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Die Dritte Edle Wahrheit:

Das Aufhören

Allmähliches Aufhören

Die Hungergefühle verursachen Leiden, deshalb ist es nur logisch, dass das Leiden abnimmt, wenn der Hunger abnimmt. In seiner ersten Lehrrede sagte der Buddha:

Was ist die Edle Wahrheit vom Aufhören des Leidens? Das restlose Verblassen und Aufhören, die Aufgabe, Verwerfung, das Freigeben und Ablegen dieses Hungers.19

Das ist eine sehr kühne Aussage. Angesichts der mächtigen biologischen und psychologischen Basis dieses Hungers ist es radikal, ein restloses Aufhören und Ablegen als Endpunkt zu benennen. Wir stellen jedoch fest, dass der Buddha auch vom Verblassen des Hungers spricht, seinem Abnehmen. Das ist eine Aussage, die wir unmittelbar auf unsere persönliche Erfahrung beziehen können.

Wie wäre es wohl, mit weniger Hunger zu leben? Wie wäre es wohl, nicht mehr aus dieser zwanghaften Froschperspektive, die unsere Gedanken ausfüllt und unsere Emotionen verklumpt, die Welt zu sehen und andere Menschen zu treffen? Es ist vielleicht einfacher, als es zunächst scheint. Wir müssen nicht versuchen, glücklich zu sein, Mitgefühl zu kultivieren, irgendeine religiöse Richtung einzuschlagen oder andere Menschen zu meiden. Sprechen wir einfach von der Ruhe nach dem Sturm.

Normalerweise stellen wir uns unter Glück nicht vor, dass etwas endet, sondern dass irgendetwas Gutes passiert oder dass wir bekommen, was wir wollen. Wenn wir jedoch unser Leben beobachten und sorgfältig über das nachdenken, was wir sehen, dann wird klar, dass die Sehnsüchte, Getriebenheiten, Wünsche und Begehrlichkeiten, die wir mit uns herumtragen, uns ganz schön verkrampft machen – und dass das Nachlassen dieser Verkrampfung, wie und wann es auch immer eintritt, ziemlich gut tut.

Unser normales Kriterium des Glücks ist die momentane Befriedigung unserer Hungergefühle oder das Nachlassen eines unmittelbaren Schmerzes, aber diese Befriedigungen halten nicht an. Sinnliche Gelüste zeigen das ziemlich deutlich. Wenn wir etwas Leckeres essen, bedeutet das, dass unser Hunger für immer gestillt ist und wir nie wieder auf die Suche nach leckerem Essen gehen werden? Natürlich nicht. Unser Hunger nach allem, was gut schmeckt, wächst eher. Wenn wir uns nach einem großen Haus oder eleganter Kleidung sehnen, bringt es uns nur momentane Zufriedenheit, wenn wir diese Dinge bekommen. Zwischenmenschlicher Hunger ist nicht anders; seine Befriedigung ist genauso fragwürdig. Wünsche und Ängste arbeiten im Tandem, um uns aus dem Gleichgewicht zu bringen. Der zwischenmenschliche Wunsch nach Lustgewinn treibt uns, Befriedigung bei anderen zu suchen; die zwischenmenschliche Angst vor der Einsamkeit lauert hinter jedem Schritt. Wenn wir nach Aufmerksamkeit lechzen, sind wir glücklich, wenn andere Leute uns wegen unserer Leistungen hofieren oder über unsere Witze lachen. Bald suchen wir noch mehr Aufmerksamkeit, um ein Loch zu füllen, das nicht gefüllt werden kann. Wenn wir uns nach Flucht sehnen, wird unser Glück die Form erfolgreich realisierter Anonymität annehmen – oder zumindest die einer hinter uns zufriedenstellend ins Schloss fallenden Wohnungstür. Aber der Nebel der Angst dringt unter der Tür hindurch, die uns abschirmen soll.

Jede Befriedigung des Hungers ist zeitlich beschränkt und zerbrechlich. Sie tut nichts, um die tiefsitzenden Zwänge zu beenden, und wenn die Befriedigungen vorüber sind, suchen wir, immer hungrig, erneut nach ihnen. Wir suchen mehr sinnliche Befriedigung, mehr Aufmerksamkeit, noch vollständigere Sicherheit – in einer Welt, in der alles ungewiss ist. Das Traurige ist nicht, dass diese Befriedigungen vergänglich sind; das Traurige ist, dass wir fast immer verkrampft sind, wenn wir sie verfolgen oder festhalten. Und dieser Zustand gilt als Glück. Wie würde ein höheres Glück aussehen? Und wäre es einfach nur eine weitere Form des Hungers, wenn wir unser Leben an solch einem Glück orientieren würden?

Eine zentrale Dynamik bei diesem Ende des Leidens, die der Buddha sehr oft beschrieben hat, ist die, dass es sich um ein schrittweises Aufhören des Hungers handelt. Schrittweise bezeichnet einen stetigen Wandel in unserem Herz-Geist. Jeder Moment des Loslassens ist ein Moment der Freiheit und konditioniert den nächsten Moment; friedliche Momente werden häufiger, während hungrige und angespannte seltener werden. Es kann auch plötzliche Veränderungen geben, Momente der Lösung, aber das sind die reifen Früchte der Konditionierung. Solche Veränderungen sollte man wie Geschenke empfangen, denn sie passieren nicht durch uns – wir sorgen nur für die richtigen Bedingungen.

Aufhören bezeichnet die Verringerung toxischer Qualitäten in unserem Leben: vor allem die Verringerung des Hungers nach Lustgewinn, Dasein und Nicht-Sein und die Verminderung der unheilsamen Wurzeln von Gier, Hass und Verblendung, die sich aus diesem Hunger speisen. Bei diesem Aufhören vermindert sich auch die Unwissenheit über die Natur von Identifikation und Unbeständigkeit. In dem Maße, wie diese Gifte nachlassen, steigt die Lebensqualität. Zum Weg des Nachlassens gehört auch die Pflege gewisser Qualitäten wie klare Bewusstheit, Mitgefühl, kluge Aufmerksamkeit sowie Einsicht. Aber grundsätzlich liegt der Schwerpunkt auf dem Nachlassen. Übrig bleiben Gelöstheit, Gutherzigkeit, Weisheit und Freude.

Das aus Frieden entstandene Glück, wenn der Hunger abflaut wie eine letzte Welle auf dem spiegelglatten Meer im Sommer, ist etwas Herrliches und Stabiles. Im Moment des Friedens gibt es kein Festklammern und deshalb keine Anspannung. Wir klammern uns auch nicht am Frieden fest. Der Geist ist dehnbar, das Herz empfänglich. Es kann sein, dass wir sehr viel Energie erleben oder die Umstände äußerst dynamisch sind, aber mit unserer Anpassungsfähigkeit und Geschicklichkeit bewältigen wir diese Situationen mit Leichtigkeit.

Der Frieden, der aus dem Abflauen des Hungers kommt, kann etwas Persönliches und Innerliches sein; er kann auch Offenheit für andere und für die Gemeinsamkeit mit ihnen beinhalten. Wie wir noch sehen werden, ist diese Gemeinsamkeit nicht mit dem Makel des Heißhungers oder kalter Gleichgültigkeit behaftet. Es ist Mitgefühl, das mit Gleichmut abgerundet ist, und es steckt große Freude darin. Wenn wir diese Art von Freude einmal erlebt haben – Glück ohne Anspannung –, wird sie für uns zu einem Leuchtturm, wenn wir uns wieder einmal auf dem Ozean des Verlangens wiederfinden. Wir erkennen, dass diese einfache Freude uns sofort zur Verfügung steht, wenn wir den Klammergriff lösen. Wir leugnen nicht die menschliche Tatsache eines Körpers und eines Herzens mit Bedürfnissen, aber wir bleiben offen für waches Da-Sein und Begegnung.

Denken Sie an einen Moment, als Sie friedlich und glücklich waren. Vielleicht war es bei einem Spaziergang im Park, beim ruhigen Zusammensitzen mit einem Freund, oder gegen Ende eines Urlaubs. Wie fühlte es sich an, in der Gelassenheit Freude zu finden statt in der Stimulation? Ist diese Gelassenheit jetzt zugänglich?

Die drei Arten des Hungers lassen nach

Jede der drei Arten des Hungers – nach Lustgewinn, Dasein und Nicht-Sein – bringt eine spezielle Variante des Leidens in unser Leben. Deshalb stellen wir, während jeder Hunger nachlässt, eine Veränderung in der zugehörigen Gefühlslage fest, während unsere Knoten sich lösen. Schmerz jedoch ist der ständige Begleiter aller Arten des Hungers, nach denen wir greifen, und dies bindet sie in die gemeinsame Erfahrung des Leidens ein. Aus diesem Grund zeigen sich bei der schrittweisen Verringerung der Hungergefühle viele Gemeinsamkeiten, egal, um welche Spielart es sich handelt.

Jeder Hunger erzeugt Anspannung; und immer bedeutet die Verringerung eines Hungers die Zunahme von Gelöstheit. Jeder Hunger trennt uns von anderen Menschen, weil jeder Hunger uns dazu bringt, andere als Wesen wahrzunehmen, die uns Befriedigung bringen könnten, und nicht als die, die sie an und für sich sind. Das Nachlassen jedes Hungers vermindert Getrenntheitsgefühle und bringt so größere Offenheit für andere. Diese Offenheit führt zu gemeinschaftlicher Verbundenheit, die auf unserer gemeinsamen Menschlichkeit beruht. Wenn irgendein Hunger nachlässt, wächst an seiner Stelle Mitgefühl. Dieses natürliche Entstehen von Fürsorge ist die entscheidende Dynamik, die den gesamten Prozess des Erwachens humanisiert und erdet.

Mit jedem Hunger geht eine bestimmte Angst einher. Das Verlangen nach Lustgewinn hat als Dienstmädchen die Angst vor Schmerz, der Hunger nach dem Gesehen-Werden wird von der Angst vor der Unsichtbarkeit überschattet, und der Hunger nach Flucht bringt die Angst vor der Nähe und dem Sich-Einlassen mit sich. An der Wurzel all dieser Ängste steckt ein Schauder vor der Leere, die Sorge, dass dieses Selbst – persönlich oder sozial – in einem kalten Nichts sterben wird. Dieser Schauder wird normalerweise unter der Oberfläche des Bewusstseins gehalten und ist nur an seinen Oberflächensymptomen zu erkennen: Man vermeidet es, allein zu sein, hat Angst vor Kritik, zieht sich aus einer engen Beziehung zurück. In allen drei Fällen bedeutet das Nachlassen eines Hungers, dass die mit ihm verbundene Angst nachlässt, und das Nachlassen einer Angst bringt das Nachlassen des mit ihr verbundenen Hungers mit sich. Der Grund ist, dass der Hunger und die Angst zwei Seiten einer Medaille sind. Und wenn der meditative Geist die grundlegende Angst sieht und sie annimmt, beginnt sie abzunehmen – und aller Hunger löst sich mit ihr auf. Wenn dieses Nachlassen eintritt, hören Beziehungen auf, von Sehnsucht und Verzweiflung getrieben zu sein. Die Qual des hungernden Lebens wird besänftigt.

 

Weniger Anspannung bedeutet mehr Gelöstheit. Weniger Getrenntheit bedeutet mehr Gemeinschaft und Mitgefühl. Weniger Angst heißt, dass wir fließend und ohne Abwehr am Leben teilnehmen können, präsenter in unserer echten Erfahrung, zugänglicher füreinander. Der Körper entspannt sich, das Denken beruhigt sich, und so sind wir auf natürliche Weise glücklich. Weniger verwirrende und ablenkende Emotionen bedeuten auch einen klareren Geist, der die Welt weniger verzerrt sieht. Das Aufhören des Hungers bereitet den Boden für das Auftauchen von Weisheit.

Das Nachlassen jedes Hungers lässt diese üblichen Veränderungen auf verschiedene Weise zutage treten. Der Hunger nach zwischenmenschlichem Lustgewinn erzeugt, wie der Hunger nach jedem Lustobjekt, ein Leben voll nervenaufreibender Anspannung. Das Nachlassen der manischen Suche nach Stimulation ist wie das Gefühl, das man hat, wenn man nicht mehr gekitzelt wird. Das Lachen war verkrampft, der Körper war verkrampft, und nun kann der Körper sich entspannen. Das Denken entspannt sich, weil es die Landschaft nicht mehr nach sozialen Bonbons absucht, nach menschlichen Desserts und Schokotrüffeln. Nicht länger irregeführt von selektiven Filtern, werden wir zugänglich für den Schmerz anderer Menschen und werden wach für die Alltäglichkeiten in ihrem und unserem Leben. Wenn wir nicht nach Entertainment suchen, steht uns eine neue Art sozialer Kreativität offen. Neue Wege zeichnen sich ab, auf andere zuzugehen, die auf Abgeklärtheit und Präsenz beruhen.

Die Angst, die den Hunger nach Lustgewinn begleitet, beinhaltet die Angst vor Schmerz, Einsamkeit und Ablehnung. Diese machen einen bereits unangenehmen Hunger noch drängender. Die Stimulation, nach der wir so verzweifelt suchen, ist wie eine dünne Atmosphäre, die uns notdürftig vor einem kalten, leeren Universum abschirmt. Aufhören heißt hier, dieses verzweifelte Wegrennen vor der Einsamkeit aufzugeben. Wenn die Anspannung des Festklammerns nachlässt und der Körper-Geist friedlicher wird, werden Beziehungen nicht mehr von der nagenden Angst vor Einsamkeit und Not getrieben. Unsere natürliche Anmut tritt zutage.

Freiheit vom Hunger nach Gesehen-Werden hat eine ähnliche Dynamik, aber ihre eigenen spezifischen Qualitäten. In dem Moment, in dem wir die aus Liebesarmut geborene Jagd nach Anerkennung aufgeben, ordnen wir unser Leben nicht mehr Strategien unter, wie wir gesehen und bewundert werden können. Wir fühlen uns bei uns selbst wohl, ob unsere Bemühungen und unsere Persönlichkeit nun anerkannt werden oder nicht. Die Energie, die wir in die Aufrechterhaltung unserer Sichtbarkeit haben fließen lassen, steht für andere Zwecke zur Verfügung; die Aufmerksamkeit, die wir den Bedürfnissen des Ego überreichlich gewidmet haben, kann in Form von Anerkennung und Fürsorge großzügig anderen gewidmet werden. Die Menschen beginnen uns zu vertrauen, weil sie wissen, dass wir auf eine nicht berechnende Weise für sie da sind. Freude und Schönheit dessen, was wir tun, motivieren uns zu Hause und bei der Arbeit, nicht aber die eventuellen Belohnungen für das Ego. Wenn wir hervorragende Sportler oder Tänzer sind, dann deshalb, weil sich darin Wege öffnen, voll und ganz zu leben. Schönheit, Können, Intelligenz und sogar Höflichkeit sind nicht länger Mittel, um Aufmerksamkeit oder Bewunderung zu ernten, Währungen, mit denen man Respekt kauft. Sie sind die natürlichen Talente unseres Wesens, an denen wir uns freuen und die wir teilen können. In dem Maße, wie wir den Hunger nach Gesehen-Werden aufgeben – die treibende Kraft hinter unserer Unsicherheit –, können wir mit dem Gewinn und Verlust, mit dem Lob und Tadel, die zum zwischenmenschlichen Leben gehören, in Frieden leben.

Das Nachlassen der Angst vor der Unsichtbarkeit – die Kehrseite des Hungers nach Gesehen-Werden – ist im Grunde ein Nachlassen der Angst vor der Leere. Vorher waren wir immer auf der Hut vor möglichen Gefahren für das Ego, aber nun sind wir buchstäblich „zu-frieden“, im Frieden mit uns, stehen mit beiden Beinen auf der Erde. Unsere Angst vor der Unsichtbarkeit hat nachgelassen. Da wir nicht mehr besessen davon sind, das Selbst aufzubauen, können wir die Möglichkeit zulassen, dass es brüchig ist, sogar unwirklich. Jetzt können wir auf eine Art bescheiden sein, die uns vorher nicht möglich war. Wir können anderen begegnen, ohne über sie zu urteilen und uns über sie zu stellen. Beziehungen können nun echte Kameradschaft sein, geerdet in furchtloser Freiheit.

Wenn der Hunger nach Gesehen-Werden etwas Manisches hat, so hat der Hunger, sich zu verstecken, etwas Depressives. Gefühle der Angst, Unfähigkeit und Minderwertigkeit engen uns ein und sorgen dafür, dass wir auf einem sicheren, schmalen Pfad bleiben, sozial wie beruflich. Der Hunger, verschwinden zu wollen, sitzt als gigantischer Krampf im Körper, zehrt an unserem Elan und unserem Engagement. Zwischenmenschliche und soziale Angst abzuschütteln ist wie eine schwere Wolldecke vom Kopf herunterzunehmen. Der Drang, vor dem Leben zu fliehen, vor Menschen zu fliehen, vor uns selbst zu fliehen, hat für eine brillante Phalanx von Abwehrstrategien und ein Labyrinth von Fluchtwegen gesorgt; leicht und frei bleiben wir nach dem Nachlassen dieses Hungers zurück. Kein ständiges Trommelfeuer der Selbstkritik zermürbt mehr unsere Kräfte. Die Welt wird lebendig. Jede Sinneswahrnehmung entfaltet das volle Spektrum ihrer natürlichen Kapazität. Das Wasser des Bergbaches singt, und das Licht über den Hügeln ist nicht mehr grau und trübe, sondern von leuchtender Schärfe.

Das Nachlassen der Angst vor dem Gesehen-Werden stellt uns furchtlos mitten hinein in die Welt. Unsere Beziehungen zu anderen Menschen werden transformiert. Wenn wir uns nicht mehr in unsere gewohnheitsmäßige Unfähigkeit und den Drang zu fliehen verkriechen, können wir anderen Menschen auf Augenhöhe begegnen. Wir werden gesehen und auch wir können andere jetzt klarer sehen. Wir sind zugänglich für ihren Schmerz und ihre Freude, sind präsent und fähig, unsere Sympathie zu verschenken. Da wir nicht mit einem Bein schon auf der Flucht sind, können wir an der Welt teilhaben und anderen in Stabilität und Selbstvertrauen begegnen. Was wir aus unserer Verzagtheit und Angst gelernt haben, erlaubt uns nun, für andere sensibel zu sein, die noch zittern. Während die Angst vor dem Gesehen-Werden uns dazu trieb, in Fernsehen, Überstunden, Drogen oder Isolation zu flüchten, enthüllt die Aufhebung der Angst unsere angeborene Gemeinschafts-Energie. Wir erleben nicht einen Drang zu sein, sondern die Bereitschaft zu sein. Wir gehen nicht aus Hunger auf andere zu, sondern aus der vollen Lebendigkeit des sozialen Wesens heraus, das wir sind.

Das Nachlassen eines Hungers – jedes Hungers – befreit uns von der Enge der Angst. Das soziale Leben wird zur mitfühlenden Begegnung statt dem Versuch, angenehme Stimulation zu bekommen, ein Image aufrechtzuerhalten oder dem Blick von anderen auszuweichen. Es gibt weniger Zündstoff für verletzendes oder irrationales Verhalten. Güte und Fürsorge treten aus ihrer finsteren Tarnung ans Licht. Friede macht „zu-frieden“, Klarheit stellt sich ein, und das Glück ist häufiger zu Gast. Wir sehen, dass es zu einem Leben in der Qual ständiger Anspannung eine Alternative gibt. Da wir nicht mehr besessen sind von unserem Verlangen nach Vergnügungen, nicht mehr nach Anerkennung jagen und uns nicht mehr vor dem Dasein verkriechen, tritt der ausgeglichene Geist der Weisheit und des Mitgefühls still zutage.

Erinnern Sie sich an eine Zeit, in der Sie wegen eines zwischenmenschlichen Hungers besonders angespannt waren. Spüren Sie diese Anspannung, dieses Verlangen, diese Angst jetzt auch? Wenn nicht, nehmen Sie sich einen Moment Zeit und freuen Sie sich über die Gelöstheit des Nicht-Hungers.

Verbringen Sie Zeit mit jemandem, bei dem Sie sich wohlfühlen. Sie müssen diesem Menschen nichts offenbaren, aber spüren Sie, wie Ihr emotionales Wohlbefinden damit zusammenhängt, dass Sie keine Angst vor einer Bloßstellung haben.

Gier, Hass und Verblendung nehmen ab

Während das Nachlassen von jeder der drei Arten des Hungers sich auf einzigartige Weise entfaltet, aber zu einer gemeinsamen Qualität von Gelöstheit, Klarheit und Mitgefühl führt, führt das Nachlassen von Gier, Hass und Verblendung zu Potentialen im Herz-Geist, die klarer umrissen sind. Ihre Mechanismen, ihr Nachlassen und die Möglichkeit ihrer völligen Abwesenheit werden klarer, wenn wir uns anschauen, was der Buddha über diese Wurzeln und ihre Gegenstücke sagte.

Der Buddha benutzte das Wort lobha, wenn er von der Wurzel sprach, die wir als Gier bezeichnen, und für die entsprechende heilsame Wurzel benutzte er das Wort alobha. Das a-ist eine negative Vorsilbe. Damit sprach der Buddha nicht über eine positive Qualität, sondern über die Abwesenheit der negativen Qualität – also Nicht-Gier. Diese negative Definition ist effizient, leicht zu verstehen und weniger anfällig für Missverständnisse als eine positive Definition. Aber sie ist auch für das Verständnis unserer Praxis wichtig. Sie bedeutet, dass in der schlichten Abwesenheit von Gier – der Abwesenheit des An-sich-Ziehens und Haltens – im Geist heilsame Gedanken auftauchen. Wenn man dagegen versuchen würde, das eigene Denken beispielsweise im Hinblick auf Großzügigkeit zu beurteilen, würde man vielleicht grübeln: „Bin ich großzügig genug?“ oder „Ist es die richtige Art von Großzügigkeit?“ Aber wenn man weiß, dass das eigene Denken in einem bestimmten Moment einfach nur frei von Gier ist, dann reicht das. Der Rest, die Manifestation heilsamer Dinge, hängt von den Umständen ab.

Nicht-Gier heißt nicht, dass es für den Rest des Lebens keine gierigen oder lüsternen Gedanken mehr gibt. Es bezieht sich nur auf den jeweils gegenwärtigen Moment mentaler Aktivität, auf die im Moment entstehenden Gedanken und Emotionen. Auf natürliche Weise werden die Handlungen, die sich aus dieser mentalen Aktivität ergeben, heilsam sein und diese Qualität der Nicht-Gier spiegeln. Aber das Denken ist unglaublich flink und schon im nächsten Moment können die Gedanken wieder in Gier oder Aversion wurzeln.

Ich habe gelernt, diesen Moment der Nicht-Gier als Potential zu verstehen. Das Denken ist völlig frei von jedem Zerren oder Festhalten an irgendeinem Objekt – irgendeinem Menschen, Besitz, Wissen, egal was. Die Gedanken sind einfach frei von jedem egoistischen Wollen. Wenn dieses Potentialfeld vom Bedürfnis irgendeines anderen Wesens berührt wird, dann manifestiert sich dieses nichtgierige Potential als aktive Kraft der Großzügigkeit – auf Pâli dâna. Ganz natürlich ergeben sich aus dem Herz-Geist, frei von der Wurzel der Gier, großzügige Gedanken und Handlungen.

Das lässt sich mit einem Gedankenexperiment ganz leicht illustrieren. Wir fangen damit an, dass wir an ein Objekt denken, das in uns Hab- und Besitzgier auslöst. Es sollte etwas sein, das wir hoch schätzen, aber nicht als völlig unverzichtbar für unser Glück betrachten. Nun können wir uns vielleicht eine Situation vorstellen, in der diese Sache für uns nutzlos wäre, vielleicht sogar eine Last. Vielleicht stellen wir uns vor, wir wären auf dem Weg zu einem Kloster, einem kleinen Häuschen oder einer einsamen Insel, um dort ein einfaches, schlichtes, zufriedenes Leben zu führen. Nun taucht in unserem Leben jemand auf, der genau dieses Objekt braucht. Wenn wir es dem/der Betreffenden schenken, wird er oder sie glücklicher, geborgener, zufriedener, freigebiger und alles Mögliche sein. Schenken wir es her? Denken Sie daran, die veränderten Umstände haben unsere Gier gelockert. Fließt nun das Geschenk?

Ich habe diese Frage zahllosen Menschen gestellt, und außer in dem Fall, dass ursprünglich etwas zu Kostbares ausgesucht wurde, lautete die universale Antwort: „Ja, ich kann das dem, der es braucht, mit Freuden schenken.“ Das ist das aktive Prinzip der Großzügigkeit, das auf natürliche Weise in dem von der Nicht-Gier geschaffenen Potential entsteht. In dem Maße, wie die Nicht-Gier umfassender wird, sind wir in der Lage, freigebig auch das zu verschenken, was uns teuer ist.

Die Auswirkungen zwischenmenschlicher Nicht-Gier sind schön. Sogar in einer nur momentanen Abwesenheit von Zerren und Festhalten werden die Beziehungen nicht nur zwischen zwei Menschen, sondern auch in Familien und Gemeinschaften von Großzügigkeit durchdrungen. Die Menschen schenken leichter etwas von sich. Im Geiste der Nicht-Gier entstehen Eifersucht und Neid nicht, auch kein manipulatives Verhalten. Die Menschen lassen sich die Freiheit, zu sein, was sie sind, nicht eingezwängt in das Korsett egoistischer Wünsche. In dem Maße, wie Momente der Nicht-Gier häufiger werden, werden Gelöstheit und Großzügigkeit der Normalfall.

Nicht-Aversion, adosa, ist die heilsame Wurzel, die mit dosa korrespondiert, der Wurzel von Aversion oder Hass. Der Geist, der von Aversion frei ist, erzeugt in diesem Moment Gedanken und Handlungen, denen Wegschieben, negatives Urteilen, Angst, ja auch nur der Hauch von Abneigung völlig fehlt. Da ist einfache, vollständige Nicht-Aversion. Wie bei Gier und Großzügigkeit definiert sich die Grundlage über die Abwesenheit der negativen Eigenschaft nicht über die Anwesenheit einer positiven Qualität wie etwa Empfänglichkeit oder Freundlichkeit; wieder schützt die Schlichtheit dieser Definition unsere Praxis vor Verurteilung oder Verzerrung.

 

Ein Geist der Nicht-Aversion ist in einem Zustand großen Potentials. Der Geist, der von Aversion völlig frei ist, blüht auf im aktiven Prinzip der liebevollen Güte oder mettâ, wenn er von einem anderen berührt wird. Am besten lässt sich das verstehen, wenn wir die Totalität der Nicht-Aversion betrachten: die absolute Abwesenheit jedweden Wegschiebens von irgendetwas. Das ist kein permanenter Zustand, nur ein Moment des Denkens – ein winziger Zeitausschnitt, aus dem der momentane Gedanke aufblüht. Einen Moment lang ist kein Widerwille aktiv. Das ist der Ort, wo das große Potential der Liebe liegt, des Herz-Geistes, der alle Phänomene bedingungslos annimmt. Wenn solch ein Feld von einem anderen berührt wird, blüht liebevolle Güte auf natürliche Weise auf. Das ist keine sentimentale oder süßliche Güte oder Liebe. Es ist die natürliche und schlichte Reaktion eines empfänglichen Herzens.

Folgende Kontemplationsübung zeigt vielleicht, wie in der völligen Abwesenheit jeder Aversion ganz natürlich Liebe entsteht. Nehmen Sie sich zu Beginn Zeit, um sich reine und tiefe Empfänglichkeit vorzustellen und zu entwickeln. Ein spezielles Objekt kann dabei helfen, zum Beispiel die Berührung eines Kleidungsstückes auf der Haut oder vielleicht ein Baum oder ein anderes neutrales Objekt. Es ist nicht nötig, sich auf Güte zu konzentrieren, nur in diesem Moment auf die Abwesenheit jeden Widerstands gegen das völlige Annehmen dieses Objekts. Wir lassen das Objekt eine unverteidigte Bewusstheit berühren. Wenn wir so weit sind, können wir jetzt vielleicht an jemanden denken, zu dem wir eine einigermaßen angenehme Beziehung haben. Können wir es zulassen, dass dieser Mensch unser Herz, unsere Bewusstheit ganz berührt, ohne Zurückschrecken oder Aversion, so, wie wir es mit dem Baum gemacht haben? Wenn irgendwo Angst vor Nähe existiert, werden wir nun den Widerstand sehen, den diese Angst erzeugt und wie er die Qualität von Aversion besitzt. Aber wenn jedem Wegschieben gütig und akzeptierend begegnet wird, wird auch die Aversion sich auflösen. Nun können wir vielleicht feststellen, dass spontan Güte aufsteigt, wenn dieses Feld völligen Annehmens und Zulassens von einem anderen berührt wird. Das ist die Natur eines Herz-Geistes ohne Aversion: Wenn er berührt wird, ist Liebe da. Liebe ist die spontane Reaktion des nicht-aversiven Herzens. Anders gesagt: Bewusstheit ist von Natur aus liebevoll.

Wenn sich in einer Beziehung Momente der Nicht-Aversion ereignen, manifestieren sich gelöstes Wohlbefinden und liebevolle Güte. Sogar, wenn der Mensch, dem wir in diesem Moment begegnen, unser Feind gewesen ist, werden sich in diesem Moment der Nicht-Aversion Hass oder Abscheu nicht manifestieren. Beziehungen, die von Nicht-Aversion berührt worden sind, spiegeln Harmonie und Freude wider. Sie zeigen Leichtigkeit, Gelöstheit und Authentizität ohne Angst. Momente der Nicht-Aversion und aus liebevoller Güte entstandene Gedanken verschmelzen zu einem stimmigen, fürsorglichen persönlichen Charakter und Verhalten.

Nicht-Verblendung, oder amoha, ist die Wurzel, die entsteht, wenn der Geist von schwammiger Gleichgültigkeit frei ist. Es ist einfacher, Nicht-Verblendung zu verstehen, wenn wir uns das Wesen von Verblendung in Erinnerung rufen. Verblendung oder moha entsteht, wenn das Denken nicht zu einer Reaktion der Gier oder des Hasses stimuliert wird, aber durch den Sog der Hungergefühle trotzdem in Besessenheit und Angst befangen bleibt. In allen Momenten der Gier und Aversion gibt es ebenfalls ein Element der Verblendung, weil das Objekt unseres heranziehenden oder ablehnenden Denkens durch Verwirrung verschleiert ist und wir weder die Sache, so wie sie ist, kennen, noch wie unsere Reaktionen darauf wirklich sind. Das Resultat dieser wolkigen Anspannung ist ein Sumpf konfuser Unaufmerksamkeit. Menschen werden ignoriert, Worte und Handlungen falsch interpretiert, Dinge entgehen einem; wir ignorieren komplette Ereignisse, unsere eigenen Emotionen und die Feinheiten unseres Erlebens. Gedanken, die aus der Wurzel der Verblendung erwachsen, spiegeln diese schlechte Informationsaufnahme, konditionierte Berechenbarkeit und Schwammigkeit wider.

In der Abwesenheit von Gleichgültigkeit, Dumpfheit und Verwirrung ist der Geist einfach für die Dinge, wie sie sind, präsent.20 Es bildet sich ein klares Feld, in dem Objekte sind, was sie sind, Menschen sind, was sie sind, und aus dieser Klarheit entstehen Gedanken und Handlungen. Ein von Verblendung völlig freier Geist ist ein Feld für das Entstehen der aktiven Qualität der Weisheit oder paññâ. Weisheit heißt, die Dinge so zu sehen, wie sie im gegenwärtigen Moment tatsächlich sind. In dem Maße, wie sich mehrfach Momente der Nicht-Verblendung ereignen, bekommt unser Erleben einen klaren, hellen Grundton. Man erfasst die Natur externer Situationen sehr leicht, kennt die Natur des eigenen Geistes gut und sieht ihn klar.

Um das ein wenig zu erforschen, erinnern wir uns vielleicht an einen Moment, in dem wir entspannt waren und trotzdem wach, auf unsere Gedanken und Gefühle wie auch unsere Umgebung feinfühlig konzentriert und eingestimmt. Einen Moment, in dem wir uns geerdet fühlten und frei von Sehnsucht oder Angst. Vielleicht sind wir draußen in der Natur, vielleicht sind wir einfach nur wach und präsent mit einem Freund zusammen. Das ist ein Moment, in dem wir außergewöhnlich klar sehen und hören. Jede Empfindung, jedes Wort, das unser Freund sagt, wird aufgenommen, voll erlebt und losgelassen. Im Moment der Nicht-Verblendung nehmen wir den anderen – Mensch, Baum, was auch immer –deutlich wahr, und aus dieser Bereitschaft heraus, diesem Potential, wird die Weisheits-Qualität im Geist aktiviert. Wir nehmen den Baum deutlich wahr und unsere Beziehung zu ihm und der gesamten Natur. Der Stoff, aus dem die Menschlichkeit unseres Freundes gemacht ist, ist uns klar. Unser Wissen ist vollständig, einfach und direkt.

Zwischenmenschliche Nicht-Verblendung und ihr aktiver Ausdruck in Form zwischenmenschlicher Weisheit manifestieren sich in Beziehungen als Mitgefühl, geschickter Umgang und Wahrnehmungsfähigkeit. Einen Moment lang ist der Geist wolkenlos und fähig, die eigenen Emotionen und Motive und die von anderen zu erfassen. Man sieht sich selbst, die anderen und die soziale Situation, wie sie sind. Man verliert sich nicht in Konzepten und Konstrukten. Die Handlungen, Ausdrucksformen und Entscheidungen, die sich in solchen Momenten ergeben, tendieren zu einer Fürsorglichkeit, die dennoch klar, liebevoll und ungebunden ist, scharfsichtig und doch gütig, umfassend und doch einfach. In dem Maße, wie sich mehr Momente der Nicht-Verblendung ereignen, verschmelzen sie zu einem Lebensstil von größerer Klarsicht und fördern ein nachhaltig weises Sprechen und Handeln. Der Herz-Geist ruht oft genug in der Nicht-Verblendung, so dass Weisheit aus einer zeitweiligen, fast zufälligen Sache zu einer beständigen Qualität unseres Lebens werden kann. In der Gemeinschaft mit anderen manifestiert sich zwischenmenschliche Weisheit als Besonnenheit, Friede und Verstehen einer jeweils gegebenen Sachlage.

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