Einsichts-Dialog

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Ein weiterer großer Durchbruch ergab sich aus einer stillen Verzweiflung meinerseits, während ich ein Retreat bei der „Bhâvanâ Society“ leitete, einem Kloster in West Virginia. Meinem Prinzip folgend, auf das Entstehen zu vertrauen – das heißt, den Ritt auf dem Moment nicht durch irgendwelche Pläne stören zu lassen –, hatte ich einem Raum voller Menschen gerade die Meditationsanweisung „Innehalten“ vorgestellt, aber ich hatte kein Kontemplationsthema für den Dialog. Während die Gruppe von Mönchen, Nonnen und Laien-Praktizierenden paarweise dasaß, wurde es still im Raum, als ich mitten im Satz abbrach und nicht weiterwusste. Wie ich so vor der riesigen Buddhastatue stand und auf Inspiration hoffte, kam mir die Geschichte in den Sinn, wie Buddhas spirituelle Suche begonnen hatte. Bei Retreats mit Bhante Punnaji hatte ich diesem Thema nachgespürt, und das trug nun Früchte. Gautama, der Sohn eines Stammesfürsten, wollte etwas vom Leben außerhalb seines beschützten und privilegierten Daseins sehen und bat seinen Kutscher, ihn durch die Stadt zu fahren. Auf dem Weg sah er einen Alten, einen Kranken und eine Leiche. Jedesmal fragte er, ob dies allen zustoße; jedesmal bekam er zur Antwort: Ja, alle Menschen werden alt, krank und sterben. Der wohlbehütete Neunundzwanzigjährige war von diesen drei Boten schockiert, der Schock machte ihn aber auch geradlinig und aufrichtig. Er gab sein weltliches Leben auf und begab sich auf den Weg, der ihn zu tiefgründigem Erwachen führen sollte. In dem Moment, in dem ich mir diese Geschichte ins Gedächtnis rief, drehte ich mich um und schlug der Gruppe die erste von drei Kontemplationen vor: „Für Euren Dialog lade ich Euch ein zu einer Kontemplation über das Altern.“

Diese Kontemplationen schlugen eine Brücke zwischen der Lehre Buddhas und der zwischenmenschlichen Praxis und markierten den Beginn einer neuen Phase in deren Entwicklung. Obwohl mir das in seiner ganzen Tragweite noch nicht klar war, öffnete sich eine Tür zwischen dem Inhalt aller Weisheits-Traditionen und der Dialog-Praxis. Die grundlegenden meditativen Qualitäten dieser Praxis ließen sich bei der Kontemplation jedweder zentralen Aussage entwickeln. Die Aussagekraft dieser Inhalte – der Kontemplationen – klärte für mich die Beziehung zwischen Kontemplation und Meditation und zeigte mir den Weg zur Verdichtung der Meditationsanweisung auf drei simple Elemente: Innehalten – Entspannen – Öffnen; dem Entstehen vertrauen; tief zuhören – die Wahrheit sagen. Achtsamkeit und stille Besinnung waren das Fundament des meditativen Prozesses, während die Kontemplationen es möglich machten, dass die Praxis tief in unsere mentalen und emotionalen Konstrukte hinabreichte und sie mit einer Kraft transformierte, die ich mir niemals hätte träumen lassen. Auf diesem Fundament ruht heute der Einsichts-Dialog.

Seine gegenwärtige Entwicklungsphase begann damit, dass ich andere darin ausbildete, die Praxis weiterzugeben. Durch ihren Beitrag wurden die Retreats offener und boten mehr Zeit für die stille Meditation. Am wichtigsten ist, dass die neuen Lehrer ihr persönliches Verständnis des Dhamma und ihren individuell einzigartigen Lehrstil in die Dialogpraxis eingebracht haben. Weil diese Beiträge sich in den Kern der Praxis integrieren, ist dies nun auch eine Zeit des Blühens und Gedeihens.

Aus meiner Suche, wie sich die Lehren des Buddha so ehrlich wie möglich auf die Meditation wie auch auf menschliche Beziehungen anwenden lassen, ist ein neues Verständnis des Dhamma erwachsen. Diese Vision umfasst persönliche und gegenseitige Meditation und wird geleitet von einer Einsicht in die menschliche Verletzbarkeit und einer Vision des menschlichen Potentials zur Freiheit. Ein Weg, wie Menschen aufwachen und sich miteinander wohlfühlen können, hat sich aufgetan. Dieser Weg beinhaltet Gruppenpraxis im Retreat und in anderen organisatorischen Formen wie auch die Anwendung der Dialog-Leitlinien im Alltag, um ihn zu einem Prozess des Aufwachens und der Befreiung zu machen. Mein Weg dorthin schuldet vieles der Weisheit, dem Scharfblick und dem Rat anderer. Vor allem aber ist die Entwicklung des Einsichts-Dialogs der Spur des Dhamma gefolgt; ich versuche einfach, dem Geist dieser bemerkenswerten Entwicklung treu zu bleiben.

5 David Bohm, On Dialogue (London: Routledge, 1996). Deutsch: Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen, hg. von Lee Nichol, Klett-Cotta, Stuttgart 1998

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Ein waches menschliches Wesen

In den Lehren des Buddha geht es um das menschliche Leben. Um seine Lehren haben sich viele Rituale und Philosophien angesammelt – in jedem Land in anderer Form –, doch der Kern der Lehren hat damit nichts zu tun. Er hat damit zu tun, wie wir mit unserem allzu menschlichen Leben aus Leid und Freude klarkommen. Wir können Mut fassen angesichts der Tatsache, dass der Buddha ein Mensch war, kein Gott. Der Buddha lehrte, was er durch seine eigene menschliche Erfahrung gelernt hatte. Er bot seine Lehre anderen menschlichen Wesen an, die daraus Nutzen ziehen konnten, weil sie Menschen waren. Diese Menschlichkeit leugnet nicht die subtilen Aspekte unseres Wesens, diese Eigenheiten, die nur ein stiller, hellwacher Geist erkennt. Mit dem sensiblen Körper und Herz-Geist eines Menschen geboren zu werden, ist Geschenk und Herausforderung zugleich. Die Einsichten des Buddha sind von großer Tiefe und aktueller Relevanz, weil sie auf seiner direkten, im Körper verankerten Erfahrung beruhten. Er meisterte die Herausforderungen seines Lebens als Mensch und lehrte andere, es ihm gleichzutun. Es ist kein großer Unterschied, dass die Erde meine bloßen Füße jetzt ein paar tausend Jahre später berührt oder die Gedanken, die sich in meinem Kopf tummeln, vom Internet beeinflusst sind oder meine Emotionen ein modernes westliches Flair haben. Die Fakten unserer gemeinsamen Physiologie und der zartfühlenden Reaktionen des Herz-Geistes garantieren, dass diese menschlichen Lehren nach wie vor relevant sind.

Der Buddha erkannte, dass wir die meiste Zeit unseres Lebens in Stress und Verwirrung zubringen. Unser Schmerz wird genährt durch Hunger und Habenwollen und eine oft nahezu komplette Unkenntnis der Mechanismen von Ursache und Wirkung. Er sah, dass wir eine Fähigkeit zu Klarheit und Mitgefühl haben, die weitgehend ungenutzt bleibt, und dass wir fähig sind, frei zu sein von Ignoranz und irreführenden egoistischen Wünschen. Um diese Fähigkeiten zu realisieren, verordnete der Buddha einen tugendhaften Lebensstil und dazu eine Palette von, wie ich es nenne, außergewöhnlichen persönlichen Übungen. Das sind die Meditationspraktiken, die die meisten von uns kennen. Diese Praktiken verlangen von uns individuelle, persönliche Anstrengung (ob alleine oder in der Gruppe); sie unterscheiden sich von unseren gewöhnlichen Aktivitäten, und man übt sich in ihnen zu Zeiten und an Orten, die gezielt der Förderung von Qualitäten wie Achtsamkeit, stille Besinnung, Konzentration und Offenheit dienen. Diese Lehren entfalten sich in unserem alltäglichen Leben wie auch während der für die Praxis reservierten Zeiten. Wie die Lehren anderer Weisheitstraditionen sind sie verankert in Jahrtausenden von empirischer Forschung darüber, was moralisch vertretbares Verhalten ist und zu persönlicher Zufriedenheit führt. Wenn wir uns auf den Weg einlassen, machen uns diese klaren Resultate zuversichtlich und bilden auch die Basis für die weitere Entwicklung auf dem Weg.

Menschen aus unglaublich verschiedenartigen Kulturen haben die Lehren des Buddha ausprobiert und entdeckt, dass sie helfen. Während sie diese Lehren auf ihr Leben anwendeten und sich zu eigen machten, nahmen die Lehren den Geschmack und die Eigenarten verschiedener kultureller Formen und örtlicher Weisheitstraditionen an. Praktiken, Philosophien, Götter, Rituale, Entdeckungen blühten auf. Chinesische Einsiedler im 6. Jahrhundert gab es, Zen-Krieger im 12. Jahrhundert, und auf der tibetischen Hochebene praktizierte die Urbevölkerung eine Mischung aus Zauberei und Meditation. Von der Leerheit des Zen bis zur „Human-Potential“-Bewegung haben diese Versuche sich hauptsächlich auf individuelles und persönliches Wachstum konzentriert und ein breites Spektrum individueller und persönlicher Meditationsmethoden eingesetzt, um dieses Wachstum zu fördern – obwohl Meditation normalerweise im unterstützenden Umfeld einer Gruppe oder eines Klosters gelehrt wurde. In manchen Traditionen war das Leben in der Gemeinschaft eine zentrale transformative Praxis, aber sogar in diesen Traditionen war die Meditation selbst eine rein innerliche und persönliche Sache. Diese Konzentration auf das Individuelle zeigt sich auch heute, in der Erforschung der neurophysiologischen Basis von Emotionen und meditativen Zuständen. Während all dieser Entwicklungen sind zwischenmenschliche Ausprägungen individueller Praxis und zwischenmenschliche Formen der Praxis weitgehend außer Acht geblieben.

Viel von dem Stress in unserem Leben entsteht im Zusammenhang mit anderen Menschen; viel von unserer Abhängigkeit, Angst und Sehnsucht hat mit Beziehungen zu tun. Unsere Beziehungen sind oft ein Morast, in dem Ignoranz gefördert wird und gedeiht. Jemand verletzt zum Beispiel meine Ehre, und der Zorn kocht hoch. Ich verbeiße mich in meine scheinbare Verletzung und werde blind dafür, wie die Dinge sich wirklich verhalten. Aus solch einem zwischenmenschlichen Kontakt entstehen Gedanken und Emotionen, die wuchern und zu Auseinandersetzungen, Streit und Krieg führen. Wenn wir mit anderen in Kontakt treten und uns dabei hinter oberflächlich guter Laune oder einer Mauer des Hasses verstecken, denken wir nicht klar. Schnell sitzen wir in der Falle immer gleicher Gewohnheits-Kreisläufe. Da unser Potential zu mehr Unbefangenheit, Freude und Mitgefühl uns nicht bewusst ist, lassen wir die Früchte zwischenmenschlicher Freiheit links liegen – wir wissen nicht einmal, dass sie existieren. Wie das Leben wohl wäre ohne die zwischenmenschlichen Ängste und Sehnsüchte? Wie würden wir andere Menschen behandeln, wenn wir ihre Verwandtschaft mit uns erkennen und sehen würden, dass unser Herz genauso traurig und verletzt ist? Können wir unsere sozial konstruierten Selbstbilder wirklich aufgeben? Und wenn ja, wie könnte unser Leben aussehen? Wie könnte die Welt aussehen, wenn wir einander ohne die Verdrehungen von Stress, krampfhafter Fixierung und Habenwollen begegnen könnten? Was wäre, wenn wir – gemeinsam – die Liebe kosten könnten, die in einer empfänglichen Stille liegt?

 

Es scheint nicht klug, die zwischenmenschliche Dimension unserer spirituellen Entfaltung zu vernachlässigen. Zwischenmenschliche Praktiken können uns helfen, zufriedenere, fürsorglichere Menschen zu werden. Sie können auch den Weg zu außergewöhnlicher zwischenmenschlicher Entwicklung frei machen, einer Entwicklung, die der persönlichen Erkenntnis-Verwirklichung vergleichbar wäre, die von den Weisen früherer Zeiten beschrieben wurde und heute von der westlichen Psychologie neu entdeckt wird. Diese Entwicklung schließt die seltenen Zustände, bemerkenswerten Einsichten und Ansätze in Richtung Freiheit ein, die in tiefer Praxis entstehen können. Sie schließt auch die Verwirklichung unserer Fähigkeit ein, echte Fürsorge für andere zu haben und gütig und großzügig mit ihnen zusammenzuleben. Auf dem Weg zum Erwachen gibt es keine Trennung zwischen emotionaler und spiritueller Gefangenschaft. Frei zu sein und Mensch zu sein – ein anständiges menschliches Wesen –: Beides liegt auf demselben Weg außergewöhnlicher zwischenmenschlicher Entwicklung, einem Weg zu mehr Zufriedenheit, Weisheit und Mitgefühl.

Diese zutiefst menschliche Bedeutung des Weges ist zentral für die Lehre des Buddha, aber, wie Stephen Batchelor und andere dargelegt haben6, das konkrete Gefühl für die Person Gautama und dafür, wie seine Lehren die alltäglichen Probleme unserer Existenz behandeln, hat sich immer wieder vom Menschlichen weg in etwas Mythologisches verwandelt. Im frühen Buddhismus stellte man sich den Buddha irgendwann als jemanden vor, der ausschließlich in stiller Versenkung ruhte. Seine Rückenschmerzen, sein beängstigend gescheites Spiel mit der Sprache und sein ironischer Humor wurden ignoriert; für die meisten wurde er so zu einem übermenschlichen Ideal statt einem hoch entwickelten menschlichen Wesen. Es ging der Mensch verloren, der in seinem letzten Lebensjahr sagte: „Ananda, ich bin jetzt alt, in der Neige meiner Jahre, ein Greis, meine (Lebens-)Reise geht zu Ende, ich habe die Grenze erreicht: 80 Jahre werde ich alt. Wie ein abgenutzter Karren nur noch mit Hilfe von Riemen funktionsfähig gehalten wird, so ist auch mein Körper nur noch mit Bandagen funktionsfähig.“7

Als Reaktion auf diese Entmenschlichung wurde der Buddha im Mahayana-Buddhismus als Bodhisattva rehumanisiert – als jemand, dem ganz viel an den Menschen lag. Das konkrete Beispiel seines Lebens galt darin als viel beeindruckender als seine formalen Lehren. Im chinesischen Ch’an- und im japanischen Zen-Buddhismus wurde betont, dass er einer von vielen Buddhas gewesen sei – und da diese Traditionen sich auf eine Vielzahl von Überlieferungslinien großer Lehrer konzentrierten, traten sowohl die Menschlichkeit Gautamas als auch der Kern seiner frühen Lehren in den Hintergrund. Der Buddha und seine Lehre wurde in Tibet wieder revitalisiert und konkret gemacht, verkörpert im üppigen Reichtum der Praktiken des Vajrayana-Buddhismus. Im Lauf der Zeit gewannen Rituale und Formalitäten an Gewicht und verdrängten den Menschen und was er gelehrt hatte. In jedem dieser Fälle, vom frühen Buddhismus und der Theravada-Tradition bis zu Mahayana, Zen und Vajrayana, in einer Gesellschaft nach der anderen, schwand der Sinn für diesen voll entwickelten Menschen Buddha. Und jedesmal, wenn der Sinn für Buddhas Menschlichkeit verloren ging, ging auch eine unbezahlbare Erkenntnis verloren: dass aus diesem fleischlichen, fruchtbaren menschlichen Erleben Befreiung erblühen könnte.

Menschen sind eine soziale Spezies. Der spirituelle Weg wird in diesem Buch als etwas präsentiert, was unsere angeborene, unausweichlich soziale Natur mit einschließt. Der Dhamma wird in sehr direkten, menschlichen Begriffen dargeboten und muss daher unser Leben in Beziehungen umfassen. Die spezielle Praxis, die ich hier als Teil dieses Weges anbiete, der Einsichts-Dialog, ist sowohl eine Praxis für die Lebensführung als auch für das intensive Retreat. Sie deckt jenen Teil des Weges ab, der am meisten vernachlässigt worden ist – den zwischenmenschlichen –, und ermöglicht tiefe Abgeklärtheit und Einsicht, begleitet von engagiertem Mitgefühl. Die Weisheit, die aus den Problemen von Buddhas Erfahrung als Mensch entstanden ist, bezieht sich auf die Probleme, denen wir jeden Tag gegenüberstehen. Schließlich sind das Erhabene und das Alltägliche in dieser gemeinsamen menschlichen Erfahrung miteinander verflochten.

6 Stephen Batchelor, Buddhism Without Beliefs (New York: Riverhead Books, 1997), S. 4 f. Deutsch erschienen unter: Buddhismus für Ungläubige. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1998.

7 Dîghanikâya (=DN) 16.25, zitiert nach: Hans Wolfgang Schumann, Handbuch des Buddhismus, Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München 2000, S. 123. (Wo nicht, wie hier, eine deutsche Quelle angegeben ist, stammen die deutschen Versionen aller Zitate vom Übersetzer.)

Teil zwei


Vier zwischenmenschliche Wahrheiten

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Die Erste Edle Wahrheit:

Zwischenmenschliches Leiden

Der Buddha war ein praktischer Lehrer. Die Regeln für das Klosterleben, seine Analyse des Geistes und eine breite Vielfalt von Meditationspraktiken erwuchsen alle aus der Erforschung des

menschlichen Erlebens. Bei jeder Gelegenheit lehrte er die Mitmenschen, sich nicht auf sein Wort zu verlassen, sondern selbst nachzuprüfen, wie das Leben ist. Die grundlegendste Lehre des Buddha, die Vier Edlen Wahrheiten, waren auch das, was er nach seiner Erleuchtung als Erstes lehrte. Diese Lehraussagen werden hier in zwischenmenschlichen Begriffen präsentiert.

Im Geiste dieses „Prüfen Sie es selbst nach“ wird der Leser in diesem Teil des Buches ein paar Gedanken oder kleine Beobachtungs-Übungen zu den vorgestellten Wahrheiten finden. Sie verstehen sich als Beispiele dafür, wie diese Weisheit sich erfahrungsmäßig verifizieren und direkt in unser Leben übernehmen lässt. Sie liefern Anhaltspunkte für diejenigen, die diese Lehren verinnerlichen und von ihnen profitieren möchten.

Die Tatsache des Leidens

Wenn wir unsere menschliche Grundsituation8 ehrlich anschauen, sehen wir Stress.

Von vereinzelten Momenten der Freude unterbrochen, sehen wir Stress in kleinen Unannehmlichkeiten – der schrillen Stimme eines Nachbarn, Harndrang – wie auch in dem riesigen Leid bedingt durch Krankheiten, Scheidungen und Naturkatastrophen. Ganze Industriezweige haben sich entwickelt, die uns helfen, uns von unserem Elend abzulenken, unsere Frustrationen und Beschwerden abzutöten: elegante Kleidung, luxuriöse Häuser, fesselnde Filme, Musik und Alkohol und die Kneipen, die ihn anbieten. Das Leiden des Menschen ist nichts Neues.

Wir können diesen Spannungen direkt ins Auge blicken; sie sind immer da, wenn wir es wirklich wissen wollen. Oft wollen wir dem Leiden nicht ins Auge sehen. Meist fühlt man sich sicherer, es zu leugnen oder zu ignorieren. Vielleicht haben wir Angst, das Leiden würde intensiver werden, sogar überwältigend, wenn wir es, ohne auszuweichen, anschauen. Diese Befürchtungen sind allerdings unbegründet. Der Tatsache des Leidens ganz klar ins Auge zu blicken gehört zu den wenigen Dingen, die wir tatsächlich tun können und die insgesamt wirklich Erleichterung bringen. Dies wurde zu Buddhas Zeiten empirisch entdeckt und kann auch jetzt experimentell wieder nachgewiesen werden.

Stress ist manchmal versteckt, weil er mit Glück gemischt ist. Als zum Beispiel meine Söhne in den Ferien zu Hause waren, war unser Haus voller Leben, überbordender Aktivität und dem Selbstbehauptungsdrang frischgebackener junger Erwachsener. Überall stand Essen herum, und der Lärm war groß. Die Tage waren erfüllt mit Witzen, Ringkämpfen, zärtlichen Momenten. Aber als die Jungs wieder abfuhren, sagte meine Frau, sie fühle sich „abgenagt“ – wie von Geiern. Die Zeit war voller Freude – aber auch voller Arbeit, Aufregung und dem Geben und Nehmen, das den köstlichen und dornigen Charakter des Familienlebens ausmacht.

Bei anderen Arten von Stress ist das Elend ganz eindeutig. Einmal beschrieb uns eine Meditierende, wie es für sie war, mit einer sehr schwächenden und schmerzhaften Krankheit zu leben. Während wir an einem klaren Herbsttag zusammensaßen, die Bäume rund um den Meditationssaal in allen Farben leuchteten, weinte sie beim Sprechen. Noch entnervender als die körperlichen Schmerzen war für sie die Angst, dass die Krankheit nie mehr weggehen würde. „Es gibt keine Heilung, keinen Ausweg, nicht einmal eine verlässliche Prognose“, sagte sie. „Ich kann heute nicht sagen, ob ich morgen dieses oder jenes machen kann – nicht einmal, ob ich morgen überhaupt aufstehen kann.“ Und unter diesem schmerzhaften Zustand ständiger Anspannung verbarg sich der noch tiefere Schmerz der Einsamkeit: Ohne einen Partner und ohne angemessene Unterstützung war sie mit der Krankheit konfrontiert. Die letzten Jahre waren für sie eine Wüste gewesen. „Die Leute wissen nicht, was chronische Schmerzen sind. Nach einer Weile wollen sie nicht mehr darüber reden, nicht mehr mit mir reden. Ich fühle mich so schrecklich einsam.“

Viele Arten von alltäglichem Stress sind weniger offensichtlich. Vielleicht verfolgt uns den ganzen Tag eine diffuse Unzufriedenheit oder Entfremdung und überschattet unser natürliches Potential zu gelassenem Wohlbefinden und Verständnis. Heute wollen wir einfach nicht am Schreibtisch sitzen; wir haben einfach keine Lust, den Müll rauszubringen. Unsere Beziehungen sind voll solcher kleinen Unannehmlichkeiten: Wir haben keine Lust, mit der Kassiererin zu reden; wir drücken uns vor einem Rückruf. Ich erinnere mich, wie mich einmal mein pubertierender Sohn mit einem verächtlichen Grunzen abblitzen ließ. Kein großes Drama: Aber in diesem Moment wurde ich aus meiner Welt heraus in einen kleinen Käfig der Unzufriedenheit gerissen.

Sogar was uns Spaß macht, macht uns für Schmerz erst recht anfällig. Manchmal denken wir klar genug, um diesen Zusammenhang zu sehen. Eine Teilnehmerin an einem Dialog-Retreat beschrieb einmal sehr feinfühlig eine Serie von Stress-Erlebnissen, die schnell aufeinander folgten: ein angenehmes Gefühl der Liebe zu den anderen Retreat-Teilnehmern; dann Freude und Erleichterung über die Unterstützung dieser Gruppe; dann die Furcht, diese Gemeinschaft zu verlieren; dann ein Gefühl der Traurigkeit, gefärbt von der Erinnerung an frühere Verluste; dann ein geändertes Gefühl der Liebe, nun weniger angenehm und durch eine gewisse Vorsicht gedämpft. Sie fügte hinzu: „Das Ganze lief innerhalb von ein oder zwei Minuten ab.“ Dass sich Emotionen verändern wie ein Kaleidoskop, ist nicht ungewöhnlich; Freude kann sich schnell in Traurigkeit verwandeln, Traurigkeit wieder in etwas anderes. Die zwischenmenschlichen Verluste, die wir alle schon erlitten haben – Tod, Scheidung, Traumata, Umzüge, Stellenwechsel oder das langsame Sich-Auseinanderleben von Freunden –, haben uns konditioniert, sind fast ein Teil von uns geworden und beeinflussen tief greifend unser Erleben. Wie Schatten verbergen sich die Prägungen durch unsere Erlebnisse am Rande unseres Bewusstseins, bereit, in Sekundenschnelle zuzuschlagen, wenn die Bedingungen stimmen. Wir sind immer empfindlich und manchmal regelrecht wund – geben wir es ruhig zu! Sogar die, die immer eine rauhe Schale zeigen, haben das Leben mit einem sensiblen Nervensystem und in äußerster Verletzlichkeit angefangen. Wir legen uns nur in dem Maße eine Rüstung zu, wie die natürliche Sensibilität der Kindheit abgescheuert wird und die Hornhaut wächst, die wir „Erwachsensein“ nennen.

Aufgrund unserer komplexen Konditionierung kann sogar Freude Stress bringen, weil wir nach der Quelle des Glücks greifen und sie festhalten wollen – verkrampft und unausgeglichen, obwohl vielleicht gar keine Gefahr der Trennung oder des Verlustes besteht. Kleine Gewinne und Verluste ereignen sich fast andauernd. Wohlgefühl, Unbehagen; Gewinn, Verlust; Lob, Tadel: Sie zeigen uns den konditionierten Charakter des Lebens. Wir können der grundlegenden Tatsache nicht entrinnen, dass es, solange wir einen Körper haben, auch irgendwie Schmerz und Unbehagen geben wird. Wir können der Tatsache nicht entrinnen, dass die Welt um uns herum sich andauernd verändert; vergnügliche oder angenehme Situationen verändern sich zwangsläufig oder verschwinden. Wir selbst ändern uns; wir sind heute nicht mehr, was wir gestern waren. Das Verdrängen dieser Dinge verbannt uns aus der Realität und zieht uns immer tiefer in Entfremdung und Angst hinein.

 

Wenn wir aber ganz klar hinschauen, wie die Dinge eigentlich sind, können wir dem Dschungel unnötiger Angst entrinnen. Sich in einem echten Dschungel zu orientieren heißt, nach Erkennungszeichen zu suchen, wo wir sind und wo wir gewesen sind. Genauso täten wir gut daran, in diesem Dschungel des Elends nach Wegweisern zu suchen. Ein Konstrukteur von Autos kann es sich nicht leisten, die Reibung zu ignorieren; ein Architekt muss die Schwerkraft verstehen. Genauso darf jemand, der den Frieden verstehen will, nicht unwissend sein, welcher Mechanik Stress folgt. Ein Mensch, der Freude sucht, kann es sich nicht leisten, unwissend zu sein hinsichtlich der Kausalität, der das Leiden folgt.

Eine nüchterne Einschätzung des Leidens

Der Buddha sah ganz klar, dass Leiden eine zentrale Tatsache des menschlichen Lebens ist, und versuchte seinen Mechanismus zu verstehen. In seiner allerersten Unterweisung nach der Erleuchtung sagte er: „Dies, Mönche, ist die Edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist leidhaft, Alter ist leidhaft, Krankheit ist leidhaft, Tod ist leidhaft; Trauer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind leidhaft.“9 Innerhalb dieser grundlegenden Lehre können wir zwei große Untergruppen des Leidens unterscheiden: physisches oder biologisches Leiden und seelisch-psychologisches Leiden.

Geburt, Alter, Krankheit und Tod beinhalten den Körper betreffendes, biologisches Leiden. Sie entstehen zwangsläufig aus dem Geboren-Werden in einen Körper, der mit ruppigen, süßen, lauten, übelriechenden und bunten Objekten in Kontakt kommt. Kaum sind wir aus dem Geburtskanal heraus, überfallen uns kalte Luft, die unsere Haut berührt und in unsere Lungen dringt, grelle Lichter und die ersten ungedämpften Geräusche. Mutter bietet Geborgenheit, aber es ist nicht mehr dasselbe, es ist nicht genug. Die nächsten x Jahre muss dieser Körper ernährt, innerhalb eines gewissen Temperaturbereiches gehalten, vor Verletzungen und Mikroben geschützt und, wenn er nicht beschützt werden kann, bei der Heilung unterstützt werden. Dieser empfindliche Körper leitet selbst gewisse Veränderungen ein und steht dabei von der Morgen- bis zur verwirrenden Abenddämmerung des Lebens hormonelle und neurochemische Stürme durch. Physische Gestalt, Gefühle und Wahrnehmungen zu haben bedeutet, andauernd von den angenehmen und unangenehmen Dingen dieser physischen Welt berührt zu werden.

Wir erleben jedoch auch Leiden, das nicht direkt aus der physischen oder biologischen Situation herrührt. Trauer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung rühren aus unserer Reaktion auf eine erlebte Situation her, nicht aus der Situation selbst. Wenn ich mir zum Beispiel die Hand breche, erlebe ich mehr als nur den physischen Schmerz des geschädigten Gewebes und der Nerven, die lautstark Aufmerksamkeit fordern – ich rege mich auch darüber auf, dass ich einen Monat lang nicht werde arbeiten können. Vielleicht ärgere ich mich auch über mich selbst, weil ich unvorsichtig war. Diese Emotionen sind an sich schon schmerzhaft. Sie sind auf Seelischem beruhendes, psychologisches Leiden. Was „durch gedankenhafte Berührung schmerzhaft, unangenehm empfunden wird“10, wie der Buddha es nannte, steigert unser Leiden ungemein. Sorge, Angst, Verwirrung und Unruhe entstehen aus den Ideen, Hoffnungen und Erinnerungen, die wir im Verlauf eines Lebens aufbauen. Wir haben einen konstruierenden Geist und ein Bewusstsein, das nach allem greift, was ihm der Geist anbietet; das bedeutet, dass wir ständig von den angenehmen und unangenehmen Produkten unserer emotionalen Geschichte berührt werden.

An einem Sommermorgen sah ich einmal ganz klar, wie der wuchernde Geist Leiden erzeugt. Ich wachte früh auf. Statt nach unten zu gehen und zu meditieren, entschied ich mich dafür, mein Erleben zu erforschen, wie es hier gerade war, im Bett. Als ich zu den Deckenbalken hochsah, die im Morgenlicht glänzten, sann ich den Aussagen des Buddha zu Gefühl und Wahrnehmung nach. Ich nahm wahr, wie Licht das Auge berührte, und das Auge funktionierte und eine Bewusstheit dieser Funktion – was wir „Sehen“ nennen – entstand. Im Moment des Kontaktes schien sofort ein „Ich“ da zu sein, ein Erleben: „Ich sehe jetzt.“ Immer wieder ließ ich diese Vorstellung los und entspannte mich in einfache Bewusstheit, einfaches Sehen. Als sich das stabilisiert hatte, tat ich dasselbe mit Geräuschen und körperlichen Empfindungen und kam damit zur Ruhe, heraus aus der gewohnheitsmäßigen Konstruktion eines Selbst.

Während dies geschah, drehte sich Martha, meine Frau, auf die andere Seite, und ihr Fuß berührte meinen Fuß. Sofort wallte eine Emotion auf. Es war kuschelig; ich war glücklich. Aber mit Hilfe des Flusses der Praxis ließ ich die geistige Fixierung los und stellte fest, dass dies einfach nur Berührung war. Es gab ein berührbares Objekt (Marthas Fuß), ein funktionierendes Sinnesorgan (meine Haut) und ein Bewusstsein der Berührung.

Zusammen mit diesem simplen Kontakt entstand in Beziehung zu „ihr“ ein „Ich“. Aus unserer langen, liebevollen gemeinsamen Geschichte kam auch ein Glücksgefühl auf. Dann bewegte Martha ihren Fuß weg. Sofort wurde ich traurig. Die Traurigkeit war leicht schmerzhaft. Ich hatte das angenehme Gefühl festhalten wollen, das ich mit dem schlichten Ereignis einer Berührungsempfindung verbunden hatte. Die Reaktion war automatisch, war konditioniert. An dieser ersten Welle der Traurigkeit hielt das Denken etwa zwei Sekunden lang fest; dann erkannte ich sie als einen Geisteszustand, der durch die Umstände ausgelöst worden war. Ich entspannte mich und blieb wieder beim Erleben des Berührungsempfindens von Moment zu Moment. Aber ich mochte dieses kuschelige Gefühl. Ich schaute zu, wie dieses Mögen sich steigerte, bis ich dachte: „Meditation hin oder her, ich möchte mehr Berührung.“ Also streckte ich meinen Fuß nach meiner Frau aus. Aber Martha schlief immer noch, wollte ungestört sein und drehte sich weg. Sofort fühlte ich mich abgelehnt. Dieses Gefühl entstand automatisch, eine Art Leidensreflex.

Wie entstand dieses Leiden? Seine unmittelbare Ursache war die konditionierte Emotion der Traurigkeit aufgrund einer vermuteten Ablehnung. Aber was steckte dahinter? Das Erlebnis beruhte auf einer Sinneserfahrung (die Berührung meiner Frau), dem Sinnesorgan (meine Haut) und einem Wahrnehmen körperlicher Empfindung, die alle sich mit bereits existierenden Konstrukten (Liebe zu meiner Frau und unserer gemeinsamen Geschichte) verbanden, um die Bedingungen für ein seelisch-emotionales Glückserlebnis zu liefern (meine Geliebte berührt mich). Das Glücksgefühl bei der ersten Berührung erzeugte den Wunsch nach mehr Berührung, was wiederum eine Anspannung in Form eines unbefriedigten Wunsches erzeugte (mein Verlangen). Dieser Hunger erzeugte Anspannung, die zu einer Handlung führte (ich streckte meinen Fuß aus), zu sich ergebenden Empfindungen (die kurze Berührung) und einer Emotion (flüchtiges Glücksgefühl). Darauf folgte weitere Anspannung, da komplexe Gebilde entstanden (ich interpretierte ihr Wegdrehen als Ablehnung, was konditionierte Ängste auslöste) sowie weitere Emotion (Traurigkeit).