Einsichts-Dialog

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Der Buddha fuhr in seiner Analyse des Leidens fort: „Mit Unliebem vereint, von Liebem getrennt sein ist leidhaft, Begehrtes nicht erlangen ist leidhaft.“ Diese Aussagen beschreiben verschiedene Arten seelischen Leidens. Im Hinblick auf Sinneswahrnehmungen verstanden, kommentieren diese Aussagen das Resultat eines Kontaktes mit unerwünschten Empfindungen wie Gerüchen oder Geräuschen. Aber der Buddha stellte klar, dass seine Aussagen auch menschliche Beziehungen betreffen: „Zu begegnen dem, der einem Unglück wünscht, Leid, Unangenehmes, Unsicherheit“ gehört ebenfalls zum „Unlieben“. Getrennt sein von Liebem bezieht sich nicht nur auf „Gewünschtes, Geliebtes, dem Auge, dem Ohr, der Nase Angenehmes“ und so weiter, sondern auch auf die Trennung von denen, die „einem Glück wünschen, Gutes, Angenehmes, Sicherheit, von Mutter oder Vater oder Schwester oder jüngeren Verwandten oder Freunden.“11

Die beziehungshaften Aspekte der Lehre des Buddha werden oft übersehen. Das lässt sich in allen buddhistischen Lehrrichtungen beobachten. Es ist, als wäre da eine unsichtbare Mauer, die diesen anrüchigen, obwohl unausweichlichen Aspekt unseres Menschseins von der jungfräulichen Reinheit der formalen Lehre Buddhas fernhält. Das Ergebnis ist eine große Unwissenheit bezüglich des Leidens, das mit menschlichen Beziehungen einhergeht, seiner Ursachen und des Wesens der Freiheit. Dieses Leiden ist übersehen und nicht beim Namen genannt worden. Es ist schlichtweg die Folge davon, als sensibles soziales Wesen in eine komplexe und wechselhafte zwischenmenschliche und soziale Umwelt hineingeboren zu werden. Das ist das zwischenmenschliche Leiden.

Großes Leiden ist leicht zu sehen: Es drängt sich dem Bewusstsein auf. Versuchen Sie einmal, ein paar der kleineren Unannehmlichkeiten des Lebens zu sehen – das Unbehagen, zu lange stillsitzen zu müssen, Langeweile, Sorgen –, und unsere fast pausenlose Aktivität, um sie zu bekämpfen: Essen, Körperhaltung verändern, Fernseher einschalten, zum Telefon greifen. Bemerken Sie das Wohlgefühl in der momentanen Erleichterung; bemerken Sie, wie auch dies vorbeigeht.

Zwischenmenschliches Leiden

Zwischenmenschliches Leiden ist das Leiden, das aus unseren Beziehungen zu anderen Menschen herrührt. Es ist eine weitläufige Untergruppe des seelischen Leidens. Stress mit Familienmitgliedern, Arbeitskollegen und Freunden ist zwischenmenschliches Leiden. Einsamkeit und Isolation gehören ebenfalls zum zwischenmenschlichen Leiden. Jeder von uns erlebt regelmäßig zwischenmenschliches Leiden. Es kann hilfreich sein zu erkennen, wie diese Dynamik abläuft, und zu wissen, dass sie als Konstrukte des sensiblen Herz-Geistes entstehen.

Eine Großteil unserer Emotionen, der schmerzhaften und angenehmen, entsteht im Zusammenhang mit anderen Menschen. Man braucht nur ein Buch über Sozialpsychologie, Soziologie oder Geschichte aufzuschlagen – oder irgendeinen Roman –, und man findet zahllose Beispiele zwischenmenschlichen Leidens, in der Intimsphäre und in der Öffentlichkeit. Probleme in Ehe und Familie sind zwischenmenschliches Leiden, ebenso wie Probleme mit Kollegen am Arbeitsplatz, romantische Techtelmechtel oder gerichtliche oder politische Auseinandersetzungen. Der Krieg und sein Herzblut, die militärische Ehre – vom Märtyrertum des Terroristen bis zum empfindlichen Stolz des Unteroffiziers –, ist durchzogen von zwischenmenschlichem Leiden. Schmerzhafter Zorn und die Angst vor Liebesentzug sind zwischenmenschliches Leiden. Soziales Unbehagen, Eifersucht, Neid und der Schmerz, andere zu verurteilen – oder von ihnen verurteilt zu werden –, all das ist zwischenmenschliches Leiden.

Wir erleben diese Formen des Leidens – oder irgendeines anderen Leidens – nicht, weil wir böse, krank oder wertlos wären. Wir erleben zwischenmenschliches Leiden deshalb, weil wir prinzipiell Beziehungswesen sind: Unser Geist will fassen und festhalten, während das soziale Leben, das uns berührt, voller unkontrollierbarer Veränderungen ist. Das natürliche Resultat solcher Bedingungen ist Leiden; Schuld- oder Schamgefühle wegen dieser Leidens-Tatsache sind fehl am Platze und trüben nur unseren Blick. Und wenn wir untersuchen, wie wir glücklicher sein können, mitfühlender, klüger, vielleicht sogar wirklich frei, dann müssen wir die Dinge so klar sehen wie möglich.

Biologisches, seelisches und zwischenmenschliches Leiden sind gründlich miteinander verflochten. Welches Leiden wir erleben, hängt nicht direkt von den Umständen ab, sondern wie wir auf die Umstände reagieren. Ich zum Beispiel wasche gerne Geschirr. Es befriedigt mich – meine Arbeit hat konkrete, sichtbare Ergebnisse. Aber manchmal sträube ich mich. Es ist persönliches Leiden, wenn ich mich sträube, weil ich lieber lesen würde. Es ist zwischenmenschliches Leiden, wenn ich mich wütend sträube, weil ich das Gefühl habe, ausgenutzt und für das, was ich leiste, nicht honoriert zu werden. Ein weiteres Beispiel: Sich seines Körpers zu schämen fühlt sich sehr persönlich an, aber es ist ganz eng mit unseren Vorstellungen verknüpft, wie andere uns wohl sehen. Wir fühlen uns vielleicht körperlich unwohl, weil wir zu dick oder zu mager sind, und das ist persönliches Leiden. Das emotionale Unbehagen, das aufkommt, wenn wir daran denken, was andere Leute über unsere Figur denken, ist zwischenmenschliches Leiden. Ich erinnere mich, wie meine Frau bei sich einmal eine kleine Läsion entdeckte. Als sie sich wegen der möglichen medizinischen Folgen, Schmerzen oder Behinderungen Sorgen machte, war das persönliches Leiden. Als ihre Besorgnis sich dann plötzlich um die Möglichkeit einer entstellenden Narbe drehte und ihre Wirkung auf andere, war das zwischenmenschliches Leiden. Mit Krankheit ist es genauso. Die Unannehmlichkeiten und der Schmerz, bettlägerig zu sein, verursachen persönliches Leiden. Aber es ist zwischenmenschliches Leiden, wenn es mir peinlich ist, dass mein Ehepartner mich zur Toilette begleiten muss. Krank zu sein, sich nicht gut zu fühlen und Angst vor dem Sterben zu haben ist persönliches Leiden. Sich auf dem Sterbebett zu grämen, weil man seine Lieben zurücklässt, oder Beziehungen nachzutrauern, die nicht gelebt worden sind, ist zwischenmenschliches Leiden.

Zwischenmenschliches Leiden ist eine zähe Angelegenheit. Menschen sind kompliziert, Emotionen verändern sich schneller als ein Sommergewitter, Lösungen sind immer unsicher. Wenn wir es mit Krankheit oder Verletzungen zu tun haben, nun gut, dann tun wir, was zu tun ist. Es ist vielleicht unerfreulich, und die richtige Vorgehensweise ist vielleicht nicht immer klar, aber normalerweise ist es nicht so kompliziert und schwer zu verstehen wie der Schmerz aus Beziehungen. Als bei meinem ältesten Sohn, Zed, Krebs festgestellt wurde, gab es viele Momente, in denen seine körperlichen Schmerzen und sogar seine Angst vor dem Tod zurücktraten hinter seiner Anteilnahme am Kummer und der Traurigkeit seiner Mutter, meiner Frau. Gleichzeitig kam unser Schmerz aus der Sorge um Zeds Leiden und der Möglichkeit, ihn zu verlieren. In diesem Moment waren wir drei ein intim verzahntes System gegenseitiger Beklemmung.

Wenn menschliche Systeme größer werden, wird aus dem zwischenmenschlichen Leiden soziales Leiden. Zum Beispiel ist der Schmerz einer Schusswunde persönliches biologisches Leiden; die Angst vor dem Tod ist persönliches seelisches Leiden. Der Schmerz des Hasses gegen den Menschen, der auf Sie geschossen hat, ist zwischenmenschliches Leiden. Der Schmerz des Hasses gegen das Land oder die ethnische Gruppe, der der Täter angehört, ist soziales Leiden. Soziales Leiden ist die systemische Manifestation zwischenmenschlichen Leidens, genauso wie zwischenmenschliches Leiden die systemische Manifestation persönlichen Leidens ist.

Einsamkeit ist eine fundamentale Form zwischenmenschlichen Leidens. Sie ist die zwischenmenschliche Manifestation unserer Grundangst vor der Leere und dem Tod. Sie tritt in persönlicher wie auch sozialer Form auf und ist erschreckend weit verbreitet. In unserer persönlichen Einsamkeit fehlt uns ein vertrautes Gegenüber; in sozialer Einsamkeit fehlt uns die Integration in einer Gemeinschaft. Wir versuchen, das Loch der Einsamkeit mit Essen, Autos, Unterhaltung und Drogen zu stopfen. Wir verbrauchen, neben riesigen Mengen an Benzin und anderen Ressourcen, enorme Telefon- und Internet-Kapazitäten einfach dafür, sinnerfüllten Kontakt zu anderen herzustellen. In dieser Mischung lösen sich biologisches, seelisches und zwischenmenschliches Leiden gegenseitig aus, und jedes kann zu Verhalten führen, das unseren Kummer verschärft und verlängert.

Menschen in reichen Ländern – getrieben von Einsamkeit und dem Hunger nach Genuss – setzen eine Kaskade von anderen Formen des Leidens in Gang. In ihrer Suche nach Tröstungen saugen sie die Ressourcen der Welt auf, indem sie verreisen und exotische Nahrungsmittel, arbeitsintensive Produkte und unersetzliche Rohstoffe importieren. In den Ländern, die durch den Konsum dieser mächtigen, hungrigen Menschen geplündert werden, verschärft sich durch die massiven sozio-ökonomischen Umwälzungen, die mit ökonomischer Abhängigkeit einhergehen, das biologische Leiden von Unterernährung oder Seuchen. Wenn hungernde Völker kommunizieren, beruht ihre Gemeinsamkeit auf dem Mitgefühl füreinander, aber – oft – auch darauf, gemeinsam die dominanten Nationen zum Feind zu haben. Der Schmerz, den dieser Hass erzeugt, ist sowohl auf den Gesichtern der Kämpfer als auch ihrer Opfer zu sehen.

Währenddessen treten in den Ländern, wo die Macht angesiedelt ist, zum Schmerz von Einsamkeit und täglichem Stress die Belastungen hinzu, seinen Lebensstil verteidigen und die hassen zu müssen, die ihn eventuell attackieren wollen. Vielleicht geht irgendwo in einer Kleinstadt wegen der zusätzlichen Belastungen eine Ehe in die Brüche, und das Paar erlebt das tiefe zwischenmenschliche Leiden einer Scheidung. Unterdessen wird auf der nationalen Ebene zugunsten militärischer Maßnahmen der Etat umgeschichtet, und Millionen von Menschen verlieren ihre medizinische Absicherung, was das biologische Leiden erhöht. Bildungs- und Betreuungseinrichtungen wird ebenfalls das Geld gekürzt, was das seelische Leiden erhöht. Der Hass zwischen willkürlichen politischen Lagergrenzen vertieft sich, und Anspannung wird für jeden zum persönlichen Begleiter. Persönliches, zwischenmenschliches und soziales Leiden existieren in unserem persönlichen Leben nebeneinander und durchdringen das Herz der Gesellschaft, nicht weil wir böse wären, sondern weil wir Menschen sind.

 

Wenn Sie sich von Stress überwältigt fühlen, nehmen Sie sich einmal einen Moment Zeit und reflektieren Sie, welche Stressfaktoren sich mehr um Sachen drehen – Besitztümer, Arbeitsstelle, praktische Bedingungen – und welche mehr um Beziehungen. Können Sie zwischen beiden irgendeinen Unterschied feststellen?

Ein realistischer erster Schritt

Das Leben so direkt zu betrachten ist nicht pessimistisch; es ist realistisch. Es hilft nichts, das Problem zu ignorieren. Im Gegenteil, Ignorieren macht das Leiden unsichtbar, sichert sein Fortbestehen und lässt zu, dass es die Grundstimmung unseres Lebens bestimmt. Dies wissend, sind wir zu einer Entdeckungsreise eingeladen. Wie der Buddha es ausdrückte: „Darum sage ich, ihr Mönche, ergibt sich aus dem Leiden entweder Verzweiflung oder Hoffnung“.12 Um zu sehen, wie die Dinge wirklich sind, müssen wir Achtsamkeit kultivieren, das heißt die Fähigkeit, in jedem Moment unsere Reaktionen zu beobachten. Wir müssen auch so weit zur Ruhe kommen, dass wir bei dem bleiben können, was die Achtsamkeit beobachtet, und die emotionalen Reaktionen anschauen können, die uns in diesen vielen Stress-Kreisläufen herumjagen. Was stellen wir fest, wenn wir die Mechanik des zwischenmenschlichen Leidens klarer sehen? Können wir die Ursachen für dieses Leiden ausmachen? Wenn wir die Dinge klar sehen, können wir anfangen, unser Leben in Richtung Zufriedenheit und Freiheit neu zu orientieren. Die Ursachen des Leidens zu verstehen ist der erste Schritt in Richtung Freiheit.

8 Im Original „the human condition“, englische Entsprechung für André Malraux’ Begriff „la condition humaine“ (Anm. d. Übers.)

9 Samyutta Nikâya (=SN) 56.11, zitiert nach Schumann, a. a. O., S. 25

10 Majjhima Nikâya (=MN) 141.17, zitiert nach der deutschen Übersetzung von Karl Eugen Neumann; Verlag Beyerlein/ Steinschulte, Herrnschrot (Die Reden des Buddha. Mittlere Sammlung)

11 Dîgha Nikâya (=DN) 22.18

12 AN 6.63; Nyânatiloka: Die Lehrreden des Buddha aus der Angereihten Sammlung (Anguttara-Nikâya), Bd. III, S. 242 (Aurum Verlag, Braunschweig 1993)

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Die Zweite Edle Wahrheit

Zwischenmenschlicher Hunger

Festhalten am Hunger verursacht Leiden

Wenn die Welt die Sinne berührt, entsteht schlagartig ein Selbst, und Verlangen kommt auf: Hunger nach Angenehmem, Sicherheit und nach dem Leben selbst. Das Selbst greift nach diesen Dingen und hält sie krampfhaft fest, wenn es sie bekommt. Wir halten an unseren Versuchen fest, zu bekommen, was wir wollen, und wir halten auch fest an der Angst vor dem Verlust dessen, was wir haben. Die Anspannung, die in diesem Greifenwollen steckt, ist die Wurzel des Leidens. Als Kinder lernen wir, welche zwischenmenschlichen Kontakte angenehm und unangenehm sind, und auch welche Sinneseindrücke angenehm und unangenehm sind. Wir entwickeln Vorlieben und Abneigungen. Wir entdecken, dass Wollen und Nichtwollen reziprok sind: Das Ende des Angenehmen ist unangenehm; das Ende des Unangenehmen ist angenehm. Die Brust der Mutter ist ein offensichtliches Beispiel – sie ist warm und süß, erfreulich; wird sie weggenommen, ist das eine unangenehme Erfahrung. Aber das ist noch nicht das Ende. Danach kommt der Hunger nach ihrer Rückkehr, nicht bloß der Nahrung wegen, sondern auch als Objekt des Trostes, des Glücks; grundlegender biologischer Hunger wandelt sich zu seelischem Hunger. Beide stellen „Ich“ in den Mittelpunkt des Universums. Es geht uns gut, wenn jemand lächelt oder uns lobt; unser Hunger nach derlei Aufmerksamkeit, die uns während unseres ganzen Lebens gewidmet und entzogen wird, bildet viele Nuancen. Worte der Kritik oder Ablehnung erleben wir als schmerzhaft; es wird wichtig, solche Kontakte zu meiden. Aus solchen konditionierten Hungergefühlen erwachsen unsere subtilsten Sehnsüchte nach Vertrautheit, Angenommen-Werden und Gemeinschaft. Klar benennbare, aber auch namenlose Sehnsüchte wirken in unserem Leben; wir können nur einen Bruchteil von ihnen kennen.

Zwischenmenschlicher Schmerz und zwischenmenschliche Freude sind eindringliche Konditionierungen. Als Kind wurde ich gelobt, wenn ich meine Suppe aufaß; ich lernte, für ein Lob zu funktionieren, auch wenn ich satt war, weil ich nach dem Lächeln und den Worten hungrig war, die ich die Male vorher genossen hatte. Die Kinder um mich herum wollten gelobt werden dafür, dass sie den Ball weit geschlagen hatten, am schönsten angezogen oder gut in der Schule waren. Aber wir sind alle verschieden. Die Sehnsucht meines Vaters richtete sich nicht auf öffentliche Anerkennung, sondern auf private Liebe. Lange nachdem meine Mutter gestorben war, hungerte er immer noch nach Zweisamkeit, die ihm eine uralte Einsamkeit, die in seinem Leben immer wieder auftrat, zumindest zeitweilig etwas erleichtern sollte. Die Ursprünge seines Hungers waren jedoch unter den Schichten von nahezu einem Jahrhundert gelebten Lebens begraben. Die Hungergefühle meiner Familie, wie alle unsere Hungergefühle, bildeten ein Selbst, das sich im Zusammenfluss von Sinneseindrücken, angenehmen und unangenehmen Gefühlen und konditionierten emotionalen Gewohnheiten bildete.

Das Bindeglied zwischen Hunger und Leiden heißt Greifenwollen. Wenn wir nicht bekommen können, was wir wollen, bleibt die Anspannung des unbefriedigten Hungers bestehen. Wir klammern uns an die Bilder und Gefühle, die mit dem, was wir suchen, zusammenhängen. Wir lechzen nach Kaffee und haben ein Bild im Kopf: Wir sehen, halten sogar die Kaffeetasse, riechen das Aroma und sehnen uns nach den Gefühlen, die mit dieser idealisierten Befriedigung zusammenhängen. Solange wir an diesem Bild und dem Habenwollen, das darin steckt, festhalten, bleiben wir unbefriedigt. Im zwischenmenschlichen Bereich ist es ähnlich: Wir spüren vielleicht ein intensives Verlangen, mit einem geliebten Menschen zusammen zu sein. Wir stellen uns diesen Menschen vor, hören seine oder ihre Stimme und tragen ihn oder sie in unseren Gedanken, bis wir zusammen sein können. In beiden Fällen klammert sich der Geist an seinen Wunsch, ist besessen davon. Wenn wir an dem Gedanken an jemanden festhalten, den wir nicht mögen, ist die fundamentale Dynamik dieselbe. Das Denken ergreift das Bild des betreffenden Menschen und wird zu Aversion oder sogar Wut aufgestachelt. Ob wir nun mögen oder nicht mögen, wir sind besessen.

Um Leiden zu verstehen, müssen wir uns dieses krampfhafte Festhalten ganz genau anschauen. Wenn wir etwas Weiches berühren, ist der Geist erfreut, hält sich an dem Genuss fest und möchte, dass er bestehen bleibt. Aufgrund der Gewissheit, dass das angenehme Erlebnis zu Ende gehen wird, sind wir angespannt; wenn es endet, wollen wir es wiederhaben. Wenn wir uns an etwas Scharfem schneiden, spüren wir sofort körperlichen Schmerz, und das Denken fixiert sich auf den Wunsch, dass dieser Schmerz aufhören soll. An diesem Festhalten ist auch das Gefühl eines Selbst beteiligt, wie wir noch sehen werden. Hunger und krampfhaftes Festhalten halten sich gegenseitig aufrecht, während die Freuden und Schmerzen kommen und gehen.

Zwischenmenschlich ist die Dynamik dieselbe. Wir sehen die Gestalt eines anderen Menschen; wenn wir mit diesem Menschen Angenehmes verbinden, entsteht eine konditionierte Befriedigung. An dieser Befriedigung halten wir fest. Aber im zwischenmenschlichen Erleben hat das Festhalten mehrere Ebenen und ist deshalb eine besondere Herausforderung. Nicht nur genießen wir die angenehmen Empfindungen durch diesen Menschen, wir finden in ihm oder ihr in vielerlei Hinsicht auch momentane Linderung für hartnäckige Hungergefühle: Du bringst mir Anregung und Glücksgefühle, du machst, dass ich gesehen werde, du bist der Mensch, der mein Gefühl, wertlos zu sein, aufhebt. Während wir uns entwickeln, ist es unvermeidlich, dass wir solche Befriedigungen suchen und festhalten; sie sagen uns, dass wir leben und in Sicherheit sind. Die Hungergefühle nisten sich ein, indem wir uns innerlich festklammern an der tiefverwurzelten Idee eines Selbst – desjenigen, was befriedigt, anerkannt und beschützt werden muss – und an den Gefühlen dieses Ichs. Gleichzeitig klammern wir uns äußerlich an die andere Person. Dieses Festklammern ist nicht nur das Ergebnis des aktuellen Moments von Freude und Schmerz; sein Entstehen ist auch konditioniert durch alle Momente von Freude und Schmerz in der Vergangenheit.

Dass wir uns an dem festklammern, was angenehm ist, ist leicht zu sehen; aber es ist unbedingt notwendig, zu verstehen, dass wir uns auch an schmerzhaften Gedanken und Emotionen festklammern. Auf der ganzen Welt – Balkan, Naher Osten, Afrika – gibt es Völker, die immensen gegenseitigen Hass hegen. Wenn ein Einzelner in sich das Bild eines gehassten anderen hegt – Araber, Amerikaner, Ausländer –, hält das Denken an diesem Bild fest, obwohl dieser Hass intensiven Schmerz verursacht. Direkt vor der eigenen Haustür ist es der Ärger über einen Nachbarn, Kollegen oder Verwandten, der das festklammernde Denken etabliert, und wir halten an unseren großen und kleinen Verletzungen fest. Dieses Festklammern – ob im Hass oder im Begehren – erzeugt Anspannung, die zur Basis für Unzufriedenheit und Schmerz wird. Aus solchem Festklammern entspringen Handlungen, die den Schmerz beenden und Befriedigung bringen sollen. Wir verurteilen, verletzen den verhassten „anderen“, töten ihn sogar.

Ob nun das Ergebnis von Karma, DNS oder starken neuronalen Verschaltungen, dieses Greifen und Klammern wurzelt in einer Geschichte, die unvorstellbar subtil ist. Weil Geist und Körper ein untrennbar Ganzes sind, manifestiert sich dieser schmerzhafte und aufgewühlte Zustand des Greifenwollens in Körper und Geist. Die Begegnung mit einem anderen Menschen ist eine besonders eindringliche Form des Kontakts und kann zu mächtigen, subtilen und komplexen Gefühlen führen. Aus diesen Eindrücken entsteht der Drang zu greifen, etwas Zähes im Herzen und Denken, das in jedes Zusammensein eine gewisse Beunruhigung bringt und Trennung schmerzhaft macht.

Wenn Sie das nächste Mal in einer ihrer Beziehungen Leiden bemerken, prüfen Sie, ob Sie das Greifenwollen darin erkennen. Halten Sie an einem Bild, dem Wunsch nach Kontrolle, einer Hoffnung oder einer Angst fest? Wenn Sie es bemerken, verändert sich dadurch der Schmerz oder das Greifenwollen?

Drei Arten elementaren Hungers

Als der Buddha den Mechanismus dieser Zyklen von Schmerz und Zwang auslotete, erkannte er als ihre Quelle drei miteinander verbundene Arten des Hungers. Er sagte:

Dies, Mönche, ist die Edle Wahrheit vom Ursprung des Leidens: Es ist der Wiedergeburt bewirkende, mit Freude und Vergnügen verbundene Hunger (tanhâ), der mal hier, mal dort Gefallen findet, nämlich: der Hunger nach Lust, der Hunger nach Werden, der Hunger nach Vernichtung.13

Als ich zum ersten Mal auf diese Aussage stieß, verstand ich sofort, wie der Hunger nach sinnlicher Lust und die implizite Aversion gegen Schmerz zu allen möglichen Frustrationen und Sorgen führen kann. Den Hunger nach Werden, nach Sein verstand ich als körperlichen Überlebenstrieb, aber da normalerweise mein körperliches Überleben nicht direkt gefährdet war, fragte ich mich, ob diese Lehraussage auch für jeden konkreten Moment des Lebens etwas zu bedeuten hatte. Der Drang nach Vernichtung, nach Nicht-Sein war mir ein völliges Rätsel, abstrakt und schleierhaft. Ich glaubte schon, dass er für mein Leben irgendwie relevant war, aber ich fragte mich, ob ich ihn jemals verstehen würde. Nachdem ich ein bisschen mehr studiert hatte, sah ich im Hunger nach Nicht-Sein den Drang, diesem schmerzhaften Leben zu entfliehen – den Selbstmord-Gedanken; obwohl ich wiederum nicht wusste, was das mit meinem Leben zu tun hatte.

Als ich zu verstehen begann, dass Leiden das zwischenmenschliche Leiden beinhaltet, und den Ursprung dieses Leidens im zwischenmenschlichen Hunger erblickte, wurden die Lehraussagen des Buddha für mich plötzlich lebendig. Und als ich sah, wie diese drei Arten des Hungers im zwischenmenschlichen Bereich wirksam waren, vertiefte sich auch mein Verständnis ihrer persönlichen Dimension. Ich begann das Lechzen nach zwischenmenschlicher Befriedigung als Drang nach angenehmer Anregung durch andere Menschen zu verstehen, aber auch als Angst vor Einsamkeit, die durch diesen Lustgewinn oft übertüncht wird. Ich sah, dass der Hunger nach Werden auch der Hunger war, in einer Beziehung „da zu sein“ – das heißt, der Hunger danach, gesehen zu werden, und seine Kehrseite: die Angst, unsichtbar zu sein. Der Hunger nach Nicht-Sein, begann ich zu verstehen, war nicht nur der Drang, diesem verrückten und schmerzhaften Leben zu entfliehen, sondern auch der Drang, dem Dasein in einer Beziehung zu entfliehen. In diesem Drang, so sah ich, steckt die Angst vor dem Gesehen-Werden, die Angst vor Nähe14.

 

Allmählich verstand ich diese Arten des Hungers fast als Naturgewalten, die mich in Verwirrung und Stress gefangen hielten, weil ich von ihrem Wirken gar keine Ahnung hatte. Ich ahnte, dass unter dieser Düsternis schon immer Klarheit und Ruhe existiert hatten, auch wenn ich nicht wusste, wie ich dazu Zugang finden konnte. Es schien, als hätte jedes dieser drei Hungergefühle in meinem Herzen irgendwie ein Plätzchen reserviert, noch bevor elterliche Konditionierung oder Kognition an meiner ursprünglich strahlenden Bewusstheit herumdokterten.

Wie das Beziehungs-Selbst sich bildet

Ein Schlüsselelement in unseren konditionierten Reaktionsmustern – vielleicht das stärkste – ist das Gefühl eines Selbst oder Ich. Nach der Geburt hängt unser Überleben von anderen Menschen ab. Wir treten in eine Welt voller Empfindungen ein: Berührung mit harten und weichen, warmen und kalten Gegenständen. Reflexartig zieht es uns zu den Empfindungen, die wir angenehm finden, und wir wenden uns ab von denen, die wir unangenehm finden. Wie alle Tiere lernen wir. Wir lernen, wo es weich ist, und lernen, uns dort einzukuscheln; wir lernen, uns von lauten Geräuschen fernzuhalten. Wir suchen die Wärme und Fürsorge der Brust und weinen danach, verkrampft und um unser Leben schreiend. Von Wärme und Milch gestillt, entspannen wir uns. All das gehört dazu, wenn man als sensibles Wesen in eine anregende und wechselhafte Umwelt hineingeboren wird.

Mit drei Lebensmonaten in diesem Körper fangen wir an zu unterscheiden, was „ich“ ist und was nicht. Wir stellen fest, dass dieses Nicht-Ich reagiert. Die Brust ist nicht nur weich, sie wird auch dargeboten. Unser Beziehungsleben hat begonnen. Wir gehen daran, kennenzulernen und kennengelernt zu werden; das soziale Lächeln beginnt. „Halloooo“, sagt der neue Papa. Augen begegnen sich. Der Vater lächelt und das Kind lächelt bei diesem Erkennen, sein ganzer Körper dehnt sich wie ein grinsender Luftballon. Kontakt! Geschafft.

Dieser Kontakt wird eine Schlüsselerfahrung, während eine Flutwelle des Lernens anrollt. Unser Gehirn bildet fast zwei Millionen neue Synapsen pro Stunde. Das Gedächtnis bildet Verbindungen zwischen reiner Empfindung und menschlichen Interaktionen. In seinen Publikationen zur zwischenmenschlichen Neurobiologie berichtet Daniel Siegel über Forschungsergebnisse, wie unser Gehirn durch die Interaktion mit anderen konfiguriert wird.15 Wir lernen, uns bei bestimmten Menschen sicher und geborgen zu fühlen und werden ihnen gegenüber anhänglich, lächeln, gurren und wollen gefallen. Wir werden Fremden gegenüber misstrauisch und verkrampfen uns, wenn wir wütende Stimmen hören. Diese Muster helfen uns, die nötige Fürsorge zu bekommen und Gefahren zu meiden. Zusammen mit ihnen entsteht das Gefühl eines „Ich“. Um die Spannungen durch sensorischen und beziehungshaften Kontakt herum gruppiert und neugruppiert sich ein vorläufiges „Selbst“, indem wir angenehme Gefühle ersehnen und unangenehme wegschieben. Mit zwei Jahren haben wir das überaus zweischneidige Schwert eines eigenständigen Selbstgefühls entwickelt.

Wie es für meine Mutter und meinen Vater war, war es auch für mich, und so ist es auch für meine Söhne. Wir haben alle ein Selbst entwickelt, das Konstrukt einer Sichtweise, die einen emotionalen Kern unseres Lebens stützt. Wenn dieses Selbstgefühl einmal ausgebrütet ist, wird das Konstrukt von jeder Empfindung weiter genährt. Es gibt nicht mehr einfach Sehen, sondern „ich sehe“. Mein Sohn Jared verspürt nicht einfach Hunger, er spürt „ich habe Hunger“. Von großer Tragweite für unser künftiges Glück und Leid ist, dass es nicht einfach den Anblick und die Geräusche von Leuten gibt: Da bist du, unabhängig von mir; da bin ich, unabhängig von dir. Wo es voneinander unabhängige Ichs und Dus gibt, gibt es Getrenntheit und Unterschiedlichkeit, und diese werden zur Grundlage von Beziehungen.

Wenn wir älter werden, beziehen wir uns nicht nur auf einzelne Menschen, sondern allgemein auf unsere Altersgenossen und unsere Kultur insgesamt. In der Adoleszenz konstruiert dieses sich bildende Selbst durch Imitation und Vergleich unser soziales Selbst. Mit fünfzehn lernte mein Sohn Max die Normen des Clans, die Regeln sozialer Begegnung. „Was sieht gut aus? Wie kann ich mithalten? Welches Verhalten wird mit Freundschaft und Lob belohnt? Welches führt zu Verurteilung und Ablehnung?“ Dieses Lernen wird bis ins Erwachsenendasein fortgesetzt; mit vierundzwanzig fragte mein Sohn Zed Sachen wie: „Wie kann ich meinen Lebensunterhalt verdienen?“ - „Wie gewinne ich einen Partner?“ - „Wie verschaffe ich mir Respekt?“ Unser Selbstgefühl wird verstärkt, während wir mit dem Gefühl klarzukommen versuchen, ein klar abgegrenztes, in eine Gemeinschaft eingebettetes Individuum zu sein, das nach körperlichem und sozialem Überleben und Glück strebt. Das Gefühl der Getrenntheit und Unterschiedlichkeit wird vollständig verdinglicht.

Getrenntheit bezeichnet das Gefühl von einem Selbst, das von anderen Wesen verschieden ist. Unterschiedlichkeit bezeichnet die spezifischen Unterscheidungsmerkmale jeweiliger Individuen sowie die Identifikation mit diesen Unterschieden. Getrenntheit und Unterschiedlichkeit sind beides konstruierte Sichtweisen, wobei Getrenntheit die fundamentalere ist.

Das Gefühl eines separaten Selbst hat seine Wurzeln in der grundlegenden Aufteilung der Erfahrung in ein Selbst und das, was das Selbst erlebt. Beim Sehen erschaffen wir sofort die Erfahrung „ich sehe.“ Diese Empfindung ist Teil der Wahrnehmung „ich sehe diesen Gegenstand“; der Moment wird gebildet aus dem Subjekt und dem Objekt, dem Seher und dem Gesehenen. Werden Empfindungen in der Hand bewusst, ist da das Gefühl „meine Hand“. Wenn die Hand etwas berührt, ist da die Erfahrung „ich fühle.“ Wenn wir den Gegenstand oder seine Beschaffenheit identifizieren, vervollständigen wir den Satz zu: „Ich fühle etwas.“ Was ich fühle, ist von mir getrennt. Wenn ich einem anderen Menschen begegne, erlebe ich dieselbe Spaltung: Ich sehe dich, oder ich berühre dich. In dem Maße, wie wir diese Unterscheidung vollständig verkörpern – das heißt, wir leben die Subjekt-Objekt-Spaltung schließlich als die Wahrheit statt nur als eine Art und Weise, der schlichten Sinneserfahrung eine Bedeutung zu geben –, wird die Getrenntheit für uns real. Ob unsere Kultur nun das Gefühl in uns nährt, dass dieses Selbst in eine größere Gesellschaft eingebettet ist, oder nicht – immer erzeugt jeder Moment des zwischenmenschlichen Kontakts subtile Gefühle privater Autonomie. Das ist universell und keineswegs schlecht. Wenn wir aber diese Identifikation nicht erkennen, bereiten wir den Boden für Einsamkeit und andere Formen der Seelenqual.