Nachwirkungen.«

Kevin Kelly, als damaliger Chefredakteur der »Whole Earth Review« ein früher Tester der Droge, gab ihm recht. Er beschrieb, mit welcher Klarheit und Selbstsicherheit er unter dem Einfluss von Vasopressin Thomas Pynchons »Gravity’s Rainbow« lesen konnte und nannte es eine Droge für Schriftsteller:

»Vasopressin ist ein hervorragendes Mittel, um schnelles Lernen und das Begreifen komplexer Gedankensysteme zu befördern.«

Andere, die Vasopressin versuchten, berichten jedoch von unangenehmen Nebenwirkungen wie Schwindelgefühlen, Krämpfen und dem unwiderstehlichen Wunsch nach Darmentleerung.

»Sicher, heute sind die Chemikalien oft noch stümperhaft und roh«, räumt Sirius ein. »Eines Tages werden wir Gehirnimplantate haben. Man wird in der Lage sein, auf einen Knopf zu drücken und so die Chemikalien im Gehirn zu aktivieren, die man gerade möchte.«

Bruce Sterling warnt direkter vor dem Boom der smarten Drogen: »Nehmt nichts von dem Zeug, von dem sie behaupten, es mache euch klüger. Es macht euch nur ärmer.«

Doch der Weg in die breiten Massen ist kaum aufzuhalten. Anti-Depressiva wie Prozac beseitigen allmählich das Stigma, das in weiten Kreisen über Bewusstseinsverändernden Chemikalien lag. Umfragen zufolge nehmen bereits über einhunderttausend Amerikaner regelmäßig smarte Drogen, und von den pharmazeutischen Konzernen werden gegenwärtig über einhundert neue Produkte entwickelt.