Einsichts-Dialog

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Wenn man uns ständig sagt, dass wir nicht gut genug sind, wird der latente und konditionierte Fluchttrieb des Selbst stärker. Wir fühlen uns unsicher und beklommen, und weil die Quelle unseres Schmerzes verdrängt wird, wissen wir vielleicht nicht, warum wir uns unsicher und wertlos fühlen. Wir versuchen diesem Schmerz zu entkommen und tun alles Mögliche, um „auf andere Gedanken zu kommen“. Dadurch führt die innerliche Flucht des Verkriechens vor der Welt zu den äußerlichen Fluchten ins Fernsehen, Schlafen, Essen, in Fantasiewelten, Arbeit, Drogen und eine Art Nebel, in dem wir gar nicht wirklich da sind für unser Erleben. Diese Fluchten werden zu Süchten, die uns mit der Sicherheit des Vergessens bezirzen. Hier sehen wir die Verbindung zwischen Alkoholismus oder Drogensucht und Selbsthass und Minderwertigkeitsgefühlen. Weltweit kann man bei jedem Treffen der Anonymen Alkoholiker die Variationen über Selbsthass und Flucht hören. Eine Teilnehmerin bei einem Einsichts-Dialog-Retreat, die über zwanzig Jahre lang das Zwölf-Schritte-Programm mitgemacht hatte, wurde sich ihres Dranges zu fliehen folgendermaßen bewusst: In der feinfühligen Bewusstheit der zwischenmenschlichen Meditation konnte diese Frau ganz klar die Süße wahrnehmen, die sie mit der Unsichtbarkeit zu verbinden gelernt hatte, ihre Tendenz, „das Nichts romantisch zu finden“ und „das Vergessen verlockend zu machen“. Wir durchschauen unsere Fluchten nicht immer; sie können sozial akzeptierte Formen annehmen wie den Rückzug in einen Kokon aus Meditation, in den Schutz religiöser Rituale oder Überzeugungen oder in die sicheren sozialen Abläufe, die unseren Alltag ausmachen. Zwischenmenschliche Flucht kann als schlichte Introvertiertheit daherkommen oder als regelrechte Sozialangst. Wir flüchten auch in Rollen, in denen sogar die Maske der Geselligkeit als Versteck für alles dienen kann, was wir verbergen wollen. Die Möglichkeiten sind endlos.

Es bringt enorm viel, wenn man klar versteht, wie diese Gefühle der Minderwertigkeit konstruiert werden. Zunächst ist da der sensorische Kontakt mit der Welt: Wir sehen, hören, berühren oder erinnern uns an einen anderen Menschen. Sofort geschieht die Subjekt-Objekt-Spaltung: Wir erleben „hier bin ich, da sind die anderen“. Dann setzt eine tief konditionierte Sichtweise von Getrenntheit und Unterschiedlichkeit ein. Wir fühlen uns unsicher, ängstlich. Wir lassen uns auf diese Sichtweise ein und vergleichen uns mit anderen; zwangsläufig sind wir dann entweder Spitze – und sind angespannt, weil wir unsere Überlegenheit bestätigt sehen möchten und Angst haben, diese Anerkennung zu verlieren –, oder wir landen ganz unten und sind angespannt, weil wir den Tod sozialer Ablehnung fürchten. Diese Gefühle werden jeden Moment neu konstruiert. Sie sind nicht dauerhaft, sondern werden ständig re-konstruiert. Das ist der Schlüssel. Wenn die Gedanken „Ich bin unterlegen“, „ich bin unfähig“, „ich bin minderwertig“ als mentale Bilder einmal konstruiert sind und als körperliche Empfindung gefühlt werden, halten wir an ihnen fest und glauben an sie, als ob sie stabil und dauerhaft wären. Wir merken nicht, dass wir sie die ganze Zeit neu erschaffen. Wenn uns klar wird, dass wir die Wahl haben, ob wir jeden Moment diese Konstruktionen erneuern wollen oder nicht, fühlen wir uns vielleicht einen Moment lang nackt – ohne unsere gewohnten Schutzmechanismen –, aber wir werden auch in die Lage versetzt, für uns selbst und andere in der Gegenwart präsent zu sein. Dieses eine Mal rennen wir nicht vor dem Dasein weg.

Achten Sie auf die typischen Momente, wo Sie sich mit anderen vergleichen, und beginnen Sie diese Vergleiche mit freundlicher Neugier zu beobachten. Achten Sie darauf, welchen Effekt dieses Vergleichen auf Ihr Bewusstsein oder auf Ihre Fähigkeit hat, für andere präsent zu sein.

Denken Sie an eine(n) Bekannte(n), die/der schüchtern ist oder sich engem zwischenmenschlichem Kontakt entzieht. Denken Sie an diesen uralten Hunger und lassen Sie Mitgefühl aufkommen.

Achten Sie darauf, was Sie fühlen, wenn Sie in irgendeinen privaten Bereich zurückkommen – wenn Sie die Tür zu Ihrem Zimmer oder Büro zumachen, nach der Arbeit ins Auto steigen oder die Kinder zur Schule geschickt haben. Ist da ein Gefühl der Flucht? Achten Sie genau auf diese Gefühle, ohne sie zu verurteilen, und schauen Sie, ob Sie zu fassen bekommen, vor wem oder was Sie da flüchten.

Die drei Arten des Hungers vermischen sich

Diese drei Arten des Hungers existieren nicht isoliert voneinander; wie chemische Elemente finden sie sich fast immer in einer Verbindung. Sie vermischen sich, wechseln sich ab und ernähren sich gegenseitig. Der Hunger nach Lustgewinn, zusammen mit der darin angelegten Angst vor Schmerz, ist die Grundlage der beiden anderen Arten von Hunger – nach Dasein und nach Nicht-Sein. Ob wir nach Lustgewinn hungern oder danach, gesehen zu werden oder aber dem Blick zu entfliehen, wir ersehnen angenehme Gefühle. Ein Viertklässler reißt vor der ganzen Klasse einen Witz, weil das Gesehen-Werden sich angenehm anfühlt; ein anderer schreckt davor zurück, vor anderen zu sprechen, weil es sicherer scheint, die kritischen Blicke der Klassenkameraden zu vermeiden – weil das sich angenehm anfühlt. Solche Glücksgefühle sind relativ und voller Anspannung, aber oft sind sie das einzige Glück, das wir kennen. Wir tun unser Bestes, unsere Sehnsüchte zu befriedigen.

Genauso wie die drei Arten zwischenmenschlichen Hungers nicht voneinander isoliert existieren, existieren sie auch nicht isoliert von den persönlichen und physischen Hungergefühlen. Der Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Essen ist wohlbekannt. Ein Retreat-Teilnehmer berichtete, er habe sich während des Retreats nicht hungrig gefühlt, aber während der Heimfahrt sei der Hunger wieder aufgetaucht. Durch die zwischenmenschliche Praxis beruhigt, verringerten sich im Gleichschritt auch seine physischen und beziehungshaften Hungergefühle – und kamen im Gleichschritt wieder zurück. Die Lust auf sexuelles Vergnügen ist verflochten mit dem Hunger nach zwischenmenschlichem Vergnügen und normalerweise mit dem Hunger, gesehen zu werden. Der Hunger nach physischem Lustgewinn durch Alkohol oder Drogen geht, bei Partys und Sportveranstaltungen, oft einher mit der Lust auf zwischenmenschliche Stimulation und Vergnügen. Der Lustgewinn durch Rauschmittel hängt auch eng zusammen mit dem Hunger, persönlichem und zwischenmenschlichem Schmerz zu entfliehen: „Ich trinke, um meine Probleme zu vergessen.“ Während der Drang wächst, dem Schmerz zu entfliehen, steigert sich die grundlegende Sehnsucht, nicht mehr zu sein.

Der Hunger, gesehen zu werden, und der Hunger zu fliehen können sich sehr schnell abwechseln. Eine Meditierende schrieb über ihre Erfahrungen bei einem anderen Einsichts-Dialog-Retreat Folgendes: „Ich sagte zum Beispiel vielleicht: ‚Schau mich an! Schau mich an!‘ und wenn mich Leute dann wirklich anschauten, sagte ich: ‚Okay, das reicht jetzt. Hört auf!‘ Ich wollte die Anerkennung, aber dann hatte ich Angst davor.“ Der Hunger, gesehen zu werden, und der Hunger zu verschwinden gingen in ihr auf und ab wie eine Schaukel. In ähnlicher Weise erlebte eine Frau bei einem Retreat in der Schweiz bei jedem Schritt der Gehmeditation eine Art existentieller Krise: „Jeder Schritt, den ich machte, schwankte zwischen dem Hunger nach Dasein und dem Hunger nach Nicht-Sein.“ Sie war eine erfahrene Meditierende, und mit ihrer verfeinerten Achtsamkeit und Konzentration war sie fähig, die existentielle Krise an der Basis ihrer Existenz in der Gesellschaft zu erkennen. Zum Glück half ihr genau diese Achtsamkeit, präsent zu bleiben und diesen doppelten Hunger zu akzeptieren.

Der Hunger nach Dasein und der Hunger nach Nicht-Sein können sich auch langsamer abwechseln, manchmal auf sehr banale Weise. Aus ihrem Auf und Ab braut sich manches Drama zusammen. Ein Retreat-Teilnehmer fühlte sich durch die Kritik eines anderen falsch verstanden und abgewertet und saß mit dem Gefühl, minderwertig und unfähig zu sein, in unserem Kreis. Eine kritische Bemerkung wurde fast zum Dreh- und Angelpunkt für sein ganzes Retreat. „Am Anfang des Retreats hatte ich mich ganz schön aufgeblasen“, schrieb er, „dann schrumpfte ich zusammen.“

All diese Hungergefühle erlebt jeder; sie dominieren sehr effektiv unser konditioniertes Leben. Sie reduzieren auch unsere Empfänglichkeit gegenüber anderen. Der Hunger nach Gesehen-Werden richtet sich nach außen und sucht dort nach Anerkennung. Der dadurch motivierte Mensch ist besessen von dem Verlangen, bewundert und als ein Selbst bestätigt zu werden, und ist deshalb für andere nicht zugänglich. Der Hunger zu fliehen zieht sich nach innen zurück. Der dadurch motivierte Mensch ist besessen von dem Bedürfnis, das Selbst zu verteidigen und zu schützen und ist damit viel zu sehr beschäftigt, um für andere noch zugänglich zu sein. Beide Arten des Hungers produzieren eine überhebliche Egozentrik oder Selbstherrlichkeit, die unfähig macht, den Schmerz von anderen wahrzunehmen, und die daran hindert, Liebe zu geben und zu empfangen. Grundlage beider Hungergefühle ist das Gefühl, minderwertig zu sein, und Isolation ist das Resultat. Der Hunger, gesehen zu werden, und der Hunger, sich zu verstecken, beruhen beide auf dem fundamentalen Hunger, sich Lustgewinn zu sichern und Schmerz zu vermeiden. Alle diese Hungergefühle beruhen auf einem bestimmten Selbstkonzept; sie sind der Kern, um den sich das Selbst konstelliert. Alle vernebeln sie unsere natürliche Fähigkeit zu Freude und Mitgefühl.

Die Energie hinter Gier, Hass und Verblendung

Die Hungergefühle treiben den Herz-Geist an; sie konditionieren aufsteigende Gedanken und die Handlungen, die sich aus diesen Gedanken entwickeln. Die Hungergefühle sind wie Gezeitenströme, riesige Naturerscheinungen, und auf diesen Gezeitenströmen steigen Gedanken auf wie Wellen im Meer. In jedem Moment kann ein Hungergefühl das Denken dazu bringen, das an sich zu ziehen, was es will, und das festzuhalten, was es bereits gepackt hat. Dies wird normalerweise durch angenehme Kontakte ausgelöst. Im nächsten Moment neigt der Geist vielleicht dazu, alles wegzuschieben, was immer ihn berührt. Dies wird normalerweise durch unangenehme Kontakte ausgelöst. Wenn ein Kontakt weder angenehm noch unangenehm ist, ignoriert ihn der Geist in stumpfer Indifferenz. Diese drei Tendenzen – Herziehen, Wegschieben und Übersehen – sind die Werkstatt, in der Moment für Moment das Leiden geschmiedet wird.

 

In allen seinen Lehren bezog sich der Buddha auf diese drei Tendenzen und benutzte dabei Wörter seiner eigenen Sprache: lobha, dosa und moha. Diese werden normalerweise übersetzt als „Gier“, „Hass“ und „Verblendung“.

Was denkt ihr, Kalamer? Wenn Gier, Hass und Verblendung in einem Menschen aufsteigen, gereicht ihm das zum Wohlergehen oder zum Schaden?18

Dies sind keine zufälligen Eigenschaften. Im Gegenteil, dies Ziehen, Schieben und nebulöse Nichtbeachten sind fundamentale Wurzeln des Denkens, so fundamental wie Plus, Minus und Null in der Mathematik. Ihre entsprechenden Gegenstücke – heilsame Wurzeln – sind Nicht-Gier, Nicht-Hass und Nicht-Verblendung. Gedanken haben je nach der Wurzel, aus der sie hervorgehen, spezifische Qualitäten und vorhersehbare Resultate. Wenn die Wurzel unheilsam ist, bringen uns die ihr entwachsenden Gedanken und Handlungen Leiden.

Der Dinge an sich ziehende Geist von lobha blüht zu Gier und Lust auf. Er kann aus dem Hunger nach Lustgewinn entstehen. Wir wollen etwas Angenehmes schmecken, ein gieriger Gedanke entsteht und wir holen uns den Schokoriegel; wir wollen ein angenehmes Streicheln, ein lustbetonter Gedanke entsteht, und wir strecken die Hand aus nach dem Menschen, der es uns vielleicht liefert; wir sehnen uns nach sozialer Anregung, Gedanken kommen auf, Strategien zur Befriedigung dieser Sehnsucht zu entwerfen, und wir rufen einen Freund an oder überlegen uns, wie wir es anstellen könnten, zu dieser oder jener Party eingeladen zu werden. Der Geist, wie ein Affe nach allem greifend, arbeitet hart. Die Gedanken wurzeln in einem An-sich-Ziehen und Festhalten; sie sind die Pfähle eines Zaunes, die in ihrer Gesamtheit uns gefangen halten.

Der Hunger nach Dasein und die mit ihm verbundene Angst vor dem Nicht-Sein können auch zwischenmenschliche Gier entstehen lassen. Der Drang, gesehen zu werden, führt oft zu einem Taktieren, wie wir sichtbar werden könnten. Wir gieren vielleicht nach Bekanntheit und schmieden Pläne, wie wir sie realisieren könnten. Jeder kleine Gedanke in einem solchen taktierenden Denken hat die Qualität, etwas an sich zu ziehen und an der erwünschten Sichtbarkeit festzuhalten. Solch ein Denken sammelt gierig soziale Möglichkeiten – Freunde, Bekannte, Mitgliedschaften, Gesprächsthemen, Witze, Belanglosigkeiten aus dem Sport oder den Medien – und benutzt sie, um die eigene Prominenz auszustaffieren. Solch ein Denken kann sehr subtil sein, und das An-sich-Ziehen von Bestätigung kann sehr klug mit echten intellektuellen oder altruistischen Interessen gemischt sein. Aber die Anspannung der Gier erzeugt immer noch Leiden.

Der Hunger nach Nicht-Sein erzeugt Gier, wenn wir die Ablenkungen und Süchte an uns ziehen, in denen wir uns verstecken. Je nach Versteck sind die Strategien unterschiedlich. In einem Moment zeigt sich vielleicht eine Gier nach Alkohol, im nächsten nach einer einsamen Hütte. In einem anderen Moment wiederum sind unsere Gedanken vielleicht davon besessen, den Menschen, mit dem wir eine sichere Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit geschaffen haben, an uns zu ziehen und festzuhalten.

Jeder Hunger kann auch genauso gut Aversionen anheizen. Der Hunger nach Lustgewinn bringt den Drang mit sich, Schmerz zu vermeiden und die Quellen des Lustgewinns zu erhalten; Aversion (Pâli: dosa) entsteht, wenn uns jemand dabei in die Quere kommt. Wenn zum Beispiel jemand beabsichtigt, sich zwischen uns und unseren Ehepartner zu drängen, verspüren wir vielleicht Zorn und verbreiten böse Gerüchte über den/die Betreffende(n). Die zornigen Worte wurzeln in dem Moment, wenn wir sie aussprechen, in Aversion, auch wenn die Momente unmittelbar davor von dem Wunsch getrieben waren, die Freude an unserem Ehepartner zu genießen. Oder wir verspüren vielleicht Hass auf jemanden, der uns Schmerz bereitet hat, indem er uns geschlagen oder etwas gestohlen hat. Während wir den Zorn fühlen, leiden wir. Wenn wir mit Gewalt zurückschlagen, erhöhen wir unseren Schmerz und weiten das Leiden auf andere aus. Diesen Aversionen liegt der Hunger nach Lustgewinn zugrunde.

Der Hunger nach Da-Sein kann ebenfalls hinter der Aversion stecken. Wenn wir es darauf anlegen, gesehen zu werden und jemand unsere Pläne durchkreuzt, kommt höchstwahrscheinlich Aversion auf. Wenn ich mir vorgenommen habe, dem Chef eine gute Nachricht persönlich mitzuteilen, aber ein Kollege mir zuvorkommt, bleibt mein Hunger nach Anerkennung unbefriedigt, und die Energie dieser Frustration nährt meinen Zorn. Oder vielleicht werde ich aufgrund meiner Hautfarbe oder Religion ignoriert oder sogar öffentlich gedemütigt. Mein Drang nach Existenz bleibt ein Leben lang unerfüllt und Aversion entsteht. Gedanken voller Aversion entstehen und wiederholen sich im Denken, und Zorn und Wut entwickeln sich in vollem Ausmaß. Entsprechend meiner Konditionierung und den äußeren Umständen ist die Natur der Aversions-Reaktion krass oder subtil – aber subtile Abneigung und regelrechter Hass haben dieselbe Wurzel, und beide führen geradewegs zu Leiden.

Der Hunger nach Nicht-Sein, nach Flucht, ist natürlich fruchtbarer Boden für das Entstehen von Aversion. Wir suchen die scheinbare Sicherheit der Unsichtbarkeit und fühlen uns zurückgestoßen oder sind sogar wütend auf die, die uns sehen; jeder, der in unser Versteck eindringen sollte, bekäme unsere Aversion zu spüren. Gedanken, die in Aversion wurzeln, ziehen oft zorniges Sprechen nach sich. Ein junger Mann möchte sich hinter seinem Zorn oder seiner Scham verstecken, während seine Freundin ihm nahe sein will und möchte, dass er ein wenig aus sich herausgeht. Er schnauzt sie an. Der Hunger nach Flucht kann selbst auf einer Abneigung gegen Menschen oder gegen die Gesellschaft allgemein beruhen. Vielleicht suchen wir die Abstumpfung durch Drogen; wenn jemand unserer toxischen Strategie in die Quere kommt, entsteht Aversion. Vielleicht haben wir in der Schule oder bei der Arbeit einen sicheren Container geschaffen – einen Weg, uns zu verstecken, uns anzupassen, unsichtbar zu sein. Wenn wir gezwungen werden, im Unterricht oder bei einer Besprechung etwas zu sagen, zerbricht unsere Welt, und Aversion kommt auf.

Verblendung (moha) unterscheidet sich ein wenig vom An-sich-Ziehen und der Aversion. Sie wird nicht so direkt von unseren tiefsitzenden Hungergefühlen stimuliert oder gespeist. Vielmehr halten die Hungergefühle indirekt die Wurzel der Verblendung und die Gedanken, die aus dieser Wurzel entstehen, am Leben. Wenn wir zum Beispiel auf der Jagd nach einem attraktiven Partner sind, interessiert uns wahrscheinlich niemand, den wir nicht attraktiv finden oder der nicht das richtige Alter oder Geschlecht hat. Wenn wir die Mächtigen beeindrucken wollen, kommen Leute mit wenig Macht in unserem Drama nicht vor. Die unseren Hunger nicht bedienen, existieren nicht für uns; wir sind nicht zugänglich für sie. Man könnte meinen, ohne jemanden oder etwas, der oder das eine Anziehungs- oder Abstoßungsreaktion provoziert, würde Friede einkehren. Aber unsere tiefsitzenden Hungergefühle sind immer noch aktiv. Der Druck der Strömung besteht weiter. Der Geist ruht nicht friedlich, sondern bleibt angespannt, ist aber in diesem Moment des zwischenmenschlichen Kontakts stumpf und gleichgültig. Die Gedanken, die aus der Verblendung aufsteigen, sind unklar und automatisch, getragen vom Auf und Ab alter Wünsche und Ängste. Die Worte und Taten, die aus dem verblendeten Denken hervorgehen, verewigen die alten Muster der Abstumpfung. Das Leiden bleibt bestehen.

Wann immer wir mit anderen Menschen im Kontakt sind oder auch nur an sie denken, können in unserem Beziehungsleben Gier, Hass und Verblendung am Werk sein. Wir ziehen Menschen zu uns heran, schieben sie weg und ignorieren die, die uns nicht anregen oder unsere Bedürfnisse erfüllen. Es ist nicht anders als das Herziehen, Wegschieben und Nichtbeachten, das unseren Umgang mit unbelebten Objekten ausmacht. In einem Moment zieht der Geist etwas heran, und sprunghaft schiebt er im nächsten etwas weg, so wie die tiefsitzenden Hungergefühle in unserem Herzen gerade hin- und her manövrieren.

Der Geist wird durch dieses ständige Ziehen und Schieben desorientiert und verletzt; die Verblendung trägt nur dazu bei, das Chaos und die Misshandlung aufrechtzuerhalten. Genauso wie Wirbelstürme und Tornados von den stärkeren Gewalten des Meeres und der Luft gespeist werden, werden diese Bewegungen des Denkens von den Wettersystemen der grundlegenden Hungergefühle gespeist. Unser Leben ist von Aufregung und Unzufriedenheit bedrängt. Wenn wir Erleichterung suchen, kann es kurzfristig nützlich sein, die offensichtlichen Formen von Gier oder Lust, Hass und nebelhafter Verblendung anzugehen. Wir können unser Verhalten ändern, den Geist beobachten oder unsere Umgebung ändern. Wirklich fundamentaler Wandel wird sich allerdings erst ergeben, wenn wir die tiefsitzenden Hungergefühle angehen – die Energiequelle, die all diese Wurzeln, Gedanken und Handlungen antreibt.

Wie ein Chirurg, der eine Gehirnoperation vorbereitet, oder der Leiter einer Friedenskonferenz, der mit allen Konfliktparteien spricht, haben wir die Natur des Problems sorgfältig untersucht. Wir sind bereit zu fragen: Muss es so sein? Können diese Hungergefühle und ihre Ausgeburten Gier, Hass und Verblendung abnehmen oder sogar ganz aufhören? Wir haben bereits ermutigende Hinweise, dass das möglich ist: Wir leiden nicht immer; die Hungergefühle sind nicht alle dauernd präsent; wir beobachten auch Liebe und Mitgefühl, sogar, wenn der Hunger da ist. Unsere sorgfältigen Beobachtungen schaffen die Voraussetzungen für einige sehr gute Nachrichten.

Was tun Sie, um gelobt oder gemocht zu werden und Anerkennung einzuheimsen?

Was macht Sie wütend? Welche Zusammenhänge zwischen Ihren Hungergefühlen und der Entstehung von Aggression stellen Sie fest?

Haben Sie sich in letzter Zeit in einer größeren Gruppe aufgehalten? Wer zog Ihre Aufmerksamkeit auf sich? Denken Sie nach, wen Sie eher nicht beachtet haben und warum.

13 Zitiert in Anlehnung an Schumann, a.a.O., S. 74. Den zentralen Pâli-Begriff „tanhâ“ übersetzt der Autor im amerikanischen Original mit „hunger“ (Hunger) statt dem wörtlicheren „thirst“ (Durst); eine andere gebräuchliche englische Variante lautet „craving“ (Lechzen, Begehren). Bei Schumann ist tanhâ mit „Gier“ übersetzt. Die Entsprechungen für „Werden“ sind „being“ (englisch) und bhava (Pâli); möglich wären also auch „(Da-) Sein“, „Leben“. Die englische Entsprechung für „Vernichtung“ ist die etwas neutralere Verneinung „non-being“, „Nicht-Sein“ (Anm. d. Übers.)

14 Im Original „intimacy“, „Intimität, Vertrautheit“. „Angst vor Nähe“ ist aber als Begriff besser etabliert (Anm. d. Übers.)

15 Daniel Siegel, The Developing Mind (New York: Guildford Press, 1999). Deutsch erschienen unter dem Titel „Wie wir werden, die wir sind“, Junfermann-Verlag, Paderborn 2006

16 Aldous Huxley, Doors of Perception (New York: Harper and Row, 1954). Zitiert nach: „Die Pforten der Wahrnehmung. Himmel und Hölle. Erfahrungen mit Drogen“, 1970 Piper Verlag, München, S. 11.

17 Tara Brach, “Radical Acceptance“ (New York: Bantam, 2004). Deutsch erschienen unter dem Titel „Mit dem Herzen eines Buddha“, Droemer-Knaur-Taschenbuch, München 2006

18 AN 3.66 (Nyânatiloka, a. a. O., Bd. I, S. 168)