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8

Miss Linhart hatte nun tatsächlich erlaubt, dass Helen, so schlicht wie möglich gekleidet, ganz alleine die fertigen Borten zu Madame Angélique bringen durfte.

So schlicht wie möglich?, überlegte Helen, als sie sich auf den Weg machte, ein Dienstmädchenhäubchen auf dem Kopf. Sie hatte doch ohnehin nur vier Kleider aus Norwood Abbey mitgenommen, denn mehr hatte sie ja nicht besessen. Und alle vier waren mehr oder weniger abgetragen, gewendet, in mühsamer Kleinarbeit aufgearbeitet und aufgeputzt. Das Blaue sogar mit einem Stück Vorhangschnur, das sie auf dem Norwoodschen Dachboden gefunden hatte…

Die Straßen wurden zusehends belebter und Helen sah sich, das Päckchen mit den Borten fest unter den Arm geklemmt, eifrig um, während sie munter ausschritt. Die vielen Wagen! Die kostbaren Pferde! Und die vielen Menschen, so gut gekleidet!

Nun, nicht alle – manche wirkten schon sehr elend, in zerlumpter Kleidung, manche Frauen ausgezehrt und mit mitleiderregenden Säuglingen im Arm, die andere Hand bettelnd ausgestreckt. Sie hatte gar kein Geld dabei, sonst hätte bestimmt jeder dieser Frauen etwas gegeben damit sie sich und ihren unglücklichen Kindern etwas Nahrhaftes kaufen konnten.

Die Kontraste in London übertrafen die auf dem Land bei weitem, stellte sie fest. Auf Norwood ging es allen nicht so besonders, weil ihr Vater nichts in den Besitz stecken wollte, aber den Armen ging es besser als in London und die Herrschaft lebte nicht annähernd so gut wie zum Beispiel die ältere Dame, die gerade, reich gekleidet, aus dem glänzenden Landauer mit den zwei edlen Füchsen davor stieg, von einer Zofe fürsorglich gestützt.

Alleine schon das reich bestickte Retikül, das sie lässig in ihrer freien Hand hielt! Bestimmt war das kostbarste Seide!

In diesem Moment rannte ein schmutziger Knirps die Straße entlang, schlüpfte zwischen der Dame und ihrer Zofe hindurch, riss dabei das Retikül an sich und hastete davon, direkt auf Helen zu.

Die packte ihn instinktiv am Kragen und schüttelte ihn. Als sie das spitze, graue Gesichtchen sah, das verzweifelt zu ihr aufsah, packte sie das Mitleid. Sie nahm ihm seine Beute ab und zischte: „Lauf, was du kannst! Oder willst du gehängt werden?“

„Auch nich schlimmer als Verhungern“, antwortete er und jagte davon. Helen ging, das Retikül in der ausgestreckten Hand, auf die Dame zu, die immer noch verdutzt am Straßenrand stand, und hielt ihr das Täschchen hin.

„Hier, bitte, Mylady. Ihr Retikül.“

„Danke“, antwortete die Dame. „Aber warum hast du den Dieb nicht festgehalten, Mädchen? Wir hätten ihn einem Konstabler übergeben sollen.“

„Vielleicht, Mylady, aber er war vielleicht fünf Jahre alt und halb verhungert. Ist das nicht etwas zu jung, um am Galgen zu enden?“

Die Dame, die um die sechzig sein mochte, nickte. „Du bist ein kluges Kind, Mädchen. Wie heißt du denn?“

Helen, die sich schon ganz in ihre Dienstbotenrolle eingelebt hatte, knickste ehrerbietig. „Helen Norwood, zu dienen, Mylady.“

„Und wie alt?“

„Dreiundzwanzig, Mylady.“

Die Lady runzelte die Stirn. Weil Helen den erneuten Knicks vergessen hatte? „Da läutet ein Glöckchen… Norwood? Norwood?“ Sie sah hilfesuchend zu ihrer Zofe, die aber ebenso ratlos dreinsah.

„Norwood… ich hab´s!“ Sie sah Helen forschend an. „Northbury, stimmt´s?“

Helen senkte den Kopf. „Das ist – war – mein Vater.“

„War? Soll das heißen, er ist – tot? Nun, ehrlich gesagt war das ja wohl irgendwann zu erwarten: Dieser Lebenswandel… auch für einen Gentleman wirklich zu exzessiv. Hat er wirklich alles verspielt?“

„Alles“, bestätigte Helen mit gesenktem Blick, dann sah sie wieder auf und der Lady fest in die Augen. „Aber er ist nicht tot. Nur auf den Kontinent geflohen. Das hat er unserem Butler zumindest zum Abschied gesagt.“

„Oh.“ Die Lady starrte einen Moment lang vor sich hin, dann lächelte sie. „Lady Helen Norwood also… und Sie sind jetzt mittellos. Was wollen Sie jetzt tun?“

„Ich werde mir eine Arbeit suchen. Als Gouvernante vielleicht. Das habe ich mir mit meiner alten Gouvernante überlegt.“

„Ich bin Lady Brincknell. Sagen Sie, Mädchen – ach, kommen Sie, setzen sie sich zu mir in den Wagen, ja? Wir sollten das besprechen.“

Helen überlegte. Sollte die Dame womöglich üble Absichten verfolgen? Linny hatte einiges über die Gefahren der sündigen Großstadt zu sagen gehabt. Nur - was einem arglosen Mädchen genau zustoßen konnte, darüber hatte sie sich recht ungenau geäußert.

Andererseits aber hatte die Dame mit ihrem Namen etwas anzufangen gewusst. Sie hatte Pferd und Wagen, und zwar von der kostspieligsten Sorte – und sie hatte eine respektable Zofe bei sich. Helen wollte der Dame deshalb schon in den Wagen folgen, da fielen ihr die Stickereien wieder ein. „Mylady, sehr gerne, aber ich müsste zuerst noch ganz rasch diese Stickereien abgeben. Es ist gleich hier in der Straße – wenn ich Sie einen Augenblick lang warten lassen dürfte?“

Lady Brincknell lächelte. „Stickereien? Ach – für Madame Angélique womöglich? Ihre Créationen sind zurzeit wirklich sehr gefragt. Und Sie haben einige der Stickereien angefertigt?“

„Zusammen mit Miss Linhart, bei der ich im Moment wohne, Mylady. Wenn ich also darf, laufe ich schnell hinüber und liefere die Arbeiten ab, dann bin ich sofort wieder da.“

„Laufen Sie, Kindchen.“

Helen gab die Stickereien ab, empfing ein Lob für die sorgfältige Arbeit und den vereinbarten Lohn (viel war es nicht) und kehrte sofort zum Wagen von Lady Brincknell zurück.

„Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen, Mylady?“

„Steigen Sie ein, Kindchen. Wir fahren jetzt zu mir, um uns einmal ausführlich zu unterhalten, und danach bringe ich Sie zu Ihrer Gouvernante zurück, einverstanden?“

„Sehr gerne, Mylady – wenn es nur nicht zu lange dauert. Ich möchte nicht, dass Miss Linhart in Aufregung gerät. Sie ist so gut zu mir.“

„Miss Linhart? Soso. Nun, fahren wir!“ Sie tippte mit ihrem geschlossenen Sonnenschirm dem Kutscher auf die Schulter, und die Pferde zogen an. In raschem Tempo näherte sich der Wagen dem Wohnviertel der Reichen und Vornehmen, was Helen auch ohne Ortskenntnisse an den eleganten Fassaden, den gepflegten Grünanlagen und den wenigen, aber erlesen gekleideten Passanten und Reitern ablesen konnte. Dazu kam noch die Nähe zu einem riesigen Park. Lady Brincknell hatte die Freundlichkeit, ihr zu erklären, dass es sich dabei um den Hyde Park handelte.

In der Mount Street hielt der Wagen vor einem großen, aber nicht protzigen Stadthaus, das relativ neu und sehr elegant aussah.

Lady Brincknell hatte Helens beeindruckten Blick wohl bemerkt, denn sie sagte: „Mein verstorbener Mann hat es erbauen lassen. Georgianisch nennt man das, nach König George, dem Armen. Ich wohne gerne hier – alle Freunde und Bekannten hat man in der Nähe, der Park ist nicht weit, um auszufahren und“ – sie zwinkerte – „auf dem Laufenden zu bleiben. Außerdem bietet das Haus jeden modernen Komfort.“ Helen starrte sie verblüfft an. Was meinte sie denn wohl damit?

Als die Lady energisch auf die Haustür zuschritt, flüsterte die Zofe Helen zu: „Ihre Ladyschaft meint, dass wir sogar über eins dieser neuartigen Wasserklosetts verfügen. Unter der Treppe.“

„Oh!“, machte Helen, teils beeindruckt, teils etwas peinlich berührt. Davon hatte sie schon gehört, aber noch nie eines mit eigenen Augen gesehen – wie denn auch, in der Abbey wurde schließlich kein Penny auf Neuerungen verwendet.

Sie folgte der Lady mit der Zofe und fühlte sich schon ganz als Dienstbotin – nun, warum auch nicht? Etwas anderes hatte sie schließlich selbst auch nicht ins Auge gefasst, und etwas anderes konnte sie auch nicht mehr erwarten. Für alles andere war sie zu arm und für eine lukrative Laufbahn in der Halbwelt wohl auch zu streng, was die Moralvorstellungen betraf.

Sie hatte zwar nur sehr nebelhafte Vorstellungen davon, was eine junge Dame tun musste, um in der Halbwelt Erfolg zu haben, aber es klang bedenklich. Halbwelt, das war der Bereich, in dem eine anständige junge Dame keinesfalls etwas zu suchen hatte – nur die Herren trieben sich dort herum. Herren durften so etwas, ihr Ruf litt nicht darunter.

Ungerecht war das, wenn man es einmal genauer bedachte.

Innen war das Haus mindestens so elegant wie außen, hell, freundlich, großzügig und sparsam-klassisch mit Gold und Schnitzereien akzentuiert. Die Zofe nahm ihrer Herrin den Umhang und das gerettete Retikül ab; Lady Brincknell winkte Helen gebieterisch, ihr zu folgen, und schritt in einen hellen Raum zur linken Hand.

„Mein grüner Salon“, erläuterte die Hausherrin unnötigerweise. Helen musterte die zartgrünen Tapeten, die grüngolden gepolsterten Möbel und murmelte ein Kompliment. Lady Brincknell sah sie kurz scharf an und lachte dann. „Sehr grün, nicht wahr? Sie haben ja Recht, wahrscheinlich habe ich ein wenig des Guten zu viel getan. Aber mir gefällt es so. Setzen Sie sich doch, Kindchen!“

Sie selbst hatte sich schon gesetzt und klopfte nun auf die Polsterung neben sich. Helen folgte der Aufforderung, setzte sich aber artig auf eines der stramm gepolsterten Sesselchen und faltete die Hände im Schoß.

„Wie brav Sie dreinschauen!“, bewunderte die Lady sie prompt. „Trotzdem glaube ich, dass mehr in Ihnen steckt. Wollen Sie für mich arbeiten?“

„Als Gouvernante, Mylady?“

„Nein, danke. Ich hatte nie Kinder, nur einen Neffen und zwei Nichten, die Kinder meines älteren Bruders. Für eine Gouvernante habe ich keine Verwendung, aber eine Gesellschafterin könnte ich gut gebrauchen. Sie würden mir vorlesen, mit mir ausfahren, mich auf Veranstaltungen, Bälle und so weiter begleiten, gerne auch mit mir sticken, sollte mich bei Gelegenheit die Lust darauf überkommen“ – sie grinste eher undamenhaft – „mit mir über alle Mögliche diskutieren und mir ganz generell die Langeweile vertreiben. Trauen Sie sich das zu?“

 

Helen lächelte. „Gewiss, Mylady. Aber ehrlich gesagt, klang mir das eben eher, als wollten Sie mich in die Gesellschaft einführen. Diese Arbeit scheint das reinste Paradies zu sein. Möchten Sie mich wirklich einstellen?“

„Aber gewiss doch. Und Sie haben nicht ganz Unrecht mit Ihrer Vermutung, Kindchen. Ich meine, eine Lady Helen Norwood sollte nicht irgendwo ein klägliches Dasein fristen, indem sie die unerzogenen Bälger einer neureichen Familie unterrichtet und womöglich die unerwünschten Aufmerksamkeiten ihres Arbeitgebers abwehren muss. Warum sollte ich Sie nicht der Welt präsentieren, damit Sie einen Platz im Leben finden, der Ihnen zukommt?“

„Aber – ich könnte Ihnen das nie vergelten!“

„Das weiß ich doch. Das müssen Sie auch nicht, Kindchen – ach, ich werde einfach Helen und du sagen, einverstanden? Kindchen wirkt auf die Dauer auch etwas monoton. Also, Helen, ich habe wirklich mehr Geld, als ich jemals ausgeben kann, und außerdem war mir durchaus ein wenig langweilig. Die Saison steht vor der Tür, und ich denke, wir werden viel Spaß miteinander haben. Na los, Helen, sag ja.“

Helen nickte zaghaft, noch ganz benommen.

Lady Brincknell klatschte in die Hände. „Gut, dann lasse ich dich jetzt zu deiner Gouvernante bringen, damit du das Geld abliefern und deine Sachen holen kannst. Sicher wird deine Miss Linhart – das war doch ihr Name, nicht? – froh sein, dich in guten Händen zu wissen.“

Helen nickte wieder und zwickte sich unauffällig, um aus diesem Traum aufzuwachen. Die Lady bemerkte dies aber doch und lachte. „Kein Traum, meine Kleine. Also, auf jetzt. Jenny, meine Zofe, wird dich begleiten. Alles ganz achtbar.“

9

Sir Adam saß in seinem Arbeitszimmer und blätterte müßig durch den kleinen Stapel Einladungen, den Rathesom ihn auf den Schreibtisch gelegt hatte. Nicht gerade viele goldgeränderte Karten – aber die Saison hatte noch nicht richtig begonnen, und der begehrteste Gast war er nun auch nicht.

Nicht, dass ihn das sonderlich gestört hätte; die meisten Veranstaltungen waren seiner Ansicht nach völlige Zeitverschwendung: hohles Geplapper hohlköpfiger Mitglieder der feinen Gesellschaft.

Ab und zu allerdings musste man sich doch auf ausgewählten Festlichkeiten sehen lassen, um nicht als Sonderling zu gelten. Seltsamer Nebeneffekt: Je seltener man Bälle und ähnliches besuchte, desto begehrter wurde man. Sogar auf Adam selbst traf das in begrenztem Maße zu – hätte er mehr als den Titel eines Baronets aufzuweisen gehabt, hätte er sich wahrscheinlich vor potenziellen Bräuten kaum noch retten können. Das Gleiche wäre wohl eingetreten, wenn er den Umfang seines Vermögens publik gemacht hätte, aber dazu war er zu vorsichtig, außerdem wollte er nicht als neureich gelten.

Nun, irgendwann musste er heiraten. Der Titel war zwar nicht so wichtig, dass er unbedingt vererbt werden musste, aber der Besitz – Oakwood, Norwood Abbey und ein nicht unbeträchtliches Vermögen – sollte ja nun auch nicht einfach so an die Krone fallen. Außerdem stellte er es sich recht hübsch vor, Kinder zu haben, Söhne, die man erziehen, und Töchter, die man verwöhnen konnte. Ja, und eine Frau, mit der man vertrauten Umgang pflegte, die man vielleicht sogar liebte? Die einen verstehen konnte? Die möglicherweise nicht so hohlköpfig war wie viele der Schönheiten auf den üblichen Geselligkeiten…

Warum dachte er jetzt an Helen Norwood? Ob sie hohlköpfig war oder nicht, wusste er schließlich gar nicht. Die Tatsache, dass sie ihm ihren Schmuck überlassen, aber eine Quittung verlangt hatte, hatte ihm gefallen. Damit hatte sie Stil bewiesen. Und Stolz.

Aber wo, beim Jupiter, war das Mädchen? Sie konnte sich doch unmöglich alleine durchschlagen, schon gar nicht in London! Was ihr da alles zustoßen konnte…

Sollte er nun eine dieser Veranstaltungen beehren?

Eine Kartenpartie bei Lord Bernard Tamlin, morgen Abend… das nun ganz gewiss nicht, das letzte Spiel hatte ihm genügt. Der Abend, an dem er wider Willen die Abbey gewonnen hatte, war ihm heute noch peinlich. Tamlin würde ihn nur ausfragen, was er mit der Abbey vorhatte und was aus dem unbelehrbaren Northbury geworden war – aber vielleicht wusste er etwas über Helen Norwood, immerhin war er doch mit ihr verlobt gewesen?

Er würde ihn bei Gelegenheit diskret aushorchen, aber nicht bei dieser Kartenpartie. Lieber auf einer anderen Festivität, wo er ihm bei Bedarf besser aus dem Weg gehen konnte. Vielleicht heiratete er Lady Helen nun ja, dann war sie wenigstens versorgt…

Ein Konzert bei den Riddletons… auf gar keinen Fall! Lady Riddletons nötigte stets ihre Tochter und ihre beiden Söhne, das Publikum akustisch zu quälen, denn alle drei waren leider vollkommen unmusikalisch, wenn auch eifrig bemüht. Die Geige quietschte, das Cello brummte falsch dazwischen, und Miss Riddleton hatte auch keine nennenswerte Stimme. Da halfen dann auch die erlesenen Erfrischungen nichts, die Lady Riddleton nach der Tortur servieren ließ.

Außerdem würde Tamlin dort keinesfalls erscheinen, und Sir Adam konnte sich auch sonst niemanden denken, der etwas über Helen Norwood wissen konnte und sich zu den Riddletons wagte.

Er legte die Einladung beiseite.

Ein Tanzabend… hm. Lady Overtons Veranstaltungen waren eigentlich durchaus angenehm – nicht zu voll, kein zu arrogantes oder zu dümmliches Publikum. Ein, zwei Pflichttänze würden ihn nicht umbringen. „James?“

„Ja, Sir? Was kann ich für Sie tun?“

„Sagen Sie Lady Overton zu. Morgen, glaube ich.“

„Sehr wohl, Sir.“ Rathesom verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Sir Adam, froh, für die morgige Unterhaltung gesorgt zu haben, wandte sich wieder seinen Geschäften zu und vertiefte sich in den Bericht, den ihm der Leiter von St. Michael geschickt hatte. Dort wurde wohl allmählich eine Erweiterung notwendig. Kein Wunder angesichts des Elends in London…

Gab es ein geeignetes Gebäude in der Nähe? Oder ein brachliegendes Grundstück? Er sollte sich vielleicht bald einmal selbst dort umsehen…

10

Helen war immer noch leicht benommen. Sie hatte sich zwar brav zu Linny fahren lassen, ihr alles erklärt und die Begeisterung ihrer Gouvernante etwas verblüfft registriert – legte Miss Linhart denn gar kein Misstrauen an den Tag? Hatte sie keinen Verdacht, Lady Brincknell könne finstere Absichten hegen? Helen wusste selbst nicht, welche finsteren Absichten das eigentlich sein sollten, aber Miss Linhart konnte doch eigentlich misstrauischer sein?

Nein, sie jubelte über das Glück, das Helen mit dieser Stellung zuteil wurde: Gesellschafterin! Bei Lady Brincknell, einer steinreichen, hoch angesehenen Dame der besten Gesellschaft! Vielleicht ergab sich dabei sogar noch die Chance auf eine annehmbare Partie?

Helen war freilich der Ansicht, sie selbst sei keine annehmbare Partie mehr, verarmt, wie sie war – aber davon wollte ihre treue Linny natürlich nichts wissen. Sie half Helen eifrig, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken, küsste ihre ehemalige Schülerin herzlich zum Abschied und bat darum, durch gelegentliche Billets auf dem Laufenden gehalten zu werden, was Helen gerührt versprach.

Zurück bei Lady Brincknell, wurde sie von Jenny in ein sehr hübsches und großes Zimmer im zweiten Stock geleitet, ganz in der Nähe vom Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft, wie Jenny versicherte, die sich danach daran machte, die schäbige Reisetasche auszupacken.

„Miss – Verzeihung, Lady Helen – ich fürchte, das geht gar nicht. Als Begleiterin von Lady Brincknell müssen Sie sehr viel besser gekleidet sein.“

„Das tut mir sehr leid, Jenny, aber etwas Besseres kann ich mir nicht leisten. Wenn man aber das Graue hier einmal gründlich aufbügelt und vielleicht mit einigen neuen Bändern verziert, wenn so etwas vorrätig sein sollte…“

„Nun, vorläufig vielleicht. Aber ich bin sicher, Mylady schwebt eine andere Lösung vor.“

Jenny sollte nur zu recht behalten, wie Helen feststellen musste – sofort am nächsten Tag wurde Helen, in das geschmähte graue Kleid, immerhin ihr bestes, gekleidet, in einer geschlossenen Kutsche zu Myladys Schneiderin geschleppt, Madame Lafleur.

„Madame Angélique ist zwar der letzte Schrei, aber sie verwendet mir etwas zu viele Stickereien“, begründete sie ihre Wahl. „Wir brauchen zunächst einige Tageskleider, zwei, drei Abendroben und einige Hüte und wenigstens zwei Mäntel. In diesem dünnen Umschlagtuch siehst du wirklich zu armselig aus, mein Kind.“

Helen lächelte bitter. „Ich bin ja auch arm, Mylady!“

„Deshalb musst du aber doch nicht so aussehen! Außerdem möchte ich mit dir Ehre einlegen, und es gehört zu deinen Pflichten, meine Wünsche zu erfüllen, ist es nicht so?“

Helen senkte den Kopf. „Gewiss, Mylady.“

Seltsame Situation, dachte sie. Sie war Lady Brincknell ungemein dankbar, gewiss – aber dieses Gnadenbrot hatte auch etwas Demütigendes an sich. Sie fühlte sich als Objekt der Wohltätigkeit und damit auf einer Stufe mit Menschen wie dem kleinen hungrigen Straßendieb von vorhin. Unerfreulicher Gedanke – aber war sie denn wirklich noch etwas Besseres als dieser Kleine?

„Helen, hörst du mir eigentlich zu?“

Sie fuhr zusammen. „Verzeihung, Mylady. Die Situation ist noch so neu für mich. Was wollten Sie mir sagen?“

„Nur, dass wir jetzt zu Madame Lafleur hineingehen. Mut gefasst, mein Kind!“

Tatsächlich schämte sich Helen in dem vornehmen Atelier für ihr schäbiges Kleid, ihre fadenscheinige Unterwäsche und den nicht vorhandenen Haarschnitt. Jedes Dienstmädchen war ja besser ausgestattet! Madame Lafleur – eine der wenigen Schneiderinnen, die wirklich aus Frankreich stammte – ging aber gewandt darüber hinweg, suchte gemeinsam mit Lady Brincknell passende Wäsche im Dutzend aus und ließ dann Kleider präsentieren, bis Helen ganz schwindelig wurde. Sie konnte nur noch schwächlich zustimmen, als Tageskleider in Lavendelblau, Hellblau, Weiß und Grün gestreift, Rosa und Creme und Abendroben in Silber, Kupfer, Zartblau und einem so kalten Rosé, dass es fast wie blasse Veilchenfarbe wirkte, ausgewählt und ihr anprobiert wurden.

„Mademoiselle hat eine ganz besonders hübsche Figur“, lobte Madame Lafleur. „Das wird sicher ein hervorragendes début.“

Helen öffnete schon den Mund, um zu widersprechen, aber ihre Arbeitgeberin kniff sie warnend in den Arm. „Ganz bestimmt“, sagte diese nach der Attacke, „Lady Helen wird Furore machen, das weiß ich.“

Was sollte das nun? Lady Brincknell würde sie doch nicht wirklich debütieren lassen? Eine Wildfremde, die bei ihr arbeitete und die außerdem für ein Debüt schon etwas zu alt war? Dreiundzwanzig… Debütantinnen waren im Allgemeinen höchstens achtzehn Jahre alt!

Verwirrt ließ sie sich einen eleganten dunkelblauen Mantel und einen Umhang mit einem herrlichen Pelzkragen überziehen und erkannte sich im Spiegel kaum wieder.

Befriedigt ordnete Lady Brincknell an, alles unverzüglich in ihr Stadthaus zu schicken, und zog mit der benommenen Helen weiter zur Putzmacherin.

Auch ein dunkelblauer Strohhut mit Schute und weißem Aufputz, ein kesses blassrosa Käppchen, ein silbernes Haarnetz und eine Pelzkappe wurden nebst Handschuhen in allen Längen und allen passenden Farben auf den Weg in die Mount Street geschickt, außerdem Stiefelchen, leichte Schuhe und Satinslipper für Abendveranstaltungen.

„Vorerst dürfte das genügen“, verkündete die Lady vergnügt und ungebrochen, während Helen trotz ihrer passiven Rolle völlig erschöpft war. „Wir fahren nach Hause und überlegen mit Jenny, was wir mit deinen Haaren anstellen. Und dann schicken wir Jenny noch einmal los, um den Kleinkram zu besorgen – Haarbänder, künstliche Blumen und was man eben noch so braucht.“

„Bitte“, entgegnete Helen mit schwacher Stimme, „keine künstlichen Blumen!“

„Oh?“, machte die Lady.

„Ich möchte gewiss nicht undankbar scheinen, aber künstliche Blumen waren mir immer schon zuwider. Frische Blumen oder gar keine, bitte.“

Das trug ihr einen leichten Schlag mit dem geschlossenen Fächer ein. „Sehr gut, Kindchen. Ach ja, Jenny, zwei Fächer brauchen wir. Schlicht. Einer cremeweiß, einer in einem mittleren Blau. Das dürfte zu dunklem Haar und blauen Augen am besten passen. Wir werden Lady Helen als eine Dame von untadeligem, aber schlichtem Geschmack herausbringen. Nichte Überladenes, keine Eitelkeiten. Gut so, Kindchen.“

 

„Wunderbar, danke sehr, Mylady“, krächzte Helen erschöpft.

„Und wo gehen wir als erstes hin?“, überlegte die Lady voll Tatendrang.

Helen riss die Augen auf. „Noch mehr Einkäufe? Oh bitte, Mylady, ich kann nicht mehr… und Sie haben mir schon so viel geschenkt, ich kann Ihnen das doch nie vergelten!“

Lady Brincknell lachte. „Kindchen, du hast mir schon so viel Vergnügen geschenkt. Kleider auszusuchen für eine junge, schöne Frau ist doch viel amüsanter als mit Madame Lafleur zu überlegen, was ich in meinem Alter noch tragen kann. Immerhin bin ich schon sechzig Jahre alt – aber erzähle das ja nicht weiter!“

Helen lächelte in sich hinein; die Dame sah auch keinen Tag jünger aus als sechzig Jahre, da musste man nichts herumerzählen. „Gewiss nicht, Mylady. Aber kann ich denn sonst gar nichts für Sie tun?“

„Doch, natürlich. Zunächst fahren wir nach Hause und du gönnst dir eine Ruhepause auf deinem Zimmer. Und dann darfst du mir während des Tees das Interessanteste aus der Morning Post vorlesen. Morgen Vormittag sichten wir gemeinsam deine Ausstattung und kontrollieren, ob auch nichts fehlt. Sollten wir noch etwas benötigen, ziehen wir morgen noch einmal los – aber nicht so lange wie heute. Und morgen Abend bin ich eingeladen.“

„Da wünsche ich Ihnen dann viel Vergnügen Mylady.“ Helen verneigte sich leicht auf ihrem Sitz.

„Das wünsche ich dir dann auch, denn du wirst mich natürlich begleiten, Helen – was dachtest du, was alles zu den Aufgaben einer Gesellschafterin gehört?“

„Oh. Ja, wenn Sie das wünschen, begleite ich Sie selbstverständlich gerne. Darf ich fragen, welche Art Einladung das ist? Ich war nämlich noch nie eingeladen. Mein Vater pflegte mit den Nachbarn ja keine derartigen Beziehungen, fürchte ich.“

„Ein ganz harmloser, ruhiger Tanzabend bei Lady Overton. Was haben Sie denn, Kindchen? Sie werden ja ganz blass? Kennen Sie Lady Overton?“

„Nein, nein. Ich kenne in London außer Ihnen, Mylady, und meiner guten Miss Linhart doch überhaupt niemanden. Aber – ich muss dort doch gewiss nicht tanzen? Ich gelte doch als Teil Ihrer Dienerschaft?“

Lady Brincknell legte den Kopf schief und betrachtete ihr Gegenüber nachdenklich. Der Wagen rumpelte um eine Ecke und hielt schließlich an.

„Du kannst nicht tanzen, stimmt´s?“ verkündete die Lady schließlich und machte sich bereit, auszusteigen, als der Schlag geöffnet wurde und ein Diener die Stufen herausklappte und seiner Herrin dann ehrerbietig den Arm reichte.

Helen folgte ihr erleichtert, als letzte stieg Jenny aus, die Helen zuflüsterte: „Das kann man lernen. Mylady wird einen Tanzmeister bestellen und im Handumdrehen wissen Sie, wie es geht.“

„Meinen Sie wirklich?“, flüsterte Helen zurück.

„Ich kenne doch Mylady!“

Nun, das hatte Helen nicht gemeint, aber nun waren sie an den Stufen des Hauses angekommen und Ihre Ladyschaft hatte sich zu ihnen umgedreht. Da ziemte es sich nicht mehr, zu tuscheln.

Helen folgte ihrer Herrin artig in den Salon und nahm gehorsam Platz.

„Du kannst also nicht tanzen“, griff Lady Brincknell ihren letzten Satz wieder auf.

„Ja, Mylady. Ich -“

„Sag nichts, ich weiß schon, dein Vater hat sich mal wieder um nichts gekümmert. Northbury ist in der Gesellschaft durchaus bekannt. Viele Adelige spielen – es gilt ja als sehr schick -, aber nur wenige übertreiben es derartig und vernachlässigen so ihre Pflichten gegen Familie und Besitz. Sag mir, hattest du nicht auch einen Bruder?“

„Das stimmt, Mylady. Lionel. Er war unserem Vater sehr ähnlich und ebenfalls vom Spiel besessen. Eines Tages hat er sich mit jemandem darüber gestritten, ob die Karten gezinkt oder die Würfel beschwert waren – genau weiß ich es nicht – jedenfalls fühlte sich der andere beleidigt und forderte ihn. Er war dann wohl auch der bessere Schütze – oder Lionel hatte von den durchspielten und durchzechten Nächten keine ruhige Hand, jedenfalls hat der andere ihn erschossen. Ich glaube, das hat meinen Vater dann endgültig in die Besessenheit getrieben. Vielleicht verständlich.“

„Findest du, Kindchen?“

„Nun, er hatte keinen Erben mehr – wozu dann das Erbe erhalten?“

„Väter, die sich nicht um ihre Töchter kümmern, waren mir schon immer ein Gräuel“, verkündete Lady Brincknell. „Du hättest Anspruch auf eine anständige Mitgift und ein angemessenes Debüt in der Gesellschaft gehabt. Zwei, drei Saisons – und du wärst jetzt sehr angenehm verheiratet. Aber solche Rabenväter sind nicht allzu selten. Auch deshalb ist es mir ein Bedürfnis, dich angemessen zu präsentieren – von dem Spaß, den mir das ganze Drumherum macht, ganz zu schweigen.“

„Das freut mich natürlich, Mylady, aber bedenken Sie doch – die Kosten!“

„Papperlapapp, Helen, du weißt ja gar nicht, wie wohlhabend ich bin. Das spüre ich gar nicht.“

„Nun ja – aber Sie haben doch bestimmt Verwandte, die Ihnen das übelnehmen? Weil sie finden, dass das Geld doch wohl eher ihnen zugutekommen sollte.“

„Höchstens mein Neffe Neville. Sir Neville Anscott. Ein eher unangenehmer junger Mann. Mein Bruder hatte zunächst zwei Töchter, bevor dann seine zweite Frau endlich einen Sohn zustande gebracht hat. Der Kleine wurde von der Wiege an schandbar verzogen, so dass er heute glaubt, die ganze Welt sei nur zu seinem Vergnügen da. Er missgönnt jedem Menschen Geld, das er selbst gerne hätte. Mach dir nur keine Gedanken darüber!“

Helen seufzte. Diese kurze Pause ermöglichte es Mylady, sich an ihr eigentliches Anliegen zu erinnern: „Du musst schnell tanzen lernen. Wenigstens das Nötigste. Und den Walzer. Du bist nämlich eindeutig zu alt, um dich dem Walzer zu verweigern.“ Sie klingelte und bat den Butler, ihr ihren Sekretär zu schicken.

Einige Momente später verbeugte sich ein bebrillter junger Mann, der, sobald er sich wieder aufgerichtet hatte, Helen einen misstrauischen Blick zuwarf.

„Mr. Snettham, bitte bestellen Sie Monsieur Caron für morgen Vormittag hierher, sagen wir, um elf. Und Sie werden sich morgen bitte zur gleichen Zeit zur Verfügung halten, um Lady Helen als Übungspartner zu dienen.“

„Ich bitte um Verzeihung, Mylady?“

„Sie haben mich schon verstanden, und dabei bricht Ihnen auch kein Zacken aus der Krone.“

Er ließ einen Blick über Helens altes graues Kleid wandern, als sei er nicht ganz sicher, dass er sich da nicht Ungeziefer einfangen würde. Helen hob unmutig den Kopf, worauf er seinen Blick abwandte. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Ein Sekretär war ja wohl auch nichts Besseres als eine Gouvernante!

„Ich werde M. Caron für morgen elf Uhr bestellen, Mylady“, antwortete er artig. „Haben Sie noch weitere Befehle?“

„Nein, Mr. Snettham, vielen Dank.“

„Ich glaube, er ist mit meiner Anwesenheit nicht einverstanden, Mylady“, meinte Helen bedrückt. Das würde ihre Anwesenheit in diesem Hause nicht gerade erleichtern.

„Unsinn, Kindchen. Er hat hier doch gar nichts zu sagen. Ich glaube, ihm gefiel nur dieses Kleid nicht. Mir auch nicht, wenn ich es mir recht betrachte.“

„Mir ebenso wenig“, gab Helen zu. „Von meinen vier Kleidern war es noch das präsentabelste. Aber ich werde es mit Vergnügen waschen und den Armen spenden und eins der neuen Gewänder anziehen.“

„Am besten gleich. Jenny und die Mädchen sollen dir ein Bad richten, Jenny wird dir auch die Haare waschen und sie modisch schneiden. Und dann ziehst du bitte das Lavendelfarbene an. Im Lauf der Zeit lassen wir sicher auch einiges für dich anfertigen, aber vorerst bin ich recht froh, dass dir so viel Fertiges wie angegossen gepasst hat. Hinauf mit dir!“

Helen entfloh, halb erleichtert, halb verschreckt.

In ihrem Schlafzimmer hatte Jenny bereits die zauberhaften Kreationen von Madame Lafleur aufgehängt und zurechtgezupft und alles Zubehör auf der Kommode aufgereiht. Vor dem Kaminfeuer wurde eine Wanne aufgestellt und mehrere Zimmermädchen traten mit Kannen voll heißen Wassers an, während Jenny selbst Seife, Bürste und Handtücher bereitlegte.

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