Schweinekrieg

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Es wurde ein langer Abend. Um 22 Uhr stand erst der Beginn des zweiten von drei Akten an, und Schranz ärgerte sich bereits, dass er diesen Auftrag angenommen hatte. Vier Stunden Theateraufführung und es würden 80 Zeilen und ein Bild dabei herauskommen. Ein niedriger Stundenlohn, fürwahr.

Er verfolgte eher gelangweilt den Verlauf des Stückes. Es handelte von irgendeiner Verwechslungsgeschichte zwischen zwei Bauern, in die dann später auch noch die beiden Frauen verstrickt wurden. Dabei fand Schranz indessen immer mehr Gefallen an der rotblonden Schauspielerin, die eine der beiden recht garstigen Bauersfrauen spielte. Sie hatte eine gute Figur, eine schöne Stimme, ihre Augen glänzten, was entweder an den Bühnenscheinwerfern lag oder am vierten Bier, das der Journalist vor sich stehen hatte.

Nach der Vorstellung sah er die Mittdreißigerin kurz im Gang stehen, und sie bat ihn, ihr eine Kopie des Artikels dieses Abends zu schicken. Der Regisseur hatte sich schon vor Beginn des Stückes bedankt und Schranz darum gebeten, eine freundliche Kritik zu schreiben. Und so wusste der ganze Saal, dass Schranz nun am Zug war, diesen Abend in positiver Weise in der HV darzustellen.

Veronika hatte den jungen Mann angestrahlt und dabei erklärt, sie habe leider keine Möglichkeit, die Zeitung zu kaufen.

Durch dieses kurze Zusammentreffen war ein feines Band von Gefühlen entstanden, ohne dass sich die beiden in den letzten Wochen bisher sehr nahe gekommen wären.

Deshalb freute er sich über die Einladung. Allerdings fühlte er sich auch unsicher ob dieser Zweisamkeit, die auf ihn wartete.

Bauer klang am Telefon ziemlich genervt und hektisch.

»Mensch, Schranz, was haben Sie da für ein komisches Gerät? Immer mehr von diesen Dingern gibt es jetzt hier bei uns.«

»Sie haben Ihren Namen nicht draufgesprochen.«

»Doch klar, aber dieses Gerät hat dauernd gepiepst.«

Schranz vertiefte das nicht weiter. Er wollte zum eigentlichen Grund des Anrufs kommen.

»Was gibt es denn Neues?«

»Wir, das heißt, Sie, die Schweinezüchter und ich, werden uns wieder treffen. Gleicher Ort wie letztes Mal, gleiche Uhrzeit. Sie sollten bitte eine halbe Stunde früher da sein, wir beide müssten uns vorab noch absprechen.«

Es kam schon öfter mal vor, dass Leute versuchten, einen Journalisten vor dem Verfassen eines Berichtes zu beeinflussen. Was genau Bauer vorhatte, ahnte Schranz noch nicht. Da er sich nicht gerne beeinflussen ließ, war er auf der Hut. Obwohl auch sein Chef eine Art Zensur darstellte. Wenn Martens Kürzungen oder kleine Umstellungen am Text vornahm, dann hatte Schranz es auch zu akzeptieren.

In den ersten Wochen hatte er sich deswegen mit seinem Vorgesetzten ausgesprochen. Und die Erklärung von Martens für starke Textkürzungen an einem von Schranz’ Artikeln war gewesen, dass aufgrund eines Berichts über einen schweren Verkehrsunfall eben alle anderen Artikel auf dieser Zeitungsseite gekürzt worden seien. Und die entsprechenden Zeilen hatten natürlich auch seinen Artikel betroffen. Was hätte Schranz darauf erwidern sollen? Ein Chefredakteur würde immer plausible Erklärungen finden.

*

8. September 1983

Der Abend bei Veronika zog sich hin.

Schranz hatte sich nicht getraut, der jungen Frau zu gestehen, dass er sie großartig fand. Und sie war offensichtlich völlig übermüdet, die Erziehung ihrer beiden pubertierenden Töchter schien sie sehr anzustrengen. Nachdem sie nunmehr ein freies Wochenende vor sich hatte, brauchte sie dringend Erholung. So kam es, dass Schranz noch vor 24 Uhr wieder daheim gewesen war.

Der Termin bei den Schweinezüchtern stand auf der Tagesordnung. Wieder war Schranz viel zu spät losgefahren, durch Crailsheim hindurch herrschte das übliche Verkehrschaos. Es wurde Zeit für die schon lange geplante, aber noch nicht gebaute Umgehungsstraße.

Er würde wieder einmal mindestens 10 Minuten zu spät zu einem Termin kommen.

Diesmal fand er die Einfahrt zum Gasthaus Sonne auf Anhieb, er stellte seinen Golf in den kühlen Schatten einer hohen, alten Kastanie und betrat die Gaststube. Im Hintergrund hörte er Bauers kräftige Stimme. Er telefonierte wohl in einem Nebenraum.

»Nein, dem können wir nicht zustimmen. 50 Pfennige weniger als für die Rasse der Holländischen Schweine, das kommt gar nicht in Frage.«

Ein vernehmliches Krachen ließ vermuten, dass Bauer den Hörer auf die Gabel des Telefonapparats geknallt hatte.

Die Durchgangstüre wurde mit Schwung aufgestoßen, touchierte leicht die Wand, in welcher ihre Scharniere verankert waren und der Landwirt erfüllte sofort den Raum durch seine Präsenz.

»Hallo, Herr Schranz. Schön, Sie zu sehen. Außer uns ist noch niemand da. Gut so. Wir sollten uns eine Strategie überlegen.«

»Es ehrt mich ja, dass Sie wir sagen, aber ich weiß von nichts.«

»Na, mit wir meine ich auch wir alle, nicht nur Sie und mich. Alle Hohenloher, alle Bauern hier. Wir sitzen doch in einem Boot.«

Ein einnehmendes Wesen, da gab es keinen Zweifel.

Er hatte beide Arme in seine Hüften gestemmt, sodass sich seine kräftigen Oberarmmuskeln zeigen konnten und dabei das eng anliegende schwarze T-Shirt deutlich nach außen bogen.

»Ich möchte die nächsten Monate meine ganze Kraft daran setzen, einige Ferkel vom SHL so großzuziehen, dass es das bestmöglichste und schmackhafteste Fleisch ergibt. Dazu will ich mich aber nicht von den Futtermittelproduzenten abhängig machen. Ich werde das Getreide unserer Felder selbst zum Schweinefutter aufarbeiten, und ich werde die Ferkel nicht mit Antibiotika spritzen lassen. Dann wollen wir doch einmal sehen, ob sich dafür nicht ein Markt entwickelt.«

»Und wozu brauchen Sie die anderen Bauern?«

»Erstens bin ich hundertprozentig von meinem, bzw. unserem Erfolg überzeugt. Letztes Mal hat sogar einer der anderen Bauern beim Abschied zu mir gesagt, ich sei für sie alle so etwas wie ein ›Patrone‹.«

Bauer war sichtlich stolz darauf.

»Und zweitens, ich habe hier auf unserem Hof noch genau eine Sau vom SHL. Ich könnte zwar auf die Manneskraft des Ebers meines Schwagers zurückgreifen, aber ich brauche unbedingt frisches Blut. Und wissen Sie, noch etwas ist mir besonders wichtig …«

Seine Augen funkelten, als er Schranz anschaute.

»Letztes Mal muss einer dabei gewesen sein, der alles Wort für Wort an die Schweinezentrale ausgeplaudert hat. Danach hat diese den Einkaufspreis je Kilogramm für die normalen Ferkel nochmals um 10 Pfennige angehoben, bei den SHL ließen sie allerdings den alten, ungünstigeren Preis stehen. Typisch!«

Bauer machte eine verächtliche Handbewegung. Dabei hatte er anscheinend nicht mit einkalkuliert, dass er schon sehr nahe am Stammtisch stand. Seine Hand donnerte mit den Knöcheln auf die eichene Tischplatte, ein leichtes Krachen war zu vernehmen. Bauer verzog kurz sein Gesicht, um sich bald darauf wieder im Griff zu haben.

Das Gespräch mit den Landwirten nahm einen ähnlichen Verlauf wie beim letzten Mal, allerdings fehlten drei Bauern aus der Runde von vor zwei Wochen.

Schranz hatte sich nicht alle Gesichter einprägen können. Die Teilnehmer saßen auch an einem anderen Platz als beim letzten Mal. In Gedanken überlegte er, was wohl die Gründe sein konnten, diese Details an Dritte weiterzugeben. Wobei man schon sagen musste, dass es clever von der Schweinezentrale gewesen war, den Preisabstand zwischen normalem Schweinefleisch und dem SHL nochmals zu vergrößern. Er verstand jetzt auch, dass sich zwei Bauern beim letzten Mal selbst als Spinner und Idealisten bezeichnet hatten. Logisch schien es wahrlich nicht, ausgerechnet jetzt auf das SHL zu setzen.

Der Patrone führte das Wort, es gab wenige Wortmeldungen. Und alle hörten ihm zu, kommentarlos, wortlos, ohne Widerspruch, aber auch ohne ein Zeichen der Zustimmung.

Aber sie sagten ihm zu, dass er jeden ihrer Eber anfordern durfte, um seine letzte Sau vom SHL zu decken. Und sie wollten auch auf die übliche Deckgebühr verzichten. Anscheinend hofften sie darauf, an etwas Neuem, Zukunftsweisendem beteiligt zu sein. Ab der Stunde null, aus dem Nichts sozusagen.

Zum Abschluss versprach der Kollege Neumann dem Patrone, dass er den nächstmöglichen Decktermin seiner Sau ausnutzen wollte. So könnte es eventuell klappen, dass das SHL auf der nächsten Grünen Woche in Berlin ausgestellt werden konnte. Diese weltweit größte Veranstaltung ihrer Art schien Bauer genau dafür prädestiniert zu sein, die Geschichte des SHL wieder aufleben zu lassen. Wie er berichtete, hatte er auf eigene Kosten dort bereits einen Stand angemietet. Obwohl sich dieser aus finanziellen Gründen auf eine gewisse Mindestgröße beschränkte, würden laut Bauer doch zwischen 20.000 bis 30.000 DM an Kosten anfallen. Für die anderen Landwirte war das ein gewichtiges Wort, ein Grund mehr, einen Vertrauensvorschuss zu gewähren.

Als sich alle von ihren Plätzen erhoben hatten, um wieder zu ihrer Arbeit zurückzukehren, stellte der Patrone wie beiläufig noch eine Frage:

»Weiß jemand von euch, ob unsere drei heute nicht anwesenden Kollegen noch an unserem Projekt inte­ressiert sind?«

Einer brummelte vor sich hin:

»Du hast doch was gehört, Fritz.«

»Ja, Angermann hat zu mir gesagt, dass er vor einer Woche noch drei holländische Muttersauen gekauft hat. Vielleicht war er deshalb nicht hier.«

Die Versammlung löste sich rasch auf. Schranz blieb sitzen.

»Darf ich über diesen Abend jetzt als offizielle Veranstaltung berichten und auch über Ihre Ziele etwas schreiben?«

»Ja, geben Sie es raus. Vielleicht bringen wir damit die Sache noch mehr ins Rollen. Und ich werde mich um den Hinweis von meinem alten Freund Fritz kümmern. Wissen Sie, Schranz«, der Patrone schaute Schranz fast schon freundschaftlich an.

 

»Friedrich Neumann oder Fritz, wie wir ihn alle nennen, kennt mich schon von Kindesbeinen an. Er war des Öfteren bei uns auf dem Hof und hat mit meinem Vater über die Landwirtschaft diskutiert. Ich weiß noch, wie ich als Kind lange auf der Holzbank vor unserem Haus gesessen bin, und die beiden Männer stundenlang über Kühe, Schweine, Winterweizen usw. gesprochen haben.«

Jetzt verhärtete sich sein Blick wieder.

»Aber diesem Angermann, dem traue ich schon länger nicht mehr. Dass er ausgerechnet auch noch in Rufweite von Fritzens Hof wohnt, ist wirklich nicht optimal.«

Als Schranz nach Hause kam, sah er seinen Anrufbeantworter hektisch blinken.

»Haben sich gelohnt, die 200 DM, auch wenn es viel Geld für so ein kleines, schwarzes Kästchen ist«, murmelte er vor sich hin.

»Schranz, gut, dass Sie dieses Gerät haben.«

Martens klare Stimme klang aus dem Mikro.

»Heute ist eine Anzeige bei uns drin, dass ein gewisser Herr Freongard aus dem Odenwald Züchter vom SHL hier bei uns in der Gegend sucht. Diese sollen sich bei ihm melden, er wolle die Schweinerasse erhalten. Richtig große Anzeige. Könnte ja vielleicht wichtig sein für Ihren Artikel. Bis später.«

Bevor die Leitung unterbrochen wurde, hörte man im Hintergrund noch das aufgeregte Klappern der Schreibmaschinen im Redaktionsraum. Die Produktion der Texte für die morgige Ausgabe schien während des Telefonats auf Hochtouren gelaufen zu sein. Der Anruf war wohl gegen 17 Uhr gewesen.

Also noch Zeit genug, um in Stimpfach schnell im Gasthof Linde die dort auf dem alten Schirmständer hängende Ausgabe der HV zu studieren und die Telefonnummer dieses Herrn Freongard herauszufinden.

Er lief hinter das Haus, um seinen Golf zu holen, als er auf der gegenüberliegenden Seite seinen Nachbarn am Traktor hantieren sah. Wie so oft in den letzten Tagen hatte Franz die große Ladeschaufel an seinen Traktor montiert, um abends Brennholz aus dem Freilager in seinen Schuppen einzufahren. Dort sollte es die letzten Monate vollends austrocknen, um im Winter als preiswerte Heizmöglichkeit zu dienen.

Schranz schmunzelte. Was wäre Franz bloß ohne sein Holz …

Schon von Weitem rief dieser ihm zu.

»Chris, komm kurz her, ich habe dir heute eine Anzeige aus der Zeitung herausgeschnitten. Das könnte interessant für dich sein.«

Schranz wählte die kurze Nummer von Freongard, nach der Vorwahl kamen nur noch zwei Ziffern für die Rufnummer. Das musste dort wirklich eine sehr ländliche Gegend sein.

»Freeeongaaard.«

Eine extrem tiefe Männerstimme meldete sich schon nach dem dritten Klingeln.

»Grüß Gott, Herr Freongard. Hier Chris Schranz von der ›Haller Volkszeitung‹.«

Keine Reaktion am anderen Ende der Leitung.

»Hallo?«

»Ja?«

»Ich dachte schon, Sie seien nicht mehr da. Ich habe Ihre Anzeige in der ›Haller Volkszeitung‹ gelesen.«

»Ja?«

»Und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir dazu etwas erzählen könnten.«

»Haben Sie ein Schwein?«

»Wie, ob ich ein Schwein habe?«

»Ich suche jemanden, der mir Ferkel vom SHL produzieren kann. Damit ich meine Zucht auffrischen kann.«

Schranz war etwas überrascht, dass Freongard anscheinend doch längere Sätze sprechen konnte.

»Nein, ein Schwein habe ich nicht. Aber ich kenne jede Menge Bauern, die noch eines oder mehrere in ihrem Stall stehen haben.«

Rasch vermittelte Schranz den Kontakt zum Patrone. Nicht, ohne sich fest vorzunehmen, am übernächsten Tag nachzufragen, ob sich Freongard auch wirklich gemeldet hatte.

2

9. September 1984

Schranz war wie üblich zwischen 8 und 9 Uhr aufgewacht, und als er sich noch etwas müde den Schlaf aus den Augen rieb, klingelte auch schon das Telefon.

»Klasse, dass Sie mich da in den Odenwald vermittelt haben.«

Das ging ihm nun alles ein wenig zu schnell, ohne Kaffee am Morgen brauchten seine Gehirnwindungen etwas länger als gewohnt.

»Wir können über Freongard bereits 30 Ferkel vom SHL absetzen. Das kommt wie gerufen.«

Bauer schien bester Stimmung zu sein.

»Guten Morgen, Herr Bauer. Oh, es hat schon funktioniert?! Gut! Zu was Zeitungslesen nicht alles gut ist.«

»Und stellen Sie sich vor, dieser Freongard zahlt sogar den Preis, den wir hier für die normalen Schweine als Ferkelpreis bekommen. Zudem hat er mir versprochen, dass er den Transport der Ferkel selbst organisieren und bezahlen wird. Ich bin begeistert!«

Der Patrone bedankte sich noch mehrfach. Landschweine wie die Schweinezentrale für die holländischen Schweine. Wirklich erfreulich.

Am Morgen steckte die HV in seinem Briefkasten. Wahrscheinlich hatten sie im Verteilerschlüssel vermutet, dass sein Bericht über das SHL bereits heute abgedruckt sein würde. So hatte er nun eine interessante Frühstückslektüre.

Schranz hatte sich nur mit einer kurzen Hose und einem T-Shirt bekleidet. Morgens empfand er es zu dieser Jahreszeit immer noch angenehm warm im Haus, und die Tasse Grüntee und die zusätzliche Tasse Milchkaffee heizten ihm jeden Morgen zusätzlich ein, sodass er sich meist erst nach einer Stunde komplett anzog.

Der Wasserkocher blubberte. Auf den ersten Seiten der HV gab es die üblichen Beiträge, die CDU hatte sich mit der SPD in der Wolle und umgekehrt. Im Wirtschaftsteil stieß er auf die Schlagzeile: ›Fleisch vom Schwäbisch-Hällischen Landschwein schlecht vermarktbar‹. Was war das nun schon wieder? Und warum ausgerechnet jetzt?

Die Bildunterschrift lautete: ›Schwäbisch-Hällisches Landschwein bringt den Bauern zu wenig Ertrag. Sie stellen deshalb wieder auf holländische Schweinerassen um.‹

Schranz war zu vertieft und so entging ihm, dass das Telefon anhaltend klingelte. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Bauers Stimme schallte ihm entgegen, als er lossprintete.

»Die Schweinezentrale hat alle restlichen Ferkel bis auf fünf Stück, die Neumann nicht hergegeben hat, gekauft. Wissen Sie da was? Ich versteh das nicht! Und dann noch dieser Artikel heute in der HV. Bitte rufen Sie zurück. Ach ja, mein Name: Baauuuuer!«

Schranz grinste. Lernfähig war er durchaus. Nur der Inhalt dieser Nachricht machte in Kombination mit der Zeitungsmeldung überhaupt keinen Sinn. Dieser Artikel vom Leiter der Schweinezentrale sagte etwas ganz anderes aus. Und dann kauften sie fast alle Jungschweine vom SHL auf.

Schranz rief bei Neumann an. Er war natürlich nicht zu erreichen, seine Frau behauptete, ihr Mann wisse überhaupt nichts. Die Schweine seien verkauft und bei der Abholung bar bezahlt worden. Mehr sei nicht aktuell, und außerdem hätten sie fünf Stück auf dem Hof behalten. Und die Muttersau und der Eber seien auch noch da.

Aus ihren Worten klang ihre Verwunderung über dieses Aufsehen. Wie konnte man herausfinden, was hinter den Kulissen der Schweinezentrale ablief? Schranz entschloss sich, nach Crailsheim zu fahren und zuerst einmal deren Gebäude in Augenschein zu nehmen.

Dort war viel los, es war um die Mittagszeit und ein Lkw reihte sich an den anderen. Durch die Gitterstäbe der Aufbauten konnte Schranz in das Innere der Ladeflächen schauen. Die meisten waren leer, und wenn sie etwas geladen hatten, dann meistens ausgewachsene Schweine. Als die Lkw vom Hof fuhren, notierte er sich einige Kennzeichen. Die meisten waren aus Süddeutschland, ein paar aus Niedersachsen und einer sogar aus der DDR. Das war überraschend. Gab es tatsächlich einen innerdeutschen Austausch von Schweinefleisch? Oder brachte einer von beiden Handelspartnern dort seine Überproduktion unter?

Bevor er sich verdächtig machte, fuhr er wieder nach Hause. Natürlich war der Patrone im Moment nicht zu erreichen. Er war auf den Feldern unterwegs. Seine Mutter sagte, man müsse das gute Wetter ausnutzen, der Winter stünde vor der Tür. Die Waldbäume müssten gepflegt werden, das nächste Holz eingebracht werden und noch vieles mehr.

Vielleicht konnte Schranz Franz einspannen und der konnte über irgendwelche Kanäle etwas in Erfahrung bringen. Und außerdem würde er ihn bitten, nach seinem Golf zu schauen. Obwohl Schranz den Joke voll gezogen hatte, stotterte dieser seltsam, wenn er den Motor anließ. Die Werkstatt verlangte schon für den Kostenvoranschlag 75 DM. Gut, dass der Journalist so einen geschickten Nachbarn hatte.

*

11. September 1984

Der Artikel hatte, zumindest am ersten Tag nach seiner Veröffentlichung, keinerlei Reaktionen hervorgerufen. Schranz traute dem Frieden aber nicht.

Heute hatte er nochmals einen Erholungstag eingelegt und war mit seinem aufgeregten Vierbeiner zum Badesee am Ort spaziert. Sie hatten beide im noch warmen See ausgiebig gebadet, Gipsy hatte mindestens 50 Mal ein Stöckchen aus dem Wasser apportiert. Ein herrlicher Tag. Gemütlich lief er die rund zwei Kilometer zu Fuß nach Hause. Daheim sah er, dass Franz mit seinem Oberkörper fast vollständig unter der roten Motorhaube des Golfs verschwunden war. Beim Näherkommen hörte er seine Stimme dumpf zwischen all den Schläuchen und dem Metall hervorklingen.

»Mensch, Junge, der Marder hat ganze Arbeit geleistet. Kein Wunder, dass dein Auto so viele Aussetzer hatte.«

Eine schwarze Hand aus dem Motorraum streckte sich ihm zum Gruß entgegen. »Und noch was, ich habe über Wilfried herausbekommen, kennst du doch, den Bauer aus Gerbertshofen, dass sie die jungen Ferkel vom Hällischen in die DDR verkauft haben.«

»Unglaublich, warum denn das?«

Schranz stand wie angewurzelt neben seinem Auto.

Ein heller metallener Ton verkündete, dass Franz etwas aus der Hand gerutscht war.

»Gibst du mir bitte mal den 12-er-Schlüssel hoch? Der liegt irgendwo unter dem Motorblock.«

Schranz tastete nach dem Schraubenschlüssel. Er berührte ihn, konnte ihn aber nicht beim ersten Mal greifen. »Ja, das ist es!«

Schranz fuhr mit einem Ruck hoch und schlug sich dabei schmerzhaft den Kopf an.

»Sie haben die jungen Ferkel in die DDR verkauft, um sie los zu sein. Die Ferkel sind jetzt sozusagen hinter dem Eisernen Vorhang. Dort haben sie noch Geld dafür bekommen, aber damit ist die Zucht vom SHL hier bei uns wieder monateweit zurückgeworfen!«

Mit einem lauten Ächzen richtete Franz sich auf.

»Hast du den Schlüssel? Und was meinst du mit zurückgeworfen?«

Schranz bückte sich nochmals, streckte seinen Arm und fand das Werkzeug. Schnell gab er es an seinen Nachbarn weiter und eilte dann wortlos in sein Haus hinüber.

Der Patrone hielt die Erklärung für möglich, aber er war sich nicht sicher. Am meisten schien es ihn zu ärgern, dass er nunmehr nur noch ein paar Ferkel für die weitere Zucht zur Verfügung hatte. Das Ganze ging ihm viel zu langsam voran.

Auf den Hof zurückgekehrt, war die Motorhaube bereits wieder geschlossen und Franz zeigte Schranz ein Kupferkabel, dessen schwarze Ummantelung nur noch teilweise sichtbar war.

»Morgen früh besorge ich dir eines dieser Kabel, und morgen Abend nach der Arbeit baue ich es dir ein. Dann kannst du dein Auto wieder benutzen.«

Auf dem Küchentisch lag immer noch die aufgeschlagene HV.

Darin war auch ein Prachtexemplar eines Landschweins abgebildet: lang gestreckt, nicht dünn aber auch nicht dick. Schöne, deutliche Farbzeichnung mit exakter Abgrenzung zwischen Schwarz und Weiß. Und dann dieser lange, kurz hinter der Körpermitte beginnende schwarze Körperteil, der sogenannte Sattel.

Irgendwie richtig edel. Die schwarze Farbe war schon etwas Besonderes! Dass manche Schweine richtiggehende Schlappohren hatten, erheiterte ihn. Fast war er versucht, ›süß‹ zu sagen.

Wobei er beim Betrachten von Schweinebildern immer diesen feinen Geruch in der Nase hatte, den er zum ersten Mal hier im Hohenlohischen beim Besuch auf dem Hof von Bauer gehabt hatte. Landluft pur, nicht allzu unangenehm, aber doch eindeutig nach Schwein riechend.

Am nächsten Morgen hatte Schranz keine Lust, sich im Haus zu betätigen. Er trödelte vor sich hin, fand kein Buch, das er intensiv lesen wollte. Beim Betrachten seiner Bilder inklusive der an der Wand hängenden Urlaubsfotos wurde er noch ein wenig schwermütiger.

Oder sollte er Veronika anrufen? Schranz dachte kurz über diese Idee nach, verwarf sie dann aber wieder. Insgeheim sehnte er sich schon nach einer festen Partnerin, obwohl ihm bewusst war, dass er durchaus ein wenig eigenbrötlerisch geworden war.

 

Und gestandene Frauen faszinierten ihn, auch wenn vom Alter her eine 20-Jährige durchaus noch Interesse an ihm haben könnte. Seine braunen, längeren Haare wellten sich leicht, seine tiefblauen Augen strahlten die meiste Zeit, weil er sich einfach zufrieden und glücklich fühlte. Die vielen Spaziergänge mit Gipsy hielten sein Körpergewicht auf einem akzeptablen Niveau, wobei man bei ihm nicht von einem Waschbrettbauch sprechen konnte.

Auch seine umgängliche, lebhafte Art wurde von allen und besonders von der Damenwelt geschätzt. Er war als Gast überall gerne gesehen, wobei es ihm meistens und vor allem bei Familienfesten sehr langweilig war. Unweigerlich kam hier das Thema auf den Bereich Fernsehfilme und hierzu konnte er überhaupt nichts sagen. Er besaß kein Fernsehgerät. Als sein Fernseher das Zeitliche gesegnet hatte, schaffte er damals kein neues Gerät an, weil ihm fast alle Sendungen als Zeitverlust erschienen. Gerade in den Abendstunden schrieb er einen Großteil seiner Artikel, da brauchte er Zeit und Ruhe zum Arbeiten.

Gipsy strich leicht an seinem rechten Bein vorbei. Sein Herrchen zuckte kurz zusammen. Er tätschelte seinem Hund die Seite und das Tier schaute ihn anbetend an. Auf dem Schaukelstuhl sitzend, berührte seine rechte Hand den Rücken seines ›schwarzen Teufels‹, wie er ihn immer wieder nannte, wenn dessen garstige Phase sein ansonsten sonniges Gemüt überdeckte.

Schranz dachte an den Patrone, und wie konsequent dieser seinen Weg ging. Wer stand noch an seiner Seite? Es hatte den Anschein gehabt, dass es zumindest Neumann wäre. Aber jetzt hatte auch er fast alle seine Ferkel des SHL an die Gegenseite verkauft. Mafiöse Strukturen sah er dort keine. Auch wenn Bauer anderer Meinung war.

Die anderen Bauern wirtschafteten weiter wie bisher, vielleicht würden sie ein paar SHL aufziehen, genau schienen sie sich noch nicht geäußert zu haben. Und dann stand auf der anderen Seite die Schweinezentrale, Tausende von Kleinbauern besaßen Anteile daran und waren dadurch loyal zu dieser, ihrer Organisation eingestellt.

So wie es aussah, hatten die Leiter der Schweinezen­trale ihr Augenmerk auch sehr wachsam auf Heinrich Bauer gelenkt. Sie hatten auf jeden Fall einen Informanten in seinen Reihen. Als Ferkel auf den Markt gekommen waren, informierte dieser sie sofort und durchaus mit einer gehörigen Portion Bauernschläue.

War der Patrone ein Einzelkämpfer? Sein Dickkopf eventuell sogar schon zu stark ausgeprägt? Hatte David gegen Goliath überhaupt eine Chance? Eine faire Chance? Und was würde die Gegenseite unternehmen, um dessen möglichen Aufstieg zu bremsen?

Gispy war eingeschlafen. Die Atmosphäre im Schreibzimmer tat ein Übriges. Die vielen Bücher in den selbst gezimmerten Regalen, der große Schreibtisch, der ausnahmsweise recht aufgeräumt wirkte, vermittelten Behaglichkeit.

Das Telefon schrillte, Martens war dran.

»Mahlzeit Herr Schranz, störe ich Sie gerade?«

Hätte er ehrlich antworten sollen? Wie spät war es? Mittag schon?

»Hallo Herr Chefredakteur.« Martens gefiel diese Anrede nicht. Er wollte vielmehr als Kollege angesehen werden, nicht als Vorgesetzter.

»Ich bin am Lektorieren.«

Diese Ausrede hatte er von Martens übernommen, als er einmal eine geschlagene Stunde neben ihm in seinem Büro gesessen war, nur um danach einen Zettel von ihm zu bekommen, wo er als Nächstes hinfahren und einen Bericht schreiben sollte. Aber immer wenn Martens nicht die Wahrheit sagte, dann atmete er besonders ruhig und seine Stimme war etwas tiefer als normal. Ganz so, als ob er zusätzlich vertrauensvoll wirken wollte.

»Wir haben zwei Aufträge für Sie. Einmal eine Goldene Hochzeit in Stimpfach. Und dann die Kreisversammlung des Deutschen Roten Kreuzes in Honhardt. Dort gibt es auch noch einen Vortrag über die Blutspendeaktivitäten. Können Sie alles heute Abend erledigen.«

Hoffentlich war sein Auto bald fertig. Ablehnen konnte er diese Termine auf keinen Fall. Er musste Geld zusammensparen, um noch trockenes Holz vor dem nahenden Wintereinbruch kaufen zu können.

Wobei die Aufträge wirklich nicht seinen Vorlieben entsprachen. Bei Jubiläen verhielten sich die Ehepaare entweder so hektisch, dass er die Informationen gar nicht alle aufschreiben konnte. Oder er musste ihnen jedes Wort aus der Nase ziehen. Und Blutspende, alleine, wenn er das Wort hörte, bekam er feuchte Hände. Er konnte kein Blut sehen, weder sein eigenes noch das von anderen, und jetzt sollte er auch noch einen Vortrag zu diesem Thema anhören.

*

3. Oktober 1984

Die Kreisversammlung der Grünen stand an.

Schon zu Beginn seiner Tätigkeit hatte Schranz Martens gebeten, keine Berichterstattung über Politik machen zu müssen. Aber ein Kollege hatte sich krank gemeldet und Martens war als Blattmacher nicht in der Lage, selbst vor Ort zu recherchieren. Andere Journalisten waren unterwegs oder schon verplant.

Schranz solle sich nicht so anstellen, schließlich stünden Wahlen an, meinte sein Vorgesetzter. Einen der Bewerber würde er sogar persönlich kennen. Dabei hatte sich Martens linke Augenbraue etwas nach oben gezogen, was umso mehr auffiel, da sein Haaransatz erst sehr weit hinten begann. Es war tatsächlich so: Bauer war erst vor wenigen Wochen bei den Grünen eingetreten und stellte sich jetzt heute schon zur Wahl, um ein Amt zu übernehmen.

Die Waldhalle in Stimpfach, ein Betonfunktionsbau aus den 70er Jahren, der sein Baumaterial gar nicht verheimlichen wollte, war herbstlich geschmückt.

Als Schranz die gläserne Schwingtür nach innen aufdrückte, war die Halle bereits gut gefüllt.

Wie üblich war ganz vorne ein Platz für die Presse reserviert. Eine Lehrkraft der Grund- und Hauptschule Stimpfach kam sogleich auf ihn zu und führte ihn zu seinem Platz.

Es hieß ja immer, dies sei eine ›Jesus-Latschen-Partei‹, und Schranz hatte noch nie so viele Bärtige und Strickpulli tragende Männer gesehen.

Als er ganz vorne am Tisch angekommen war, direkt vor ihm lag nun die mit einem dunkelbraunen Holzparkett belegte Bühne, erkannte er auch Heinrich Bauer, der an einem der langen Tische saß. Und daneben Neumann. Was machte der denn hier? Ihn hatte er wahrlich nicht erwartet.

Wie Schranz schon vermutet hatte, gab es zu Beginn den ›Einpeitscher‹, einen ungefähr 50-Jährigen, der alle anderen politischen Parteien verdammte, über die Atomkraft herzog und aus Deutschland ein Bioland machen wollte.

Danach stellten sich die Parteimitglieder vor, welche als Kandidaten für den Kreistag gewählt werden wollten. Alle saßen auf der Bühne, der Redner von vorhin spielte nun den Interviewer und befragte alle dort Anwesenden. Jeder musste fünf Fragen beantworten. Es ging um Umwelt, Natur und um Landespolitik.

Das Ergebnis war vorhersehbar, Bauer hatte schon nach wenigen Sätzen das Publikum für sich eingenommen. Und es waren dieselben, manchmal sogar wörtlich gleichen Formulierungen, die er gegenüber den Bauern verwendet hatte. Wirklich erstaunlich, wie schnell der Patrone die Menschen für seine Sache und seine Ideen begeistern konnte.

Als er gesprochen hatte, gab es donnernden Applaus. Die Sache war schon entschieden, bevor der letzte, neben ihm sitzende Redner seine Antworten geben konnte. Bauer würde das Rennen machen. Das war klar.

Am Ende der Sitzung mied er den Kontakt mit Heinrich Bauer. Er wollte nicht den Anschein erwecken, überall dort aufzutauchen, wo dieser sich aufhielt. Und danach immer Artikel schrieb, welche diesen heroisierten.

Allerdings, was wollte Neumann heute Abend hier? Er würde ihn unter irgendeinem Vorwand anrufen und ein wenig aushorchen.

*

4. Januar 1985

Heinrich Bauer hatte mit Martens abgesprochen, dass die HV die Exklusivrechte haben sollte, wenn der erste Zuchteber in Dangertshausen eintreffen würde.

Dafür war Bauer morgens um 5 Uhr Richtung Odenwald gefahren, um bei Freongard ein Tier zu kaufen. Zuerst hatte er den jungen Journalisten noch gefragt, ob er nicht mitfahren wolle. Aber diesem war die Entfernung zu groß gewesen, und schließlich sollte er noch mit einer gewissen mentalen Distanz darüber berichten.