Das gefälschte Testament und andere Mordfälle aus Mitteldeutschland

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Henner Kotte

Die Affäre Isidor Fisch

Spuren vom »Verbrechen des Jahrhunderts«

führen in die Messestadt

»Seit Lucrezia Borgia bin ich die Frau, die die meisten Menschen umgebracht hat, allerdings mit der Schreibmaschine«, sagte Agatha Christie. Und jeder Krimileser weiß, die Fälle, die Hercule Poirot und Miss Marple lösen, hat sich die Autorin ausgedacht. Beim Aufwaschen kommen ihr die besten Ideen, »denn das ist eine dermaßen stumpfsinnige Angelegenheit, dass man sich Gedanken machen muss«.

Also ist alles in den Agatha-Christie-Krimis schriftstellerische Phantasie? Nicht ganz, denn die Queen of Crime ließ sich oft von wahren Begebenheiten inspirieren. Bereits ihr erstes Buch »Das fehlende Glied in der Kette« (1920) beruhte auf einem tatsächlichen Giftdiebstahl in einer Apotheke, und belgische Kriegsflüchtlinge gaben das Vorbild ab für Hercule Poirot, den Meisterdetektiv. In »Rächende Geister« flossen wissenschaftliche Kenntnisse und die Erfahrungen ihres Ehemannes, eines Archäologen, ein. Sie besuchte ihn oft bei seinen Grabungen. »Kurz vor Weihnachten des Jahres 1931 fuhr sie im Orientexpress zurück. Der Zug geriet in ein heftiges Unwetter und blieb für zwei Tage stecken. Agatha Christie hatte viel Zeit, sich eine neue Kriminalgeschichte auszudenken.« Für den »Mord im Orientexpress« lieferte ein wahrer Kriminalfall, der die Welt erschüttert hatte, den Anlass. Bei der Veröffentlichung des Kriminalromans war noch kein Täter des Verbrechens überführt. Und bis heute diskutieren die Experten, ob am 3. April 1936 tatsächlich der wirklich Schuldige auf dem elektrischen Stuhl in Trenton/New Jersey starb.

»Murder on the Orient-Express« kam am Neujahrstag des Jahres 1934 in den englischen Buchhandel und sorgte nicht nur ob der genialen Lösung des Falles für Furor. Zwölf Messerstiche verursachten den Tod des Mr. Samuel Edward Ratchett. Der Unsympath und Mörder hatte unter falscher Identität eine Kabine im Orientexpress gebucht, als das Schicksal ihn ereilte. »Der Pass ist auf den Namen Ratchett ausgestellt worden, der unrichtig ist. In Wirklichkeit hieß der Mann Casetti und war der Urheber einer scheußlichen Kindesentführung in Amerika«, weiß der Detektiv sehr schnell. Jener gemeine Verbrecher hatte die kleine Daisy Armstrong gekidnappt, erpresste daraufhin ihre Eltern, und diese zahlten die verlangte Summe anstandslos. Doch hatte Casetti das Kind schon lange vorher getötet. Die aufmerksame Leserschaft erkannte sofort die Parallelen zum Verbrechen des Jahrhunderts. Das Kidnapping des Lindbergh Babys 1932 hatte aufgrund seiner Kaltblütigkeit und Brutalität entsetzt und sorgte bei Erscheinen des Romans noch immer für Schlagzeilen. Ein Täter war dieser Schreckenstat bislang nicht überführt. Die Familie Lindbergh litt und mit ihr Menschen in aller Welt.

Charles Lindbergh war ein Held, der grenzenlos geliebt wurde. Sein Nimbus ist heute verblasst, doch im Bewusstsein geblieben. Lindbergh hatte das Menschenmögliche gewagt: Sein Leben nicht schonend, setzte er sich am 20. Mai 1927 ins Flugzeug Spirit of St. Louis in New York und landete nach 33½ Sunden ohne Zwischenstopp sicher auf dem Flughafen Paris-Bourget. Begeistert wurde er empfangen. Menschenmassen säumten Straßen, die er im Triumphzug durchfuhr. Kinostars und Staatsmänner gratulierten und ließen sich mit ihm auf Bilder bannen. »Ich war verblüfft, welche Auswirkungen meine erfolgreiche Landung in Frankreich auf die Länder in aller Welt hatte. Mir kam das vor wie ein Streichholz, das ein Freudenfeuer in Brand setzt.«

Lindberghs Familienleben wurde öffentlich: Schöne Frau und schönes Haus und zu allem Glück dazu wird der jungen Familie am 22. Juni 1930 ein Sohn geboren: Charles Lindbergh jr. Die Idylle zerbricht jäh: Am 1. März 1932 sitzt man im Wohnzimmer der Villa Hopewell, als (mindestens) ein unbekannter Täter eine Leiter an die Hauswand lehnt und Charles Lindbergh jr. aus dem Kinderbettchen im ersten Stock entführt. »Wanted! Information as to the whereabouts of Chas. A. Lindbergh, jr.«

Nach Tagen melden sich Erpresser, die Eltern zahlen ohne Diskussion die geforderte hohe Summe. Doch zu aller Schrecken findet man das Baby 72 Tage später, keine zwei Meilen von Hopewell entfernt. Charles jr. war noch am Tag seines Verschwindens ermordet worden. Die Todesursache war aufgrund starker Verwesung nicht mehr festzustellen, »eine Schädelfraktur durch äußerliche Gewalteinwirkung« sei anzunehmen. Diese Familientragödie wird für Agatha Christie Folie des »Mordes im Orientexpress«. Im Roman richten die Hinterbliebenen den Mörder selbst.

Realiter führten die Ermittlungen erst zwei Jahre später zur Verhaftung. Die Kassiererin eines New Yorker Kinos hatte den Schein des Eintrittsgeldes mit den polizeilich gesuchten Nummern verglichen und so den Täter überführt: Bruno Richard Hauptmann. Er war ein Emigrant aus Sachsen, der in der Neuen Welt sein Glück zu finden hoffte. Er leugnete vehement die Tat, doch fanden Kriminalbeamte in seiner Wohnung Holz der Leiter, die an Lindberghs Villa lehnte, und auf dem Küchenbord ein Päckchen Geld. Es war ein Gutteil der Erpressersumme, die Nummern bewiesen es eindeutig. Ein Indizienprozess sprach Bruno Richard Hauptmann schuldig. Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens hatte es sofort gegeben. Am 3. April 1936 um 20.45 Uhr vollstreckte die Justiz das gefällte Todesurteil.

Bruno Richard Hauptmann wurde am 28. November 1899 in Kamenz geboren, erlernte den Beruf eines Tischlers, diente im I. Weltkrieg als Soldat an der Westfront und wurde mehrmals verwundet. Zunächst fand er eine Anstellung als Fabrikarbeiter in Chemnitz, nach seiner Entlassung aber blieb er wie viele seiner Kameraden in Deutschland arbeitslos. Hauptmann wurde kleinkriminell. Raub, Einbruch und Diebstahl brachten ihm fünf Jahre Gefängnis, vier saß er ab. Als er danach erneut festgenommen wurde, floh er aus der U-Haft. »Beste Grüße an die Polizei« habe auf einem in der Zelle hinterlassenen Zettel gestanden. Dann wollte Bruno Hauptmann raus aus Deutschland. Seine Überfahrt in die Vereinigten Staaten erfolgte illegal, der dritte Versuch mit falschen Papieren gelang. Unter den Immigranten fand er Freunde mit gleichem Schicksal, unter anderem Isidor Fisch und Anna Schöffler aus Markgröningen, Württemberg. Bruno Hauptmann heiratete Anna Schöffler. Er arbeitete als Zimmermann, sie in einer Bäckerei, in der New Yorker Bronx nahmen sie Quartier. Im September 1934 wurde er verhaftet. Doch trotz der Beweise: Bruno Hauptmann leugnete und erzählte seine Version, wie er zu dem Gelde gekommen sei. Er habe für seinen Freund Isidor Fisch dieses Geld nur aufbewahrt. Aber jener Isidor Fisch hatte im Dezember 1932 eine Reise in die alte Heimat angetreten, um seine Eltern zu besuchen, und war am 29. März 1934 in Leipzig an Tuberkulose gestorben. Ihn konnte niemand mehr befragen. »Mein Gott, mein Gott, wo gibt es Gerechtigkeit in der Welt?«, klagte Hauptmann. Seine Memoiren, die er im Gefängnis verfasste, wurden zum Bestseller. Darin heißt es: Ich begegnete »Isidor Fisch zum ersten Mal in Hunters Island. Ich sah ihn mit einem anderen Mann an unserem Badeplatz. Da beide deutsch sprachen, wurden wir bald in eine Unterhaltung verwickelt, wie es auf dem Island üblich ist.« Man traf sich wieder, trank zusammen und erwies sich Gefälligkeiten. »Herr Fisch fragte mich, ob ich Interesse am Pelzhandel hätte. Ich sagte ihm, dass ich darin keine Erfahrungen besitze. Er meinte, dass er gern Effektengeschäfte machte, aber nie selbst gekauft habe. Er fragte mich, ob ich für ihn kaufen wollte. Ich sagte ›Na, na?‹, da ich den Markt nur beobachten und daraus lernen wollte, war ich nicht gewillt, die Verantwortung für die Anlage seines Geldes zu übernehmen. Aber ich sagte, wenn er für mich Pelze kaufen wollte, würde ich ihm gern später helfen. Auf diesen Plan einigten wir uns.« Auf diese Weise kam man ins Geschäft und handelte.

Mit dem Pelzhandel hatte Isidor Fisch Erfahrung. Am 26. Juli 1905 war er als Sohn eines Leipziger Pelzhändlers geboren worden. Ihr Geschäft betrieben die Fischs in der Jahnstraße (heute Industriestraße) 45. Isidors Schwester Hannah verkaufte bei Tobias Braudes Pelze auf der Katharinenstraße. Bruder Pinkus besaß ein eigenes Unternehmen der Branche, Brühl 47, II. Etage. Auch Isidor hatte den Beruf eines Kürschners erlernt. 1925 wanderte er nach Amerika aus. Tuberkulose ließ ihn in die Heimat zurückkehren. Die Hauptmanns gaben für den Freund ein Abschiedsessen. »Es war der letzte Sonnabend, ehe er nach Deutschland reiste. Herr Fisch kam gegen 9 Uhr. Da meine Frau zu der Zeit gerade im Kinderzimmer war, ging ich an die Tür, als er läutete, und ließ ihn ein. Wir gingen am Vorderzimmer vorbei, dessen Tür offen war, in die Küche. Hier gab er mir ein kleines Paket und bat mich es an einem trockenen Ort aufzubewahren. Ich fragte ihn: ›Haben Sie Papiere darin?‹ Ich glaubte, dass er einige Kleinigkeiten vergessen habe, wie Briefe und Fotografien, und dass er diese Dinge in ein kleineres Paket geschnürt habe. Ich entsinne mich nicht mehr genau, wie er sich zu meiner Vermutung äußerte. Wenn er mir gesagt hätte, dass das Paket Geld enthielte, würde ich mich anders verhalten haben. Ich hätte ihn wenigstens gefragt, woher es stamme. Da wir in der Küche waren, legte ich das Paket auf das obere Brett des Küchenschrankes. Wir benutzten dieses Brett selten, da wir dorthin Dinge stellten, die wir nicht häufig brauchten. Dennoch war das Brett ziemlich voll, sodass ich erst Platz für das Paket machen musste. Es ist deshalb leicht erklärlich, dass meine Frau es nicht bemerkte, und selbst wenn sie es gesehen hätte, würde sie nur gedacht haben, es enthielte etwas, was ich nicht mehr brauchte, aber nicht wegwerfen wollte. Die ganze Geschichte mit dem Paket war mir so unwesentlich, dass ich sie bald vergaß.« Doch dann überführt das Päckchen Bruno Hauptmann des Verbrechens des Jahrhunderts.

 

Die Geschwister Hannah und Pinkus Fisch werden zum Sensationsprozess geladen. Denn Pinkus hatte nach dem Tod des Bruders wegen etwaiger Außenstände bei Bruno Hauptmann angefragt. »Ich schlug drei Wege vor, den Nachlass zu ordnen. Er solle selbst herüberkommen, um alles in die Hand zu nehmen, wobei ich ihm, so gut wie es ginge, helfen würde. Falls sein Geschäft keine längere Abwesenheit von Deutschland zuließe, solle er mir alles Nötige schicken und mir notarielle Vollmacht geben. Oder er würde die ganze Angelegenheit einem Rechtsanwalt übergeben. Von letzterem Vorschlag riet ich ab, weil am Ende nicht viel übrig bleibt, wenn die Sache den Rechtsanwälten übergeben wird.« Quittungen besaß weder Pinkus Fisch in Leipzig, noch hatte Bruno Hauptmann für die Pelzgeschäfte Unterlagen.

»Und so sitze ich hier, zehn Fuß vom elektrischen Stuhl entfernt und wenn nichts getan werden kann, um mir zu helfen, wenn nichts getan werden kann, um jemanden dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen über die Art und Weise, wie die gegen mich verwendeten Beweise beschafft wurden, oder wenn nicht jemand die Wahrheit über jene sagt, die tatsächlich an diesem Verbrechen beteiligt waren und es begangen haben, werde ich mich nächsten Dienstagabend um acht Uhr als Antwort auf den Ruf meiner Wärter zum letzten Mal von meiner Pritsche erheben und werde jene letzte Meile gehen; ich werde durch die Tür gehen, die ständig vor mir war – die Tür, die diese kleine Welt, in der ich gelebt habe, in zwei Teile spaltet: den Teil, der das Leben beherbergt, und den Teil, der nur in die Ewigkeit führt. Ich vermute, es werden einige in der Kammer anwesend sein, die einen Anteil an der Vorbereitung für die Strafverfolgung in meinem Fall hatten. Ich bin fest davon überzeugt, dass ihr Leiden, ihre Qual größer sein wird als meine. Meine wird sofort vorbei sein. Ihre wird so lange andauern, wie das Leben selbst dauert.«

Viele Fragen hat der Hauptmann-Prozess nicht beantworten können. Die Witwe kämpfte bis zum Lebensende darum, die Unschuld ihres Mannes nachzuweisen. Anwälte setzen bis heute das Rehabilitationsverfahren fort. Unglücklich auch das Schicksal von Isidor Fischs Geschwistern. Nach Deutschland zurückgekehrt, fällt die Familie unter die Nürnberger Gesetze. Ihre Spuren verlieren sich in den Konzentrationslagern Bardejow und Auschwitz. Das Grab Isidor Fischs befindet sich auf dem Neuen Jüdischen Friedhof.

»Das wichtigste Rezept für den Krimi«, meinte Agatha Christie, »der Detektiv darf niemals mehr wissen als der Leser«. Hercule Poirot hat Isidor Fisch aus Leipzig nicht gekannt.

Hans Girod

Nichts für schwache Nerven

Zwei Fälle von Kannibalismus

Es ist das Jahr 1969, und es ist Herbst. Ein höchst offizielles Jubiläum kündigt sich an: Zwanzig Jahre schon hat die Arbeiter- und Bauernmacht die gesellschaftlichen Geschicke in festem Griff. Die DDR hat sich zur zweitgrößten Industriemacht innerhalb des Ostblocks gemausert und ist auf bestem Wege auch zu internationaler Anerkennung. Der Jahrestag soll würdig gefeiert werden. Auch in der sächsischen Kreisstadt Glauchau, dem traditionsreichen Industrieort der Tuchmacher und Leinenweber, laufen die Vorbereitungen. Der Kultur- und Sozialfonds in den volkseigenen Betrieben darf mit vollen Händen ausgeschöpft werden. So auch im VEB Spinnstoffwerk »Otto Buchwitz«. Eine große Kulturveranstaltung mit anschließendem Tanz bis zum Morgengrauen wird angekündigt.

Für die meisten Gäste ist der Abend ein nachhaltig schönes Erlebnis, für zwei jedoch das unscheinbare, heimtückische Vorspiel einer Tragödie, die zwei Jahre später großes Entsetzen in der kleinen Stadt auslöst. Denn in dieser Nacht führt der Zufall die Akteure dieses Dramas zusammen: Ihn, Michael, zweiunddreißig Jahre alt, ein ruhiger, gutmütiger Typ, der als Betriebsschlosser eine zuverlässige Arbeit verrichtet, und sie, die neunundzwanzigjährige Maschinenarbeiterin Hannelore, mollig, resolut, blond, mit üppigem Busen und drallem Po. Viel Tanz und viel Wein lassen die Gefühle regelrecht explodieren. Hinter beiden liegen etliche gescheiterte Partnerschaften. Doch Alkohol verklärt, und auf den Barhockern sitzend, besprechen sie bereits an diesem Abend ihre gemeinsame Zukunft und kommen noch in der gleichen Nacht auf einer gemeinsamen Matratze zu einem Eheversprechen und ihrem ersten, lustvollen Höhepunkt.

Bereits wenige Wochen später geben sie sich auf dem Standesamt das Ja-Wort und geloben Treue, bis der Tod sie dereinst scheiden wird. Ganz in der Nähe der Stadtkirche St. Georg beziehen sie eine heruntergekommene Zweizimmerwohnung, guten Willens, ein Leben in ehelicher Harmonie zu führen. Der Honigmond ist ausgefüllt mit der Wohnungsrenovierung, dem Herbeischaffen notwendigen Inventars aus dem Fundus der Gebrauchtmöbelläden, vor allem aber mit stürmischen Kopulationen, denen ausgedehnte Kneipengänge vorausgehen. Doch bereits nach wenigen Wochen ziehen die ersten dunklen Wolken über den Ehehimmel. Schon banalste Meinungsverschiedenheiten werden alsbald mit unverhältnismäßig großer Heftigkeit ausgetragen, und körperliche Attacken bleiben nicht aus. Derweil Michael sich während der ehelichen Gefechte meist defensiv verhält, lässt Hannelore den Angetrauten die Kräfte ihres fülligen Körpers spüren, auch Haushaltsgegenstände fliegen ihm um die Ohren. Nur der Alkohol sorgt für einen zeitweiligen Waffenstillstand.

Mit der Zeit verebbt das eheliche Intimleben. Der Alltag besteht letztlich nur aus Schichtarbeit im Spinnstoffwerk und abendlichen Streitereien. Überhaupt, Hannelores sexuelles Bedürfnis wird immer mehr durch das nach Bier und Schnaps verdrängt. Michael bleibt mit seinen Wünschen allein. Weil die Angebetete in nüchternem Zustand kaum mehr zu einer sexuellen Annäherung bereit ist, erhält der Alkohol mit der Zeit eine wichtige kuppelnde Funktion. Michael bereitet den ehelichen Beischlaf damit vor, dass er für einen optimalen Alkoholpegel seiner Gattin sorgt. Dann darf er sich an ihr bedienen. Hannelore dosiert ihr Entgegenkommen mit kühler Überlegung, indem sie ihm zunächst eine Annäherung erlaubt, um ihn sogleich wieder auf Distanz zu bringen. Das stachelt ihn an und fördert seine Spendierfreude. Michael ist emotional so eingeengt, dass er nicht spürt, wie sie ihn auf diese Weise manipuliert. Liebesverlust quält, neurotisiert, steigert aber auch die Lust auf das so schwer Erreichbare und zwingt zu demütigenden Zugeständnissen. Geld oder Schnaps für Sex. Zwischen diesen Alternativen findet das Sexualleben des Ehepaares Ewald nun statt.

Im Gegensatz zu Hannelore hält sich sein Quantum an geistigen Getränken in erträglichen Grenzen. Sie hingegen verfügt über eine erstaunliche Kondition, die es ihr trotz chronischer Alkoholexzesse ermöglicht, am nächsten Tag im Betrieb unauffällig zu erscheinen. In Wirklichkeit aber befindet sie sich schon längst auf dem schnurgeraden Weg in die Alkoholabhängigkeit.

Die Kneipengänge zehren am gemeinsamen Geldbeutel. So dauert es auch nicht lange und wirtschaftliche Nöte belasten das Ehepaar zusätzlich – ein weiterer Grund für Auseinandersetzungen. Mangel an Geld bedeutet Mangel an Alkohol. Das macht Hannelore noch aggressiver, unberechenbarer und unleidlicher. Michael ist unfähig, sich ihrer Stimmungsausbrüche zu erwehren, fühlt sich hilflos ihren Launen ausgesetzt und muss bald in sklavischer Unterwerfung ansehen, wie Hannelore ohne ihn die Kneipenbesuche fortsetzt, dabei fragwürdige Männerbekanntschaften schließt, sich aushalten lässt und nächtelang nicht nach Hause kommt. Kraftlos setzt er sich den Schmähungen aus, kuscht vor seiner resoluten Frau. Unterwürfigkeit ist ein Charakterzug, den ihm seine autokratische Mutter dereinst einprügelte.

Längst hat er begriffen, dass Hannelore ihn nur erduldet, trotzdem buhlt er leidenschaftlich um ihre Gunst. Doch schroff weist sie ihn ab, macht aus ihren Seitensprüngen keinen Hehl und kündigt schließlich ihre endgültige Trennung an. Michael bittet sie inständig, bei ihm zu bleiben, droht mit Selbstmord. Vergeblich: Ende des Jahres 1970 packt sie auf Betreiben ihres aktuellen Liebhabers ihre Siebensachen und bezieht einige Straßen weiter bei Frau Thieme, einer betagten Dame, ein Zimmer zur Untermiete. Von nun an sehen sich die Eheleute nur im Spinnstoffwerk, wenn sie die gleiche Schicht haben. Dann gehen sie höflich miteinander um, rücksichtsvoll und ohne Nörgelei. Michael frisst die Eifersucht in sich hinein und macht Hannelore unverdrossen weiterhin den Hof. Doch sie reicht auf dem Kreisgericht Glauchau die Scheidung ein. Michael ist außer sich. Verzweiflung und Schwermut befallen seine Seele. Sein erbärmlicher Zustand muss das Herz des Richters erweicht haben, denn dieser setzt das Scheidungsverfahren aus, verordnet den Eheleuten eine weitere Bewährungszeit. Halbherzig willigt Hannelore ein, teilt nun das Ehebett wieder mit Michael. Doch die Harmonie ist nur von kurzer Dauer. Manchmal fasst sich Michael ein Herz und moniert ihre Seitensprünge. »Ich lasse mich sowieso von dir scheiden. Was ich mache, geht dich nichts an«, wehrt sie sich und ergeht sich in üblen Beschimpfungen, die wie Hagelstürme auf ihn niederprasseln.

Das kleine Zimmer bei der alten Frau Thieme hat Hannelore nicht aufgegeben. Es ist ihr Hort des stillen Genusses und der Ausnüchterung. Ihr ebenfalls trinkfester Galan hatte ihr dazu geraten. Michael bleibt wieder häufig allein. Sein Intimleben ist auf die Erlebnisse in seinen Vorstellungen beschränkt, in denen Hannelores aufreizender Hintern einen wichtigen Part übernimmt. Die aufgezwungene Triebunterdrückung führt zu einer nahezu krankhaften Besessenheit, mit der er auch in der Folgezeit seine lüsternen Gedanken auslebt, ohne die Hoffnung aufzugeben, dass sich das Objekt seiner Begierde eines Tages real wieder mit ihm vereint. Die sexuellen Entbehrungen, aber auch die Eifersucht wühlen Michaels Seele auf, massive Phantasien entstehen, Hannelores Körper bald zu besitzen, koste es, was es wolle.

Fast ein halbes Jahr dauert dieser Zustand an. Mitte Juli nimmt Michael seinen Jahresurlaub. Es ist eine triste, langweilige Zeit des Ausschlafens und des Müßiggangs. Anfangs verschafft er sich durch Tapezierarbeiten bei Nachbarn einen kleinen Nebenverdienst, dann verbringt er viele Sonnenstunden im Freibad und die Abende in einer Kneipe seines Kiezes. Hannelore hat er schon tagelang nicht gesehen. Doch dauernd muss er an sie denken.

Am Nachmittag des 29. Juli 1971 beabsichtigt er, seine Mutter in Meerane mit einem Besuch zu überraschen. Auf dem Wege zum Bahnhof erblickt er zufällig auf der anderen Straßenseite Hannelore. Er wagt es zunächst nicht, sie anzusprechen. Als sie ihn bemerkt, steuert sie jedoch unverdrossen auf ihn zu. Schon ihre Art zu gehen zeigt ihm, dass sie nicht mehr ganz nüchtern ist. Der Alkohol lässt ihre Augen matt glänzen. Sie lächelt den Gatten freundlich an: »Gehst du mit mir einen trinken?«

Sofort schlägt Michael sein Vorhaben, nach Meerane zu fahren, in den Wind, beginnt ein Gespräch über die Widrigkeiten seines Lebens in Trennung, fragt, was er tun müsse, um sie wieder für sich zu gewinnen, und gibt unmissverständlich zu erkennen, dass sein Verlangen nach ihr übermächtig sei.

»Leih mir zwanzig Mark«, fordert sie. »Montag gibt’s erst wieder Lohn, dann kriegst du sie zurück!«

Michaels Gesicht zeigt herbe Enttäuschung, was ihr nicht entgeht, denn sie korrigiert ihre Forderung mit einer Offenheit, die ihn verblüfft: »Die alte Thieme ist bis nächsten Monat in Bremen, besucht ihre Kinder. Kauf ’ne Pulle Klaren und wir gehen zu mir. Dann kannst du mich ficken.«

Dieses verlockende Angebot will er sich keinesfalls entgehen lassen. Doch Hannelores Untermieterbude, der Ort, an dem sie sich mit ihrem Liebhaber verlustiert, ist ihm verhasst. Er will ins vertraute eheliche Schlafzimmer. Deshalb schwindelt er: »Ich hab nicht so viel bei mir. Komm mit nach Hause, du kriegst das Geld.«

Das Paar trottet in scheinbarer Eintracht in Richtung der ehelichen Wohnung. Dort angekommen, sind sie sich über den absonderlichen Deal schnell einig: eine kleine Flasche Apfel-Korn und fünf Mark gegen einen Geschlechtsverkehr. Michael wird derart von seiner Begierde beherrscht, dass er Hannelore schnell zur Sache drängt. Als er die Flasche aus dem Schrank hervorholt und das Geld überreicht, stellt sie leidenschaftslos ihren Körper zur Verfügung. Michael macht sich über sie her, schnell ist alles vorbei. Hannelore bringt den Gatten sofort wieder auf Distanz, erkennt aber auch, dass der potente Mann durchaus zu einem wollüstigen Marathon fähig wäre. Während sie ihr Haar ordnet und das Kleid richtet, stellt sie zu seiner großen Freude in Aussicht, am Abend wiederzukommen. »Was lässt du dafür springen?« Michael muss nicht lange überlegen. »Zehn Mark und ’ne Pulle«, ist seine spontane Antwort.

 

Gegen 19.30 Uhr ist sie wieder zur Stelle. Sie trägt ein knallrotes Minikleid, das die Konturen ihres molligen Körpers unterstreicht. Der aufreizend herbe Duft ihres Parfüms kaschiert die Alkoholfahne. Michaels Blut gerät in Wallung. Er präsentiert seiner Frau zwei Flaschen »Nordhäuser Doppelkorn«, von denen eine flugs in ihrem Kunstlederbeutel verschwindet. Aus der anderen gießt er zwei Gläser randvoll und prostet ihr auffordernd zu. Er will sich Zeit nehmen, braucht ein erotisches Vorspiel, glaubt insgeheim, auf diese Weise auch Hannelore in Leidenschaft zu versetzen.

Und während beide auf dem Sofa sitzend die Flasche leeren, lenkt Michael das Gespräch immer wieder auf eine Versöhnung, appelliert an ihr Gewissen, will die Gründe wissen, warum sie ihn ablehnt und das Scheidungsbegehren nicht aufgibt. Sein larmoyantes Gebaren macht Hannelore nur noch abweisender und kälter. Ihr wiederholtes schroffes »Nein« versetzt ihn schließlich in Zorn. Mit einem Mal ist ihm nämlich die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen bewusst geworden: Er hat sie verloren. Die Enttäuschung versetzt ihn in Rage. Er brüllt seine ganze Wut über die verkorkste Ehe und ihre Trinksucht heraus und überschüttet Hannelore mit Vorwürfen. Sein Gebrüll reizt jedoch auch sie. Unmissverständlich donnert sie ihm entgegen: »Lass den Scheiß! Ich bereue jede Minute mit dir, und du willst einfach nicht wahrhaben, dass es aus ist. Begreife endlich, ich liebe einen anderen!«

Sie erhebt sich grollend und will die Wohnung verlassen. Michael ist außer sich: Wenn Hannelore jetzt geht, ist er wieder allein in seinem kalten, leeren Heim. Sie hingegen vergnügt sich bald wieder in den Armen eines anderen. Nein, das verkraftet er nicht. In seinem Gehirn toben wirre Überlegungen, bis er zu einem Entschluss kommt, furchtbar und mit normalem Menschenverstand nicht nachvollziehbar: »Wenn ich sie schon nicht kriege, soll sie der andere auch nicht haben!«

Später vor Gericht wird er diesen Satz, der wie eine schwache Rechtfertigung anmutet, mehrmals wiederholen. Wie ferngesteuert ergreift er die leere Schnapsflasche. Noch ehe Hannelore die Gefahr erkennt, trifft ein wuchtiger Hieb ihren Schädel. Ohne einen Laut von sich zu geben stürzt sie zu Boden. Augenblicklich schwinden ihr die Sinne. Michael beugt sich über sie, die Flasche, die den Schlag unversehrt überstanden hat, in der Hand. Aus einer Platzwunde am Schädel sieht er etwas Blut herausquellen, das in ihrem blonden Haar versickert. Reglos liegt sie zu seinen Füßen. Nur ein kaum wahrnehmbares Röcheln verrät, dass sie nicht tot ist. Sonst ist Stille. Seine Wut verfliegt im Nu. Neue, absonderliche Gedanken schwirren durch sein Hirn: Jetzt ist sie mein! Jetzt kann ich sie haben!

Michael eilt in die Küche, ergreift ein Messer, um ihr den Hals aufzuschlitzen. Jetzt ist er ganz dicht bei ihr, Körper an Körper, so wie er es sich immer gewünscht hat. Ihr Leben ist in seinen Händen. Dann sticht er zu. Zu seiner Verwunderung tritt verhältnismäßig wenig Blut aus der klaffenden Wunde. Dafür vernimmt er ein stoßweises keuchendes Gurgeln, das bei jedem Atemzug der Bewusstlosen die in die Wunde eintretende Luft verursacht. Nach einigen Minuten ist es vorbei. Er kann nicht wissen, dass Luft in Hannelores Blutgefäße drang und das Herz schnell zum Erlahmen brachte. Michael erhebt sich.

Seine sexuelle Erregung ist plötzlich abgeklungen und wird durch ein umfassendes Wohlbehagen ersetzt, ausgelöst durch das Gefühl des Sieges. Das Gefühl ist so überwältigend, dass es weder Angst vor Entdeckung noch Schuldgefühle aufkommen lässt. Michael will es genießen, die uneingeschränkte Macht über die Frau auszuüben, auf die er so lange verzichten musste. Dass sie tot ist, erscheint ihm dabei nebensächlich. Überlegungen zur Beseitigung ihres Leichnams und aller Spuren unterdrückt er, verschiebt sie auf einen späteren Zeitpunkt. Sie sollen seinen Siegesrausch nicht stören.

Bei leiser, anheimelnder Radiomusik entkleidet er die tote Frau. Der Anblick ihrer Pobacken mobilisiert erneut das Gefühl der Macht. Die Erregung ist übermächtig. Doch wie kann er seine Lust befriedigen? Vor einem regelrechten Geschlechtsverkehr mit der Toten schreckt er zurück. So liegt er länger als eine Stunde dicht bei der Toten, liebkost den noch warmen Körper, insbesondere die Gesäßpartie. Es ist ein makabrer Vorgang, absurd und zugleich zärtlich. Der Mörder sucht die absolute Nähe zu seinem Opfer.

So verrinnt die Zeit und mit ihr das bisherige Wohlbefinden. Schließlich packt ihn doch die Angst vor Entdeckung seiner Tat. Eines ist gewiss, er muss sein Verbrechen vertuschen. Er ist zuversichtlich, ungeschoren davonzukommen, wenn er es richtig anstellt. Er will die Tote zerstückeln und die Teile im Glauchauer Stausee versenken. Dazu holt er sich aus dem Arsenal seiner Werkzeuge eine Tischlersäge. Bevor er sein schauerliches Werk beginnt, wendet er die rücklings auf dem Wohnzimmerfußboden liegende Tote auf den Bauch, um die Säge in der Mitte der Wirbelsäule ansetzen zu können. Doch dann hält er inne: Erneut versetzt ihn der Anblick des üppigen Pos in lüsterne Erregung. Mit teuflischer Lust schneidet er mit dem Küchenmesser zwei große Stücke aus dem Gesäß, tranchiert sie säuberlich, legt das Fleisch in einen großen Tiegel, deckt ihn sorgfältig ab und deponiert das Gefäß in der kühlen Speisekammer. »Ich wollte mich später wieder daran erregen«, gibt er in der späteren polizeilichen Vernehmung an.

Ins Wohnzimmer zurückgekehrt zersägt Michael die Leiche seiner Frau in zwei Teile, umwickelt diese mit Plastikfolie und verpackt sie in alte Kohlensäcke. Den Sack mit dem Torso des Oberkörpers zwängt er in einen Koffer und stellt diesen im Schlafzimmer ab, um ihn bei nächster Gelegenheit im Keller zu vergraben. Den anderen Sack, der sich mühelos auf der Lenkstange seines Fahrrads transportieren lässt, bringt er zum Stausee und versenkt ihn im flachen Uferwasser.

Müde und abgespannt kehrt Michael nach Hause zurück, reinigt den Fußboden des Wohnzimmers und verbrennt Hannelores Sachen. Vorsorglich hat er ihre Hausschlüssel an sich genommen. Gegen drei Uhr sinkt er ermattet in die Kissen, um einige Stunden tief zu schlafen.

Gegen sieben Uhr ist Michael wieder auf den Beinen. Doch seine Bemühungen, im Keller eine Grube auszuheben, scheitern, der harte Kellerboden widersteht den Attacken der Kohlenschaufel. Deshalb bringt er den Koffer mit dem grausigen Inhalt wieder ins Schlafzimmer zurück und setzt die Reinigungsprozedur fort. Kurz vor Mittag beendet er die Spurenbeseitigung. Nun ist er zufrieden.

Wollüstige Gedanken stellen sich wieder ein, als er sich plötzlich an den in der Speisekammer abgestellten Tiegel erinnert. Ihn überkommt ein unbezwingbarer Appetit auf dieses Fleisch. Die Idee, ein Stück von Hannelores Körper zu verzehren, lässt ihn nicht mehr los und erweckt Schauder und Lust zugleich.

Wie ein heiliges Ritual zelebriert Michael die Vorgänge der nächsten anderthalb Stunden: Er schneidet eine große Portion aus einem der Fleischstücke, gibt sie in einen Topf, füllt Wasser auf, fügt Gewürze hinzu, als würde er eine schmackhafte Kraftbouillon zubereiten wollen, und kocht das ungewöhnliche Mahl, bis das Fleisch gar ist. Dann isst er ein Stück davon und trinkt von der Brühe.

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