Durch die Hölle in die Freiheit

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Ein Dieb unter uns

In der Reihe der Migranten gab es verschiedene Typen, unter anderem auch „schwarze Schafe“. Ich konnte solche Kreaturen kaum ertragen. Ich musste sie trotzdem dulden, weil faire Regeln des Zusammenlebens hier kaum jemandem wichtig waren.

Als wahrer Bösewicht entpuppte sich ein in Karlsruhe getroffener Jurek, der ironischer weise über viele Monate lang mein Zimmergenosse war. Zunächst in Göppingen und dann auch in Stuttgart bekamen wir das gleiche Zimmer zugeteilt. In der Unterkunft in Stuttgart wohnten wir zu zehnt, und kaum waren wir eingetroffen, stellte sich heraus, dass ein Dieb in unserer Mitte sein Unwesen trieb. Ab und zu ging jemandem das Geld verloren, insbesondere während der Alkohol-Partys. Einer von uns wurde geschickt, um den Schnaps zu kaufen. Jurek, ein netter Kerl, war ein besonders verlässlicher Bote. Er konnte niemandem Hilfe verweigern, wenn ihm jemand in der Not das Geld in die Hand drückte. Im Endeffekt fehlte den Kollegen nach der Party immer etwas Geld. Es gab auch einen jungen Zigeuner, Ciawa, der mit uns wohnte, aber es war kaum wahrscheinlich, dass er gegen seine heiligen Regeln verstoßen und seine Mitbewohner beklaut hätte.

Da ich mir mit Jurek ein Zimmer teilte, war ich der erste, der anfing, gegen Jurek Argwohn zu hegen. Etwas stimmte mit ihm nicht. Bald bestätigte die Realität meine Vormutungen, weil Jurek nicht auf der faulen Hand lag. Eines Tages, als ich schon ein paar Bierchen intus hatte, ging ich in mein Zimmer um zu schlafen. Zu diesem Zimmer hatten nur ich und Jurek den Zugang. Als ich am nächsten Tag aufwachte und die Hand in die Jackentasche legte, um die 10 DM auszuziehen, die mir vom letzten Tag übriggeblieben waren, fand ich das Geld nicht. Dieser Vorfall gab mir zu verstehen, dass Jurek der Dieb sein konnte. Als ich Jurek sagte, dass mir das Geld aus der Jacke fehlte, erwiderte er mit einem unschuldigen Lächeln, dass es schwer sei, den Überblick über das eigene Geld zu behalten, wenn man gleichzeitig trinkt. Er hatte zwar Recht, aber nicht in diesem konkreten Fall, weil ich nicht betrunken war und genau wusste, was ich tat. Ich dachte mir: „Na, warte du Früchtchen. Jetzt weiß ich Bescheid, dass du der heimliche Langfinger bist. Wir müssen das nur beweisen. Das wird bestimmt nicht einfach sein, aber es gibt doch viele schwierige Dinge auf dieser Welt zu leisten.“

Am nächsten Tag erzählte ich allen anderen von meiner Auseinandersetzung mit Jurek. Der Zigeuner Ciawa atmete erleichtert auf, und er stand nie mehr im Verdacht uns zu beklauen. Wir wussten also schon, dass Jurek uns beklaute, wussten aber nicht, wie wir dies unter Beweis stellen konnten. Meinen Kumpeln wurde jetzt klar, warum ihnen nach den Partys immer etwas Geld fehlte. Sie merkten, dass Jurek nie den ganzen Rest zurückgab, wenn er ihnen Alkohol mitbrachte. Er war sich bestimmt sicher, dass in diesem feierlichen Kontext niemand das Geld nachrechnen würde. Der einheimische Dieb war vorsichtig, und es war äußerst schwer ihn in die Falle zu locken. Da das Klauen in seiner Natur lag, wollte er mit dem Stehlen nicht aufhören. Früher oder später musste ihm doch ein Fehler passieren. Und darauf warteten wir.

Nach einer Zeitlang ging ich mit meiner Freundin zurück aus der Kneipe. Da wir ein paar Bierchen intus hatten, gingen wir schnell schlafen. Jurek ahnte nichts und hatte Pech. Genauso wie in früheren Fällen dieser Art griff er zu meiner Jackentasche. Dort fand er die 50 Mark, die ich dort vorsätzlich liegen ließ. Der Kerl schluckte den Köder. Am nächsten Tag bestätigte meine Freundin kurzerhand den Diebstahl. Nun hatten wir schlagkräftige Beweise, dass unsere Verdächtigungen gegen Jurek nicht grundlos gewesen waren. Der Zigeuner war vor Freude so aufgeregt, als wenn er eine Flasche Wodka getrunken hätte.

Er war es auch, der die Selbstjustiz an Jurek mit aufrichtigem Vergnügen führte. Ich ernannte ihn zu dieser ehrenvollen Funktion. Ich hatte volles Recht darauf, weil ich Jurek auf frischer Tat dabei ertappt hatte, als er in meine Falle gelockt wurde. Ciawa führte die Vollstreckung meisterhaft durch. Zunächst fragte er Jurek, als ob der Angeklagte sein geliebter Sohn sei, warum er seine eigenen Kollegen beklaute. Dann schickte er ihn, um Alkohol zu kaufen. Fortan musste er aber für die Spirituosen für uns selbst aufkommen.

Nach einigen Pinnchen lebte sich Ciawa in seine Rolle ganz gut ein und verabreichte dem Dieb ohne Vorwarnung eine ordentliche Ohrfeige. Das war aber erst ein Vorspiel zu dem, was auf ihn zukam, und zwar zu immer ausgeklügelterem Foltern verschiedener Art. Auf mein Verlangen sollte der Zigeuner dem Schuldigen keine dauerhaften Verletzungen zufügen, sondern einfach eine ordentliche Lektion erteilen. Deshalb wendete Ciawa systematisch eine psychologische Folter an. Zwischendrin kam körperliche Gewalt hinzu. Man drehte ihm die Ohren auf den Rücken und verpasste ihm Ohrfeigen. Das Letztere war kein harmloses Spiel – nach solchen Schlägen verzerrte sich das Gesicht von Jurek um 90 Grad und manchmal auch mehr.

Ciawa, der junge, aber schon erfahrene Folterknecht machte ab und zu Pausen. Er spülte seine Arbeit mit heftigen Dosen Schnaps nach, den Jurek mitbrachte. Er ermutigte seine Opfer zum Mitmachen. Der Folterknecht vertraute sich seinem Opfer an, als wenn Jurek sein eigener Bruder gewesen wäre. Die Opfer hofften daher, dass die Folter schon vorbei gewesen wäre. Im Gegenteil. Eine unerwartete Ohrfeige kam. Schwebte der erleichterte Kerl schon im Himmel, so putzte ihn der Richter brutal herunter und ließ ihn sich davon überzeugen, dass das Spiel noch nicht vorbei war und sich dem Ende noch lange nicht zuneigte.

Ciawa war erst neunzehn, aber in diesem Alter wies er eine besondere Begabung in puncto Foltern auf. Er war dazu geeignet, Foltern im großen Stil durchzuführen und dadurch den großen Diktatoren dieser Welt Beistand zu leisten. Ich glaube, dass er sein Talent vergeudete, indem er sich einfach in Deutschland um ein Asyl bewarb. Er hätte in irgendeiner Bananenrepublik in Lateinamerika oder Afrika um ein Asyl bitten sollen. Dort hätte er eine unglaubliche Karriere gemacht. Ciawa entpuppte sich als ein Fachfolterer. So mancher Bandit konnte sich viel von ihm abschauen. Sogar die organisierten kriminellen Banden hätten seine Fähigkeiten gerne in Anspruch genommen.

Das Spektakel erreichte seinen Höhepunkt, als Ciawa den Hals seines Opfers festhielt und sagte, dass er Jurek nun zu seiner Frau machte. Als Zuschauer von diesem Theater wussten wir, dass Ciawa nur Spaß machte, aber der Dieb wusste es nicht und erschrak grenzenlos. Sein von den Ohrfeigen rot gewordenes Gesicht verblasste, aber die Spuren der Torturen ließen diese Blässe nicht allzu lange anhalten. Endlich wurde sein Antlitz halbwegs violett und grau.

Die Foltern dauerten bis in die Puppen. Jurek war schon ein psychisches Wrack. Später ging nichts mehr verloren. Meine Rechnung mit Jurek beglich ich, und zwar mit einem hohen Prozentsatz, weil ich die Sachen konfiszierte, die ich brauchte.

Ab diesem Zeitpunkt war Jurek ein Prügelknabe. Jeder konnte ihm nach Belieben eine Ohrfeige verpassen. Wenn wir Lust auf Alkohol hatten, so musste er uns die Spirituosen kaufen und aus eigener Tasche bezahlen. Er war für uns wie ein Gesetzloser. Wäre ihm etwas Schlimmes widerfahren, hätte ihm wahrscheinlich keiner von uns geholfen. Noch zweimal bekam er Prügel bei uns zu Hause dafür, dass er jemandem von außen übel mitspielte. Er bekam eine Tracht Prügel von den Leuten, die nicht bei uns wohnten, und niemand rührte einen Finger, um ihm zu helfen. Kein Wunder, dass der arme Kerl händeringend eine neue Unterkunft suchte. Bald war er erfolgreich.

Noch vor seiner Auswanderung nach Kanada begegnete ich ihm ein paar Mal in Stuttgart, aber diese Begegnungen waren für ihn nicht angenehm. Eines Tages auf einer polnischen Party, als ich schon einen in der Krone hatte, fragte ich Jurek höflich, ob er mir ein Bier spendieren würde. Er erwiderte mit einem herzhaften Lächeln, dass das gar kein Problem sei. Diesen Wunsch widerholte ich noch zweimal. Nachdem er mir drei Bier ausgegeben hatte und ich ihn zum vierten Mal fragte, zögerte er kurz. Ich ließ ihn aber nicht zu lange überlegen und unterbrach sein Grübeln mit einem kräftigen Faustschlag in seinen blassen Schädel. Der Hieb war so mächtig, dass er einige Meter entfernt landete. Ich holte meinen „Gesprächsbegleiter“ buchstäblich auf den Boden. Erst meine Freundin und andere Party-Besucher retteten ihn von einem noch größeren Prügel. Meine Partnerin kam auf mich zu und gab Jurek Bescheid, dass er so bald wie möglich von der Party abhauen sollte. Ich weiß, dass er mich damals wie die Pest mied. Und er war nicht die Ausnahme. Zu dieser Zeit nahm ich auf Menschen keine Rücksicht.

Zum letzten Mal begegnete ich Jurek, als er bei einer roten Ampel vor der Kreuzung im Auto saß. Ich wollte mitfahren, aber die Ampel wurde gerade rot und versperrte mir den Weg. Als er mich sah, war er zutiefst erschrocken. Ich griff schon fast nach der Klinke, aber das grüne Ampellicht half ihm aus der Bedrängnis. Er fuhr mit quietschenden Reifen ab, und ich versuchte absichtlich einen sehr enttäuschten Eindruck zu machen, da er mir entkam. Es ging mir darum ihn zutiefst zu beeindrucken und seine Befürchtungen in Bezug auf mich zu bestätigen. Sicherlich schaute er sich immer vorsichtig um und prüfte mit seinen arglistigen Augen, ob ich mich nicht in der Nähe befand.

Politisches Asyl in den USA

Ich wollte nicht dauerhaft in Deutschland bleiben. Das sollte nur ein Transitland für mich sein. Mein endgültiges Ziel war Kanada. Ich nahm den Kontakt mit dem polnischen Auswanderungsbüro in München (Polish American Immigration & Relief Committee Inc.) auf, weil ich nach einer Anlaufstelle suchte, die mich fachlich unterstützen konnte. Mir wurde gesagt, dass die Chancen für mich besser stünden, wenn ich mich für eine Auswanderung in die USA entscheiden würde, und dass sie meinen Fall übernehmen könnten, wenn ich mit solcher Lösung einverstanden wäre. Ich stellte ihr Knowhow gar nicht in Frage und entschied mich kurzerhand dafür. Dieser Vorschlag war auch deshalb günstig, weil ich die Unterstützung des von der US-Regierung ernannten Sponsors bekommen konnte, sollte ich es erfolgreich nach Übersee schaffen. In Praxis hieß das, dass ich einen Mentor bekommen würde, und dass die Amerikaner alle meine Lebenskosten im Laufe der Anpassungszeit inklusive Reisekosten finanzieren würden. Eine Voraussetzung war das Vorstellungsgespräch mit einem Vertreter der amerikanischen Behörden erfolgreich zu absolvieren. Die Erfolgsquote lag bei höchstens 20%, weil sich die Amerikaner nur für die besten Kandidaten entschieden.

 

Erst einmal musste ich mir sehr viel Mühe geben, um zu diesem Interview überhaupt zugelassen zu werden. Sie lasen nur die Geeignetsten aus und ließen eine ganze Menge von Leuten durchfallen, die lediglich den amerikanischen Wohlstand genießen wollten. So wurde Andrzej W, mein Kollege, als zu schwach ausgesiebt. Dass man aber zum Gespräch eingeladen wurde, war nicht ausschlaggebend. Man konnte auch beim Interview scheitern. Zum Beispiel schaffte es Filip aus Hamburg nicht, obwohl er die englische Sprache hervorragend beherrschte. Viele versuchten es. Viele hatten Hoffnung auf Erfolg. Am Ende des Tages erhielten nur wenige ein Visum.

Diejenigen, die schon einen privaten Sponsor in den USA besaßen, hatten es viel einfacher. Sie erhielten viel schneller ein Visum und mussten sich darum nicht allzu sehr bemühen. Die Sponsoren gewährleisteten ihnen vielerlei Hilfe vor Ort bis zum Zeitpunkt, zu dem der Einwanderer schon auf eigenen Füßen stand. In der Regel spielten Familie, Verwandte oder Freunde diese Rolle. Ich hatte niemanden in Übersee. Um dorthin zu gelangen, musste ich also einen Regierungssponsor erhalten. Das war gar kein einfaches Spiel. Daraufhin eignete ich mir nicht nur Allgemeinwissen über die USA, sondern auch die amerikanische Art zu denken an. Bei dem Vorstellungsgespräch wollte ich zeigen, dass ich mich mit dem amerikanischen Beamten locker verständigen, aber meinen Gesprächspartner auch davon überzeugen kann, dass Amerika davon profitieren würde, wenn ich ein Einwanderungsvisum bekäme.

Nach einer langen Korrespondenz mit dem polnischen Auswanderungsbüro in München (Polish American Immigration & Relief Committee Inc.), das mich am Anfang des Bewerbungsverfahrens vor den Vertretern der amerikanischen Behörden repräsentierte, wurde ich endlich zum Interview ins Generalkonsulat von USA in Frankfurt am Main eingeladen. Das war spät im Herbst 1987. Nach mehreren Stunden des Wartens war ich dran. Ein lächelnder amerikanischer Beamter und eine Dolmetscherin begrüßten mich in dem Zimmer. Um Fallen zu vermeiden, die sich in potenziellen Fragen verbergen konnten, fing ich von mir selbst aus an zu sprechen. Meine Thesen und Erzählungen untermauerte ich mit historischen Fakten. Der Beamte hörte mir mit großer Begeisterung zu und stellte nur wenige Fragen. Er war sichtlich zufrieden, weil solche aktiven und vor Energie strahlenden Typen seinen Anforderungen angeblich genau entsprachen. Die Beamten des Konsulats hatten fundierte Kenntnisse in Psychologie und Allgemeinwissen. Sie fragen nur danach, was sie tatsächlich erfahren mochten. Sie verschwendeten ihre kostbare Zeit nicht.

Der Amerikaner stellte mir nicht nur förmliche, einfache Fragen. Es gab auch einige logische Herausforderungen und Fangfragen, die meine tatsächliche Lebenseinstellung verraten lassen sollten. Die letzte Frage lautete: „Was würdest du machen, wenn du es in die USA schaffen würdest?“ Ich antwortete: „Ich würde mein Bestes tun, um die Macht der Vereinigten Staaten zu stärken und mich selbst dadurch zu entwickeln“. Der Beamte schaute mich kurz an. Er war sichtlich zufrieden und sagte einfach „OK“.

Ich hatte ein gutes Vorgefühl, aber erst nach zwei Wochen erhielt ich eine Nachricht, dass die Vereinigten Staaten mir ein politisches Asyl erteilten und dass ich einen Regierungssponsor bekommen würde. Ich war überglücklich, weil so viele aus diesem Wettkampf ausschieden, und ich schaffte es. Was für ein Erfolg! Ich musste jetzt auf das amerikanische Visum warten und ließ mein politisches Asyl in Deutschland dementsprechend aufheben.

Auf das amerikanische Visum musste ich gut zwei Jahre warten. Inzwischen fand ich einen Job, eine Wohnung und – zu guter Letzt – erhielt ich das Aufenthaltsrecht und das Recht auf freizügiges Reisen innerhalb Deutschlands. Bis zu diesem Zeitpunkt musste ich, wenn ich mich außerhalb von Stuttgart bewegen wollte, eine entsprechende Genehmigung holen. Meine Lage in diesem Land verbesserte sich derart, dass es eigentlich nicht mehr erforderlich war aus diesem Land auszuwandern, um meinen Lebensstandard zu erhöhen. Mein Enthusiasmus für den Umzug nach Übersee ließ deutlich nach, weil ich inzwischen viele negative Erfahrungsberichte gehört hatte. Die Leute kamen von Amerika nach Deutschland zurück und sagten, dass sie hierzulande am besten aufgehoben wären. Sie waren überrascht zu erfahren, dass ich nach Amerika wollte, wenn es hier doch ganz gut lief. Sie erzählten, dass dort kaum jemand Glück hatte, weil Amerika ganz anders als Europa funktionierte.

Die ersehnte Nachricht, dass ich endlich ein Auswanderungsvisum erhielt, kam unerwartet im August 1989, und zwar gerade während meines ersten Besuchs in Polen. Ich hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken. Der Abflug von Frankfurt am Main nach New York war für den 30. September geplant.

Zwischen dem Vorstellungsgespräch in dem Generalkonsulat von den USA bis zum Zeitpunkt, zu dem ich ein Visum erhielt, verliefen fast zwei Jahre. In dieser Zeit veränderte sich ganz viel, und meine leidenschaftlichen Träume schwanden allmählich. Sie nahmen nicht mehr den ersten Platz ein. In Deutschland hatte ich dann einen Job und dadurch auch ein Aufenthaltsrecht. Amerika lud mich etwas zu spät ein. Zwei Jahre früher hätte ich mich darauf ohne langes Federlesen eingelassen, weil Amerika zu jener Zeit mein größter Traum war. Auch politisch veränderte sich viel. Polen erlangte seine Unabhängigkeit im Jahre 1989 wieder, und man konnte die Heimat ohne Umstände besuchen. Von Deutschland nach Polen war es ein Katzensprung im Vergleich zu dem Weg, den man von den USA zurücklegen müsste. Sollte ich jetzt nach Übersee fliegen, um wieder ganz von vorne anzufangen? War das überhaupt sinnvoll?

Um mich selbst endgültig zu überzeugen, kaufte ich eine große Flasche Wodka und trank sie in der Gesellschaft von Mädels fertig. Dann fiel die Entscheidung: Ich bleibe in Deutschland. Jetzt ist Europa meine große Heimat.

Erster Urlaub im freien Polen

Im Jahr 1989 war das kommunistische System in Polen in seinen Grundfesten erschüttert. Die Demokratie gewann allmählich die Oberhand. Als politischer Flüchtling konnte ich meine Heimat schon ohne Angst besuchen. Und das tat ich auch. Im August stieg ich in den Bus eines neugegründeten Reiseunternehmens und fuhr nach Katowice.

Wir standen etwas lange an der Grenze zur DDR, weil die Zöllner eine Routinekontrolle durchführten. Auch über dieses Land sollte bald der Wind der Wahrheit wehen. Eine Chance für die Wiedervereinigung Deutschlands sollte zeitnah am Horizont auftauchen. Das war ein Traumszenario für die Leute wie mich, weil ich dann auf dem Weg nach Polen nur eine Grenze, und nicht – wie bisher – zwei überschreiten müsste. Und davon, dass es in Zukunft gar keine Grenzkontrollen geben würde, wagte ich gar nicht zu träumen. Bald sollte es sich zeigen, dass der märchenhafte Traum der Europäischen Union Schritt für Schritt in Erfüllung ging. Und Deutschland spielte eine Schlüsselrolle in der Verwirklichung von diesem Traumszenario. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete die polnische Massenbewegung „Solidarność“ [Gewerkschaftsbund Solidarität], die bei dem Sturz des Kommunismus in Osteuropa mitmachte und dadurch den Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands ebnete. Man kann daher schlussfolgern, dass der erste Stein der Berliner Mauer von der Solidarność-Bewegung abgerissen wurde.

Die polnischen Zöllner kontrollierten uns nicht besonders genau. Ihnen war wiederum wichtig zu wissen, wie viel Geld jeder nach Polen mitbrachte. Für die junge Demokratie von Polen war dieser Mittelzufluss lebenswichtig und sehr erwünscht. Viele Jahre destruktiver Staatsführung der Kommunisten brachten das Land an den Rand des Konkurses. Die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland waren riesig. Polen war noch weiter hinterher. Ich zog voller Freude durch meine Heimat, weil es schon drei Jahre her waren, dass ich zum letzten Mal in meinem Vaterland war.

In Katowice begrüßten mich meine Brüder, die wie vereinbart von Zwoleń mit dem Taxi ankamen, um mich abzuholen (Zwoleń ist mehr als 250 km von Katowice entfernt). In dem Restaurant des Hotels „Katowice“ aßen wir üppig zu Mittag. Auf dem Rückweg in mein polnisches Haus kaufte ich mir ein paar Flaschen Bier aus der Brauerei Żywiec (Saybusch). Ich fühlte mich sehr wohl. Letztendlich verbrachte ich Zeit mit meiner Familie. Die Fahrt mit dem Taxi und die Plaudereien bei einem Bier bereiteten mir eine große Freude. Ich schwebte wie auf Wolken und war restlos glücklich darüber, dass ich wieder daheim war und mich mit meinen Brüdern unterhalten konnte. Sie waren gespannt zu wissen, wie es mir im Ausland ging und wie ich dort zurechtkam. Meine Mutter begrüßte ich mit einem Blumenstrauß, den ich unterwegs gekauft hatte. Sie war sehr froh, dass ich das Familienhaus endlich wieder besuchte. Als ich 1986 nach Deutschland abreiste, weinte sie, weil sie gar nicht wusste, wann sie mich zum nächsten Mal zu sehen bekommen würde. Jetzt konnte sie die Anwesenheit ihres Sohnes genießen.

Als ich die Zeit mit meiner Familie genoss und meine Freunde und Verwandten besuchte, stand das Vergnügen bei mir auf der Agenda. Mir ging es nämlich darum, Alkohol und Frauen im freien Polen zu genießen. Ich reiste damals mit dem Taxi, weil dieses Transportmittel zu dieser Zeit spottbillig war. Zwei Jahre später war dies schon aus und vorbei, weil die Preise rasant in die Höhe schnellten. Polen, welches jahrzehntelang hinter Westeuropa hinterherhinkte, begann nun, seine Rückständigkeit gegenüber dem Westen aufzuholen. Daraufhin wurden starke Reformen umgesetzt, indem man zum Beispiel die Preise in die Höhe trieb. Jemand musste die Rechnung für die Umstrukturierung zahlen – und bestimmt nicht jene, die frisch an die Macht kamen.

In Polen fühle ich mich wohl, aber auch etwas komisch und unbehaglich, weil ich mich schon an den deutschen Luxus gewöhnt hatte. Ich war schon jetzt ein Pole anderer Art – jemand, der schon mit dem Wohlstand und der Ordnung des Westens in Berührung gekommen ist. Am Ende meines Aufenthalts vermisste ich Deutschland mit seiner Ordnung, Disziplin und vor allem dem Komfort. Egal, was ich von Polen bzw. seinen politischen Verhältnissen hielt, blieb es meine Heimat. Egal, wie es in meinem Vaterland lief – meine Heimat blieb immer in meinem Herzen. Niemand konnte mir das ausreden. Das ging einfach nicht. Wohin mich das Schicksal auch trieb, war, bin und würde ich ein Pole bleiben.