Limoncellolügen

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»Auffressen nicht, aber rausschmeißen sicher.«



Wo Vinc recht hat, hat er recht.



»Ja und, dann machen wir halt Urlaub. Außerdem braucht er mich, nachdem er Niveo vor die Tür gesetzt hat.«



»Jeder ist ersetzbar. Das sagst du doch selber immer.«



»Eins zu null für dich«, geb ich zu und wechsle das Thema. »Ich stell schon mal ein Fläschchen Prosecco kalt und … Schatz, ich freu mich soooo auf dich«, säusle ich und seufze theatralisch, aber ehrlich, ich mein’s auch so.



Vinc lacht. »Du tust grad so, als wärst du schon ein Jahr im Ausland!«



»He!« Ich stell mich beleidigt. »Vermisst du mich gar nicht?«



»Natürlich vermiss ich dich, mein Spatz, das weißt du ganz genau! Deshalb muss ich jetzt endlich schlafen, in fünf Stunden will ich los.«



»Super. Dann wirst du so um neun oder zehn eintreffen. Oder nimmst du die Motorradstrecke? Wenn du schon so ne tolle Maschine hast …«



»Mal sehen. Das entscheide ich spontan.«



»Egal. Genieß die Fahrt. Übrigens hab ich ein bisschen recherchiert, hier gibt’s einige interessante Touren für uns. Äh, wart mal …«



»Was ist los?«, gähnt Vinc mir ins Ohr, ich hab aber grad kein solches für Vinc’sche Zwischentöne.



»Mia und Niveo sind eben rausgekommen und gehen zum Auto«, flüstere ich, obwohl die mich weder sehen noch hören können.



»Ja und? Vielleicht wollen sie noch in die Disco«, scherzt Vinc.



»Sehr witzig. Die fahren weg! Mitten in der Nacht. Eine Tasche haben sie auch dabei, und die haben’s eilig … Das muss ich Greta sagen. Jetzt gleich. Wir sehen uns morgen, okay?«



»Zisch ab, Doro! Und Küsschen.«



»Bussi, Schatz, hab dich lieb … muss jetzt aber los!«



Vinc’ Lachen weht mir ans Ohr, bevor er auflegt. Ich gönn mir zwei Sekunden verliebtes Kribbeln im Bauch – das möcht ich nicht mehr missen. Mann, der Kerl hat mich echt am Haken!



Okay. Entschlossen vertage ich die Gedanken an Vinc. Mias kleiner roter Fiat biegt vom Parkplatz auf die Straße. Ich renn das kurze Stück zum Hotel und wäre beinahe in ein Auto gerannt, das wie aus dem Nichts aus der Einfahrt des Nachbargrundstücks schießt.



»Idiot«, ruf ich ihm erschrocken hinterher. »Schalt gefälligst dein Licht ein!«



Wieder so ein Bonzenschlitten, genau wie gestern. Definitiv kein Tourist. Gibt anscheinend genügend Italiener mit nem Haufen Kohle, aber ohne Manieren. Hmm … ich schau dem Wagen hinterher. Eine Limousine wie gestern? Zufall? Oder ist es das Auto von gestern? Keine Ahnung, hab weder Kennzeichen noch Fahrer gesehen, ich weiß nicht mal, ob es dieselbe Marke ist. Egal, hat sicher eh nichts zu bedeuten, wahrscheinlich seh ich Gespenster. Ich geh ums Hotel – keine Greta an unserem Tisch.



»Weißt du, wo Greta ist?«, ruf ich Adriano zu, der ein Tablett voller Spritz und kühlen Pils in beschlagenen Gläsern auf die Terrasse balanciert.



»Greta macht die Theke«, ruft Adriano zurück und serviert die Getränke, charmant lächelnd, als wäre nichts gewesen. The Show must go on, every day, every time … Ist ja in Daddys Restaurant nicht anders.



Ich finde Greta gebückt hinter der Theke. Sie kehrt ein paar Scherben zusammen.



»Ist mir aus der Hand gerutscht«, seufzt sie müde, als sie mich bemerkt.



»Ach komm, Greta, ist doch nur ein Glas, kein Weltuntergang«, tröste ich sie. Gemeinsam beseitigen wir die Spuren, dann nehm ich mir ein Glas Prosecco, setz mich auf einen Barhocker und schau ihr zu, wie sie den Espressoautomaten sauber macht und den Vorratsbehälter der Mühle mit Bohnen bestückt.



»Mia und Niveo sind grade weggefahren«, platzt es aus mir raus.



Greta schaut überrascht auf. »Weggefahren? Jetzt, mitten in der Nacht?«



»Mit Mias Wagen und einer Tasche. Reisetasche, wie’s ausgesehen hat.«



Greta legt nachdenklich den Putzlappen weg. »Meinst du …?«



»Was? Dass sie abhauen? Keine Ahnung. Ich kenn die beiden kaum und …« Mias Schwangerschaft liegt mir auf der Zunge. Aber ich verkneif es mir, sie zu erwähnen. Das ist definitiv nicht meine Angelegenheit. Ich bin neugierig, aber keine Klatschtante.



»Das muss ich Adriano sagen.«



Der bringt gerade das leere Tablett. »Zwei Pils und zweimal Campari Orange, per favore, mia cara.«



Süß! Geht doch!, freu ich mich für Greta.



Der huscht ein kleines Lächeln übers Gesicht, was schnell wieder verschwindet, als sie Adriano von meinen Beobachtungen erzählt.



»Mia ist erwachsen. Was hast du erwartet? So, wie meine Eltern sie heute behandelt haben.«



»Na ja, du warst auch nicht gerade eine Unterstützung«, werf ich ihm vor.



Greta hebt verwundert die Augenbrauen, sagt aber nichts.



Adriano seufzt traurig. »Ja, ich weiß. Ich hätte zu ihr stehen müssen, aber ich war viel zu überrascht.«



»Du willst also allen Ernstes behaupten, dass du nichts von Mias und Niveos Verhältnis mitbekommen hast? Dann wundert mich allerdings gar nichts mehr«, sag ich und schau zu Greta. Die hat verstanden, was ich damit auch sagen wollte, bei Adriano bin ich mir allerdings sicher, dass der null kapiert. Weder die Gefühle von Mia und Niveo noch die seiner eigenen Frau!



Du bist ne harte Nuss, denk ich mir, aber dich knack ich noch. Raue Schale, weicher Kern. Sonst hätte Greta dich nicht genommen!




Kapitel 5

Gli opposti si attraggono – Gegensätze ziehen sich an



Mercoledi (Mittwoch) – 29. August



Um fünf klingelt der Wecker. Ich drück den Schalter. Noch zehn Minuten … Ein paar Runden im Pool wären erfrischender, aber den Gedanken schieb ich erst mal weg. Vielleicht in ein paar Tagen oder mit Vinc … Momentan schwimmt Julian Weigel mit, und das ist definitiv kein guter Start in den Tag. Ich verschränke die Hände im Nacken. An der weißen Zimmerdecke krabbelt eine Spinne. Eine kleine Spinne. Grade noch auszuhalten.



Der Kaffeeautomat heizt langsam hoch. In der Zwischenzeit entferne ich das weiße Leinentuch, das immer am Abend als Staubschutz übers Büfett gelegt wird, falte es ordentlich zusammen und leg es in die alte Holztruhe, die im Durchgang zwischen Speisesaal und Rezeption steht. Zu den Tischdecken und Stoffservietten. Die Schale mit den Cocktailtomaten kann aus der Kühlung, genauso wie der Obstkorb mit Äpfeln, Aprikosen und Pfirsichen. Ich schnipple Ananas, Kiwi, Wassermelone und Honigmelone und richte eine Vorlegeplatte kunstvoll an – was fürs Auge, die Gäste lieben das, ich übrigens auch, und bei Paps ist das sowieso Pflichtprogramm. Okay, bei Paps fällt mir ein, dass ich ihn anrufen wollte. Aber zuerst das Obst in den Kühlraum, den Apfelkuchen und Niveos Rosinenfocaccia in handliche Stücke geteilt, Kunststoffhaube drüber, die Gebäckzange daneben und ab aufs Büfett. Draußen knattert ein Lieferwagen vorbei, hält an. Wahrscheinlich der Bäcker, mit Brötchen, Weißbrot und Minicroissants. Wie ich schon mitgekriegt habe, schmeißen sie die Leinensäcke einfach vorne an die Rezeption. Klar, schließlich warten alle Hotels auf die frische Frühstücksware, da ist Eile geboten.



Während ich das Gebäck verteile, kommt Valdo in die Küche, im Schlepptau einen ausgesprochen hübschen Jungen mit dunkelbraunen, seidigglänzenden Locken, vielleicht 12 oder 13 Jahre alt.



»Das ist Roberto, mein jüngster Enkel«, stellt Valdo ihn mit stolzem Opalächeln vor. »Er hilft mir bei den Marmeladen. Und das ist Doro«, stellt er mich ebenfalls vor.



Ah, ich seh schon. Roberto zieht einen flachen Anhänger hinter sich her, darin klappern große Marmeladengläser aneinander.



»Hallo, Roberto«, grüß ich freundlich, »ist echt nett von dir, dass du deinem Opa hilfst.«



Roberto guckt zu seinem Großvater.



Okay, es sprechen also nicht alle Bewohner Norditaliens Deutsch.



Valdo übersetzt, Robertos Mundwinkel verziehen sich fast bis zu den Ohren, meine auch.



»Roberto lässt den Anhänger draußen stehen, er hilft mir später noch bei den Einkäufen«, teilt Valdo mir mit, als sein Enkel geht.



»Ciao, Roberto, fino a presto!«, ruf ich ihm nach.



Er dreht sich um und lacht. »Ciao, Doro«, sagt er und winkt, »fino a presto.«



»Da springt sicherlich ein kleiner Lohn für ihn raus«, verteile ich großzügig das Geld der Rinaldis. Schließlich sparen wir Zeit, und Zeit ist Geld, rechtfertige ich mein Angebot zumindest für mich.



Ich sichte die Gläser. Wow. Orange, Pflaume, Kiwi und eine Beerenmixmarmelade. Wenn mal Zeit ist, mach ich meine Feigenkumquatmarmelade, ist aber eigentlich überflüssig, wenn ich mir die Schätze hier anschaue. Valdo hat sogar an den Honig gedacht. Ein Fünf-Kilo-Blechkanister mit regionalem Waldhonig. Muss ich unbedingt probieren … Vielleicht taugt er fürs »Macis«.



»Grazie mille, Valdo!« Ich drück ihm ein Küsschen auf die Wange.



»Da hat deine Frau ganz schön geschuftet. Sag ihr bitte ganz lieben Dank und auch allen anderen Damen, die ihr geholfen haben. Ich red nachher mit Adriano wegen der Bezahlung. Da kann ich dann gleich das mit Robertos Taschengeld ansprechen.«



Valdo winkt ab. »Das eilt überhaupt nicht. Und meine Frau lässt ausrichten, du sollst ihr rechtzeitig Bescheid geben, wenn du Nachschub brauchst.«



»Mach ich. Sobald ich Zeit hab, überschlag ich grob, was wir für den Rest der Saison brauchen, okay?«



»Ist schon recht, Mädchen«, murmelt Valdo. Er wühlt gerade einhändig in dem Stapel Papier, der seitlich gleich neben der Tür liegt und auf dem normalerweise die Speisepläne für den Abend zu finden sind.



»Suchst du den hier?«, frag ich und wedel mit dem Menüplan vor seiner Nase herum.



Valdo ist echt ein Lieber. Er kümmert sich um die Einkaufsliste. Ist halt so ein typisches Urgestein, den das schlechte Gewissen plagt, weil er sich den Arm gebrochen hat.

 



»Für die Panna cotta hab ich alles. Die bereite ich gleich nach dem Frühstück vor. Dazu nehmen wir die Pfirsichsoße von gestern. Den Nudelteig und die Steinpilzfüllung für die Ravioli mach ich auch gleich. Den Rest dann abends, da kann Irmela mir helfen.«



»Die Hähnchen werden im Laufe des Vormittags geliefert«, informiert mich Valdo.



Mein Handy vibriert in der Hosentasche. Vinc, verrät mir ein schneller Blick aufs Display. Fährt wahrscheinlich gerade los.



»Na, du Schlafmütze, geht’s schon los? Ich dachte, du wärst längst am Brenner!«



»Wär ich auch, hab aber ne Panne«, wehrt Vinc meine Lästerei ab.



»Scusa per favore, mio Vincento«, sag ich reumütig. »Was für ne Panne?«



»Ach, keine Ahnung. Irgendein Filter ist verstopft. Obwohl ich noch alles gecheckt hab. Egal, Branco hat mich aufgegabelt. Kurz nach Garmisch. Er hat eine kleine Werkstatt, ist kein Problem, hat er gemeint.«



»Branco? Was ist das denn für ein Landsmann? Russe? Pole? Klingt so … mafiös.«



»Mafiös? Erst zwei Tage in Italien und schon total verquere Gedanken!« Vinc lacht. »Branco ist Schweizer und weder mafiös noch sonst wie geheimnisvoll.«



»Und wie schnell ist er?«, frage ich – und hoffe, dass Branco sein Ohr nicht am Hörer hat.



»Doro! Alte Lästertante. Ich bin entsetzt. Zu deiner Information, nicht alle Schweizer sind langsam, und Branco schon gar nicht. In zwei Stunden ist er fertig, dann düse ich weiter. Zufrieden?«



»Si, mio Vincenzo«, sag ich, »fino a presto.«



»Fino a presto, mia bella signorina.«



»Okay, es reicht«, beende ich lachend das Intermezzo, schick noch ein Küsschen durchs Netz und leg auf.



»Buon giorno, Irmela.« 7 Uhr hat sie versprochen und ist pünktlich. Sie kümmert sich gleich um den Filterkaffee, der von den meisten Gästen in der Früh bevorzugt wird.



»Irmela, kannst du den Granatapfelsirup fertig machen, wenn Valdo mit den Einkäufen zurück ist?«, frag ich das Mädchen. Sie ist eine Nette. Hübsch und engagiert. Ihre Eltern haben einen kleinen Lebensmittelladen im Ort, die Töchter helfen mit, bessern aber ihr Gehalt mit Nebenjobs auf. »Einfach den Saft mit Zucker und Thymian aufkochen, ziehen lassen, abseihen, abfüllen und in den Kühlschrank stellen.«



»Si, certo. Wofür brauchen wir den?«, fragt sie neugierig.



Seit sie weiß, wer mein Paps ist, stehe ich auf einem Gourmetgottsockel.



»Aperitif heute Abend. Granatapfelprosecco«, informiere ich sie, »warte, ich schreib’s dir auf, solange noch keine Gäste da sind.«



Bevor ich das ausgesprochen hab, trudeln die ersten Frühaufsteher ein.



Greta streckt den Kopf rein. »Buon giorno«, grüßt sie fröhlich, »die Meiers. Brauchen sofort Kaffee, dann ist die Welt erst mal in Ordnung.«



»Frag mal, ob sie zufällig mit mir verwandt sind«, ruf ich hinterher.



Irmela lacht.



Oje, denk ich, hoffentlich meint sie nicht, dass sie über jeden Scheiß von mir lachen muss. Paps, dann dreh ich dir den Kragen um, schwör ich innerlich. Was muss er auch so ein Frauentyp sein!



Geschafft. Um halb elf sitzen wir alle draußen an unserem Tisch. Valdo ist mit Roberto unterwegs, einkaufen. Pannacotta steht fertig im Kühlschrank. 70 kleine Dessertgläser. Tische fürs Menü am Abend sind eingedeckt, ein bisschen Extradeko in Form von schön gefalteten Stoffservietten, Wasser-, Weißwein- und Rotweingläser, je eine kleine Vase, zitronengelb, mit einer gelben Rose.



»Wann kommen eigentlich die Kinder?«, fragt Francesca ihren Sohn.



Alle vermeiden krampfhaft das Thema des Vorabends. Die Stimmung ist alles andere als locker. Wundert mich nicht. Ein Toter und ein Familieneklat – das Konto ist voll, würde ich sagen.



»Ich habe Isabella vorhin angerufen und sie gebeten, die Kinder noch übers Wochenende dazubehalten, und überraschenderweise ist sie sogar darauf eingegangen … Aber nur, weil ihre Eltern ihre beiden Enkel gerne ein paar Tage übernehmen möchten.«



Wie er das sagt, verrät mir einiges über seine Exfrau.



Greta strahlt.



Adriano fährt sich durch die Haare. »Sie will sie dann am Sonntag bringen.«



Greta schluckt, das Strahlen ist verschwunden. Konkurrenz der Ex. Ich drück unterm Tisch ihre Hand. To-do-Liste ganz oben: Gretas Stellung hier stärken. Freundinnenpower – die haben schon so gut wie verloren! Ich verkneif mir ein schadenfrohes Zwinkern zu Greta, zu viel Fröhlichkeit könnte falsch verstanden werden.



»Dieser mistige Sizilianer! Der hat Mia Flausen in den Kopf gesetzt, das liegt doch auf der Hand! Will nur an unser Hotel ran!« Der alte Rinaldi tobt. Aber jetzt ist es wenigstens auf dem Tisch. Mia und Niveo. »Alles Mafia, da unten!« Er schnaubt. Kampfbereit.



Und mir wirft Vinc verquere Gedankengänge vor. Ha! Werd ich ihm heute Abend alles brühwarm erzählen.



»Beruhige dich, papà, Mia mag eben Niveo und nicht Hugo. Und sie hat recht. Wir leben im 21. Jahrhundert, da suchen sich die Mädchen ihre Männer selber aus.«



Endlich! Endlich macht Adriano mal den Mund auf.



»Ein Habenichts, Erbschleicher. Erst die Tochter, dann das Hotel. Der will sich mit seiner ganzen Familie hier einnisten.«



»Papà! Das weißt du doch gar nicht. Gib Niveo erst mal eine Chance. Außerdem kommt er vom Festland, nicht aus Sizilien.«



»Sagt er«, weist Vittorio scharf die Verteidigungsversuche seines Sohnes zurück.



»Und ich glaube ihm«, erwidert Adriano bestimmt.



»Die sind auch nicht besser.« Vittorio verschränkt herausfordernd die Arme vor der Brust.



Mamma mia! Ab heute hat Sturheit für mich einen neuen Namen: Vittorio.



Das Telefon an der Rezeption läutet. Als Greta aufstehen will, hält Adriano sie zurück.



»Lass mal, Schatz, ich geh schon.« Ein provozierender Blick zu seinem Vater … Greta als Kampfmittel – so hab ich mir das nicht gedacht!



Ich räuspere mich. »Vinc kommt am späten Nachmittag, er hat eine Motorradpanne«, informiere ich die Familie, »aber er hilft am Abend beim Servieren und notfalls auch in der Küche. Hat er gelernt«, füg ich noch an. Bin ich da grade ein bisschen stolz auf meinen vielseitigen Schatz? Bevor ich jedoch in Gedanken an seine diversen Talente versinken kann, kommt Adriano zurück.



»Das war die Polizei. Aus Campione. Sie haben Mias Wagen gefunden … in Campione.«



Hinter der Information hängt ein riesiges Fragezeichen.



»Und was heißt das?«, spreche ich laut aus, was wohl jeder gerade denkt.



»Keine Ahnung. Sie haben nur gesagt, dass sie Mias Auto auf dem Gelände der alten Fabrik gefunden haben. Ein ehemaliger Fabrikarbeiter hat gestern Nacht beobachtet, wie das Auto abgestellt wurde und zwei Leute weggegangen sind.«



»Und warum ruft er die Polizei an, nur weil ein Auto da abgestellt wurde?«, frag ich, weil mir das nicht klar ist.



»Es steht nicht auf dem Parkplatz, sondern weiter hinten auf dem Gelände. Zwischen den Booten. Das ist Privatbesitz.«



»Trotzdem …«



Weiter komm ich nicht, weil Vittorio dazwischen bellt wie eine wütende Dogge.



»Was will der Kerl in Campione? Will er uns erpressen? Ha, soll er ruhig versuchen. Ich habe Freunde hier, einflussreiche Freunde. Und wehe, er krümmt Mia nur ein Haar!« Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich geh ins Büro. Wenn er anruft, kann er was erleben. Komm, Francesca.« Er rauscht ab. Auf einmal dreht er sich um. »Francesca!«, faucht er herrisch.



Oh, oh! Er war anscheinend sicher, seine Frau im Schlepptau zu haben, die macht aber keine Anstalten aufzustehen.



»Ich komme nach«, verkündet sie unbeeindruckt von seinem Tonfall. Na ja, jahrzehntelanges Eheleben geht seine eigenen Wege, denk ich, und hab fast Verständnis für Paps, der immer rechtzeitig die Flucht ergriffen hat …



Adriano nimmt tröstend die Hand seiner Mutter. »Mamma, ich glaub, ich weiß, wo die beiden sind.«



Seine Mutter nickt.



Greta und ich schauen uns an. Wir haben keine Ahnung.



»Geh und hol deine Schwester zurück«, bestimmt Francesca. »Und Niveo sollte hier lieber nicht mehr auftauchen.«



»Mamma, du glaubst doch selber nicht, dass Mia einfach mit mir zurückkommt! Sie ist freiwillig mit Niveo weggegangen, da bin ich mir sicher.«



Ich nicke und ergreife für Adriano Partei. »Es hat wirklich nicht nach einer Entführung ausgesehen.«



Francesca runzelt die Stirn.



Bevor sie fragen kann, erklär ich meine Einmischung. »Ich habe die beiden gestern Nacht wegfahren sehen.«



Mias Mutter schaut mich an, als wäre ich schuld an dem ganzen Dilemma. Dann verändert sich ihre Miene. »Trotzdem, Adriano, hol Mia zurück, sonst kann ich nicht für deinen Vater garantieren. Du kennst ihn!«



»Eben deshalb ist Mia weg«, bestätigt jetzt auch Greta.



Francesca beachtet ihre Schwiegertochter gar nicht. Die ist genauso schlimm wie ihr Mann, denk ich. Allmählich werde ich echt wütend!



Greta schaut zu mir und zuckt mit den Schultern. Siehst du, was ich meine?, soll das wohl heißen – und ich versteh sie.



»Greta, kommst du mit? Besser, ich bin nicht allein, wenn die beiden sich querstellen«, fragt Adriano.



»Wohin?«, fragt Greta.



»Das geht nicht«, interveniert zeitgleich Francesca. »Wir brauchen Greta am Nachmittag für die Theke. Doro, geh du mit, du kennst dich hier im Hotel noch nicht gut genug aus. Und mir ist das zu viel.«



»Ich muss noch die Ravioli füllen. Das kann ich nicht Irmela aufs Auge drücken«, werf ich ein.



»Hmm … das ist mir auch zu filigran. Die Füllung frieren wir ein«, überlegt Francesca. »Ich könnte stattdessen Lasagne machen. Der Nudelteig ist ja fertig.«



Adriano nickt eifrig. »Das wäre klasse. Deine Lasagne ist legendär!«



Ich schau skeptisch, aber Greta stimmt zu. »Adriano hat recht, Francescas Lasagne ist die beste.«



Francesca lächelt geschmeichelt. Dieses Lob hätte ich mir an Gretas Stelle hundertpro verkniffen.



»Na gut, ich ruf Vinc an, der kann auf jeden Fall den Aperitif übernehmen, das ist seine Spezialität. Und beim Service eingreifen«, ist mein Beitrag – den allerdings Vinc ausführen muss.



»Ich schreibe die Speisekarten um«, verkündet Greta.



Valdo kommt zurück und verspricht, mit Irmela und Paola die Küche vorzubereiten.



»Aber um fünf müsst ihr zurück sein, sonst wird es eng«, mahnt er an.



Adriano beruhigt ihn. »Versprochen. Und, Doro, du brauchst feste Schuhe.«



Feste Schuhe? Wo will er hin?



Eine halbe Stunde später lenkt Adriano sein Auto mit quietschenden Reifen vom Hof und fährt Richtung Gardesana. Na ja, rast Richtung Hauptstraße. Bin eigentlich nicht empfindlich, aber vorsichtshalber krall ich mich am Sitz fest.



»Also, sag schon, wohin fahren wir?«



Adriano schaut verbissen nach vorne, wird aber nicht langsamer.



»Wirst du bald sehen. Ist auch nur eine Vermutung von mir. Aber wenn das Auto in Campione steht …« Adrianos Gesprächsbedarf ist erschöpft, den Blick angespannt geradeaus gerichtet, flucht er nicht einmal, als ein wenig souveräner Autofahrer aus Bremen kurzfristig die Straße blockiert, weil er die Hoteleinfahrt nur in mehreren Rangieranläufen meistert.



»Tja, man sollte so einen Schlitten halt nicht nur kaufen, sondern auch fahren können«, kann ich mir nicht verkneifen.



Adriano sagt nichts dazu.



Ups! Die Abfahrt im Tunnel kommt recht plötzlich. Nach einer endlosen Rechtskurve verlassen wir die dunkle Röhre und sind mitten in Campione. Ich war noch nie hier – der Ort beeindruckt mich. Wirkt abweisend. Wegen Mia? Nee, die schroffen Felswände, die abgesperrten Bereiche aufgrund von Steinschlaggefahr, die Trümmer der zerstörten Tiefgarage, die enge Zufahrt zum Ort – faszinierend ja, aber eher auf die beklemmende Art. Adriano steuert einen weitläufigen Parkplatz an und stellt den Wagen im Schatten eines kümmerlichen Laubbaums ab. Ich schnapp mir meine Wasserflasche und steig aus.



»Eine alte Baumwollweberei.« Er deutet auf das nebenstehende, teilweise verfallene Gebäude.



»Hätte eher auf ne Werft getippt«, sag ich und zeig auf die aufgebockten Boote vor der Ruine.



Adriano antwortet nicht, er steuert auf die Hallen zu. »Da vorne müsste Mias Wagen stehen.«



Tatsächlich, da ist er. Mias kleiner roter Fiat.



»Wieso stellt sie ihn in die Halle? Der Parkplatz ist viel unauffälliger, oder nicht?«, überlege ich laut.



Adriano wirft mir einen kurzen Blick zu. »Normalerweise wäre das ein Superversteck. Nachts ist hier kein Mensch. Normalerweise. Aber der Alte war auf dem Heimweg und musste pinkeln, da war ihm der verlassene Parkplatz gerade recht. Und dabei hat er beobachtet, wie ein Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern reinfuhr. Kurz darauf folgte ein zweiter Wagen, der hat auf dem Parkplatz gehalten, war aber in der Früh weg, als der Mann noch mal nachgeschaut und dann die Polizei gerufen hat. Die haben gesagt, dass er früher in der Fabrik gearbeitet hat, und diese Leute fühlen sich immer noch mitverantwortlich für den Besitz der Familie Olcese«, sucht Adriano nach einer Erklärung.

 



»Aber die Fabrik muss doch schon ewig geschlossen sein, so runtergekommen, wie hier alles aussieht.«



»Seit Anfang der 80er-Jahre. Aber die Familie Olcese war Arbeitgeber für ganz viele Menschen aus Tremosine und Tignale, Männer und Frauen. Kaum eine Familie, die nicht jemanden in der Fabrik hatte, das vergessen die Leute nicht.«



»Die Kennedys von Tremosine«, fällt mir dazu ein und entlocke damit Adriano ein kurzes Lächeln.



»Wenn du so willst … Aber die Zeiten sind längst vorbei, und seitdem haben sich die verschiedensten Investoren an der Idee, ein Dorf zu kaufen und ein eigenes Imperium hier zu schaffen, die Zähne ausgebissen. Du siehst ja, alles nur Fassade und Ruinen.« Adriano macht eine ausholende Rundumbewegung und ich hab ne Ahnung davon, was er meint.



»Und warum Campione? Ich mein, was will Mia hier?«



»Da oben gibt’s ein Landhaus, das unserer Familie gehört. Wir haben es immer ›alte Villa‹ genannt.«



Er zeigt nach oben, direkt auf die schroffen Felsen. Da will er doch nicht etwa mit mir rauf? Ich schau skeptisch hinauf, dann nach unten, zu meinen Schuhen. Bergstiefel sind das keine!



»Ist nicht so heftig, wie’s aussieht«, beruhigt mich Adriano, der meine Befürchtungen, wie’s scheint, von meinem Gesicht abgelesen hat.



»Avanti«, meint er und haut mir kumpelhaft auf die Schulter. »Bist doch sonst recht aktiv.«



Will er mich verarschen? Oder habe ich gerade ne besonders feine Ironie nicht mitgekriegt? Egal, ich sag mal einfach nichts und laufe hinter ihm her.



»Und du meinst, Mia versteckt sich da oben mit Niveo? Und wie lange soll das gehen? Sie brauchen was zum Essen und überhaupt …« Mir gehen die Fragen aus. Mia ist schließlich erwachsen und muss sich nicht wie ein Teenager vor ihren Eltern verstecken.



»Sie wird sich ein paar Tage Auszeit nehmen und hoffen, dass papà sich bis dahin beruhigt hat.«



Adriano läuft schnell. Ich bin nicht untrainiert, aber die Hitze und das Tempo bringen mich echt ins Schwitzen. Der Weg führt erst hinter den Ruinen der Fabrik vorbei, in einem der übrig gebliebenen, halb verfallenen Gebäude, hinter staubverkrusteten Fenstern rödelt ein einsamer Generator. Zum Glück ist’s hier schattig, zumindest bis zu den Stufen mit dem Wegweiser. Der zeigt nach oben. War ja klar.



Adriano dreht sich kurz um. »Wir müssen nach Prabione.«



»Da rauf … Kein Problem!«



»Hört sich aber anders an.« Findet er offenbar echt erheiternd.



»Haha, lass mich schnaufen, ich komm schon mit, keine Sorge«, wink ich lässig ab. Abgesehen davon, selbst wenn es mir zu anstrengend wäre, würde ich es natürlich nicht zugeben. Aber mir macht’s echt nichts aus, ich komm manchmal ganz gern an meine Grenzen.



Teilweise führen Steinstufen nach oben und Schotterwege. Mit Flipflops wäre ich hier falsch. Definitiv. Ich komm mir vor wie in einer anderen Welt. Riesige Wasserrohre, Wasserreservoirs, verlassene Stollen, Tümpel, überall Zeichen von gewaltigen Erdrutschen, notdürftig repariert, unten die Ruine der alten Fabrik, der glitzernde See … Mensch und Natur – nicht immer im Einklang. Adriano trabt einsilbig vor mir her. Die Sorge um seine Schwester treibt ihn voran. Ich falle ein bisschen zurück. In einer Nische steht ein Marienbild. Mit Blumen und einer Kerze. Ist da jemand gestorben? So eine Art bayerisches Marterl? Adriano ist zu weit voraus, um ihn zu fragen. Er ist bereits in dem mannshohen Tunnel verschwunden, der dunkel, feucht und nur spärlich beleuchtet nicht besonders einladend wirkt. Vorsichtshalber geh ich leicht gebückt. Ab und zu streift etwas meine Haare – will lieber nicht wissen, was das ist, und werd etwas schneller. Licht am Ende des Tunnels. Bin froh, als ich wieder draußen bin, obwohl es drinnen angenehm kühl war. Adriano wartet