Durch die Hölle in die Freiheit

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Jarocin

Im Sommer 1983 ging ich nach Jarocin zum Rockmusikfestival. Die Reise mit dem Zug von Katowice nach Poznań war sehr interessant. Fast alle Fahrgäste waren junge Leute unterwegs zum Festival. Sie waren alle Musikfreaks. Einige Leute wie ich nahmen die Gitarre mit und konnten die Reise auf diese Weise mit Musik verschiedener Art angenehmer machen. Ich wollte nicht mit meinen musikalischen Fähigkeiten glänzen. Ich hörte lieber den anderen zu. Einige spielten die Popklassiker so gut wie Profis. Ich hatte auch kaum eine Chance, mich mit meinen Balladen durchzusetzen. Die Jugendlichen reisten in den eng befreundeten Cliquen, scherzten und hatten zusammen viel Stoff zur Diskussion. Daher wollte ich mich nicht in ihre Gesellschaft einmischen. Und ich hatte auch keine Lust darauf, weil ich in Poznań mit meinen Kollegen verabredet war.

In Poznań war ich etwas zerstreut. Während sie an der Stelle eintrafen, an welcher wir verabredet waren, d. h. in der Wartehalle des Bahnhofs, würde ich versuchen sie auf dem Bahnsteig zu begrüßen. Da sie mich nicht an dem Ort trafen, den wir früher vereinbart hatten, fuhren sie nach Jarocin weiter, ohne weiter auf mich zu warten. Ich wollte ihnen eine Überraschung machen, aber sie erreichten das Ziel mit einem anderen Zug. Das sah ich nicht voraus, und mein Plan ging in die Hose. Hätte ich sie wie vereinbart in der Wartehalle erwartet! Zu viel Eifrigkeit kommt nicht immer gut an.

Nach Jarocin fuhr ich also alleine. Ich war etwas enttäuscht, dass dieses Treffen in Poznań gescheitert war. Ich wusste aber, dass ich die Kollegen früher oder später treffen würde. Als ich durch die Stadt bummelte, traf ich ein Ehepaar in den mittleren Jahren – echte Musikfreaks! Ich schlug mein Zelt neben ihrem Zelt auf, weil ich wollte, dass sie auf meine Klamotten aufpassten, wenn ich nicht da war.

Am ersten Tag, direkt nach dem Frühstück, raste ich zu dem Platz, wo die Konzerte stattfanden, um meine Kollegen zu finden. Ich hoffte, dass ich sie dort treffe. Als ich auf die Bühne zukam, sah ich Darek. Wie verrückt sprang ich zu ihm und begrüßte ihn freudig. Darek war auch sehr froh. Bald schlossen sich uns andere Kollegen an, die in der Nähe standen, und es entstand ein furchtbares Durcheinander. Endlich waren wir vollständig. Unsere unfassbare Freude ließ sich kaum mit Worten beschreiben. Wir sahen wie Bekloppte aus, die gerade aus der Nervenklinik flohen. Hier, in Jarocin war solch ein Verhalten nichts Besonderes. Niemand war überrascht. Das gehörte einfach dazu und trug zu einer festlichen Atmosphäre bei. Unsere spontane Begrüßung lenkte zwar die Aufmerksamkeit der anderen auf uns, aber nur kurz. Nach einer Weile fand sich eine andere Clique, die sich genauso spontan begrüßte.

Es war erst Vormittag, und die Musiker führten ihre Proben durch. Wir entschieden also, dass ich mich mit meinem Zelt meinen Kollegen anschließen würde, die in dem Zeltstand campten. Anfangs wurde dieses Gebiet von der ZOMO-Miliz überwacht (Einheiten der Bürgermiliz in der Volksrepublik Polen, ihre Aufgabe war es, die Ordnung zu schützen und evtl. Unruhe niederzuschlagen). Das war zu den Zeiten, als unser einheimischer Gangster, Wojciech Jaruzelski, einen privaten Krieg mit seinem Volk führte (1981 wurde in Polen für 2 Jahre lang ein Kriegszustand verhängt. Wojciech Jaruzelski war dann an der Macht). Man konnte sich aber darüber nicht beschweren. Unsere „Wächter“ waren zu uns verhältnismäßig liberal eingestellt. Wir konnten also unbeschwert feiern, wie es die Musikfans tun.

Jerzy aus Przasnysz, ein Kollege von Cezary, erließ schon früher die „Verordnung“, dass jeder etwas Schnaps mitbringen sollte – in Jarocin galt für die Zeit des Festivals ein striktes Alkoholverbot. Jerzy schmuggelte meinen Teil durch die Kontrolle der ZOMO-Miliz. Er war schon ein Profi in diesem Bereich. Einen Tag früher packte er alle Flaschen seiner Kollegen in seinen Rucksack und zog zum Eingangstor der Zeltstadt. Auf die Frage der Wächter, was er in dem Rucksack trug, antwortete er grinsend, dass er Wodka dabeihätte. Die Milizen waren sicher, dass er Spaß machte und ließen ihn durch, ohne den Inhalt seines Gepäcks zu kontrollieren. Auf diese Art und Weise, durch einen schlauen psychologischen Trick, gelang fast der ganze Vorrat an Alkohol, den wir mitbrachten, in die Zone mit striktem Alkoholverbot. Daher wurde Jerzy zu unserem Helden: Durch seine ehrenvolle Leistung konnten wir unsere nächtliche Zeit mit anderen Rockfans in dem „Zeltdschungel“ umso mehr genießen.

Es gab nicht allzu viele Cliquen, die so schlau waren wie wir. Fast jeder brachte etwas Alkohol nach Jarocin mit, aber kaum jemand schaffte es, die Flaschen ins Zelt zu schmuggeln. Wir waren immer in guter Laune im Gegensatz zu den meisten, die einerseits versuchten, etwas Selbstverleugnung zu zeigen und beim Feiern etwas Spaß zu haben und sich andererseits gnadenlos dazu gezwungen fühlten ohne Alkohol zu feiern. Sie hatten einfach kein Glücksmittel dabei. In den Gruppen wie unserer waren die ganze Nacht lang die Gitarrenmusik, unendliche Gespräche und unkontrollierte Lachsalven zu hören. Diese Atmosphäre zog die Mädchen an, die angeblich an Schlaflosigkeit litten. Am Morgen früh war in der Zeltstadt ein lautes Schnarchen der Typen zu hören, die bis in die Puppen feierten. Ich war oft einer davon.

Abends auf dem Stadion, unweit von unserem Zeltplatz, fanden die Konzerte statt. Eine tolle Musik unter dem schönen Sternenhimmel ließ uns in Euphorie verfallen. Inzwischen flirteten wir beide, ich und Darek, mit den Mädchen und holten sie unter welchem Vorwand auch immer zu unserer Gruppe. Unser Interesse war ihnen lieb, weil sie es gerne hatten, dass man mit ihnen flirtete. Es war wunderschön, aber vielleicht nicht für alle. Mitunter kam es zu Streitereien und Prügeleien. In solcher Menschenmenge ließ sich das nicht vermeiden. Auch das gehörte dazu.

Direkt nach dem Festival fuhren wir nach Masuren, um Cezary zu besuchen, weiter zu feiern und die Gaben der Natur und das Land der tausend Seen zu genießen. Wir aßen fette Aale und tranken dazu Bier oder Schnaps – je nachdem, welcher Alkohol uns gerade zur Verfügung stand. Was noch wichtiger war: Wir flirteten mit den abenteuerhungrigen Mädchen, die zu den Sommerferien aus ganz Polen ankamen.

Das waren sehr schöne Momente in meinem Leben, weil Alkohol meine Seele ganz schön erfreute und fast keine negativen Nebenwirkungen spüren ließ. Aber im Laufe der Zeit sollte sich meine Beziehung zum Alkohol radikal verändern. Zu diesem Zeitpunkt aber war ich noch weit davon entfernt, ins Grübeln zu kommen oder zu ahnen, dass etwas Schlimmes auf mich zukommen könnte. Ich trank ab und zu, hatte dabei viel Spaß und lebte ganz unbekümmert. Ich merkte gar nicht, dass ich mich allmählich an Alkohol gewöhnte, oder ich wollte das nicht sehen, um mir selbst den Spaß nicht zu verderben.

Ein gefährlicher Vorfall in der Kohlegrube

Im Januar 1981 nahm ich die Arbeit in der Steinkohlegrube in Katowice, in dem Viertel von Załęże, auf. Vielleicht ging es mir unter anderen darum, mich am eigenen Leib zu überzeugen, ob die Arbeit eines Bergmanns tatsächlich so gefährlich ist. Gutes Gehalt, günstige Arbeitsbedingungen und die Möglichkeit, den Militärdienst in dem Bergwerk abzuleisten trugen dazu bei, dass ich dort ganz lange blieb. Genauso wie bei Cezary, war es mir lieber, in der Grube zu arbeiten, als das kommunistische Regime in Polen mit meinem Dienst in der Volksarmee zu unterstützen. Als Bergmann arbeitete ich bis September 1986. Dann machte einen Ausflug nach Deutschland und kam nicht zurück.

Ein Bergmann in der Grube ist vielen Gefahren ausgesetzt. Es drohen Gebirgsschläge, Methan – oder Kohlenstaubexplosion, Kohlenmonoxid usw. Allerdings kommen besonders viele Unfälle durch die Unvorsichtigkeit von den Betroffenen oder ihren Kollegen zustande. Solche Unfälle sind oft sehr folgenschwer. Ich geriet zweimal in der Lebensgefahr. Im ersten Fall war ich selbst schuld, in dem zweiten Fall war mein Steiger dafür verantwortlich.

Als der erste Unfall passierte, arbeitete ich halbwegs zwischen der Station der unterirdischen Grubenbahn und dem tonnlägigen Schaft. Fast immer ging ich zu Fuß zur Ausfahrt. Einmal war ich aber sehr müde nach der Nachtschicht und entschied ich mich dafür, in den laufenden Zug hineinzuspringen, um sich vor dem anstrengenden Marsch zu Schaft zu schonen. Ich entschied mich für eine Kurve, weil der Zug dort ganz langsam fahren musste, und es bat sich eine gute Gelegenheit, hineinzuspringen. Bedauerlicherweise merkte ich die hölzernen Pfeiler nicht, die etwas weiter an den Gleisen standen und die Decke des Querschlags stützten. Mir kam es nicht in den Sinn, dass der Einstieg in den fahrenden Zug etwas länger als erwartet dauern konnte und dass diese Pfeiler in einem solchen Fall eine tödliche Gefahr für mich darstellen würden. Ich war zu müde, um dieses Risiko wahrzunehmen.

Als der Zug ankam, schlummerte ich. Ich hörte ihn zu spät. Ich hatte nicht genug Zeit, mich auf den Sprung zu vorbereiten. Wie wahnsinnig lief ich dem Zug hinterher, und endlich war ich soweit. Erst als ich blitzschnell hineinsprang, bemerkte ich diese Stützpfeiler direkt vor mir. Trotz einer so großen Gefahr setzte ich mein Vorhaben fort. Als ich mich in ein rasendes Abteil hineinquetschte, wurde mir klar, dass die an den Gleisen stehenden Stempel mir den weiteren Weg versperren können. Nun ging es mir auf, dass nicht genügend Zeit haben würde mich vor den Hindernissen zu verstecken, und dass ich von den Pfeilern einfach zerquetscht werden konnte. Trotzdem hörte ich mit diesem so gefährlichen Einsteigen nicht auf, weil ich auf eine neue, ermutigende Idee kam: Vielleicht würden sich die Pfeiler vor mir beugen und mir den Weg ins Abteil öffnen. Glücklicherweise bekam gleichzeitig innerlich eine Warnung. Ein rotes Lämpchen ging an: „Spring nicht auf den Zug. Du schaffst es zeitlich nicht. Die Pfeiler beugen sich nicht, sondern du wirst von den Säulen zerquetscht.“ Einen Sekundenbruchteil lang zögerte ich. Dieser Moment dauerte aber ausreichend lang um über mein Leben und Tod zu entscheiden. Obwohl ich schon mit einem Bein fast in dem Waggon stand, sprang ich wieder heraus und hielt direkt vor den Stützpfeilern. Sie waren viel mächtiger, als ich mir vorgestellt hatte und wurden bestimmt nicht mit dem Ziel gebaut, dass sie irgendeinem Druck nicht standhalten, sondern damit sie ihre Stützfunktion erfüllten.

 

Was für eine innere Stimme war es, die mich dazu bringen wollte, den Sprung in den rasenden Zug locker zu leisten? Wer um Gottes Willen flüsterte mir mal gute, mal falsche Ratschläge ins Ohr? Worum ging es überhaupt? So wie ich damals die Welt verstand, gehörten die Geschichten darüber, dass der Teufel uns verführt und falsche Vorschläge gibt, ins Reich der Fabel. Ich hatte gar keine Ahnung, dass die spirituelle Welt existiert und immer wieder in unser Leben eingreift, um uns zu helfen oder zu schädigen. Vielleicht liegt es daran, dass das Gute und das Böse in uns innenwohnen, wie auch alles andere, was im Universum zu finden ist?

Zum ersten Mal im Leben in einer extremen Situation und in einem so kurzen Augenblick, dass sich dieser Moment in irdischen Dimensionen nicht erfassen ließ, hörte ich deutlich zwei innere Stimmen. Sie wirkten gewiss gegeneinander oder schlossen sich sogar aus mit der Absicht zu unserem Vor-, bzw. Nachteil zu wirken. Sie waren wie zwei kämpfende und einander nicht zu ertragende Berater. Glücklicherweise half mir mein analytisches Denken eine richtige Entscheidung zu treffen und einer totalen Katastrophe zu entkommen. Vielleicht hatte ich auch etwas Glück. Man braucht richtig nicht viel um endgültig aus dieser Welt zu scheiden.

Ich stand bewegungslos da und schaute den abfahrenden Zug ohne Bedauern an. Mir lief es ganz kalt den Rücken hinunter. Endlich ging ich ohne Lampe an den Schacht. Ich fand diese erst auf dem Bahnhof. Sie lag in dem Abteil. Diese Schicht brachte ich als letzter Arbeiter hinter mich, aber ich war froh, dass ich mich überhaupt aus dieser Situation befreien konnte.

Die zweite gefährliche Erfahrung, die ich machte, hatte auch etwas mit der Grubenbahn zu tun, und zwar mit ihrer Treibkraft, d. h. mit dem Strom. Ich und mein Kollege bekamen die Aufgabe, die Waggons unter der elektrischen Traktion zu reinigen. Unser Steiger sollte am Anfang die Spannung abschalten. Er erklärte uns, dass der Strom schon aus war, und dass wir uns ans Werk machen konnten. Als wir schon in den Waggons waren, war unser Steiger schon weg, weil er auch die Arbeiten von anderen Bergmännern aus unserer Schicht aufsehen musste.

Im Laufe der Arbeit zog ich den Schutzhelm aus und wollte die Traktion mit dem Kopf berühren. Ich weiß nicht wieso ich auf diese Idee kam, aber ich wollte dadurch sicherstellen, dass in der Traktion kein Strom floss. Etwas brachte mich aber von dieser blöden Idee ab. Vielleicht war das irgendeine innere Beunruhigung oder die Angst vor dem Ungewissen und Unbekannten. Einen Moment später berührte ich die Traktion zufällig mit dem Arm. Plötzlich bekam ich einen heftigen Krampf im ganzen Körper. Mir gelang es, mich mit größter Mühe zum Boden herabzuziehen. Voller Panik versuchte ich, mich auf allen Vieren möglichst weit von dem Waggon zu entfernen. Ich war fast gelähmt und konnte mich nicht aufrichten. Als der Kollege mich sah, brach er in Gelächter aus, weil er sicherlich glaubte, dass ich gut gelaunt war und versuchte, ihn etwas zu amüsieren. Nach einer Weile hielt ich an und flüsterte unter enormer Anstrengung. „Verdammt lachst du mich jetzt aus? Die Fraktion ist unter Strom! Ich erhielt grad einen Stromschlag“. Der Kollege erstarrte mit seinem Lächeln und erblasste.

Als ich mich am nächsten Tag bei dem Amt für Arbeitsschutz darüber beschwerte, dass ich einen Stromschlag erhielt, wurde ich ausgelacht. Niemand wollte mir glauben. Wieso konnte das passieren, wenn der Strom aus war? Wenn ich erklärte, dass der Steiger gewiss einen falschen Sektor ausschaltete, hörte ich, dass er doch keinen Fehler begehen konnte, und ich eine allzu lebhafte Fantasie hatte. Ich fühlte, dass ich sehr unfair behandelt wurde, aber in den kommunistischen Zeiten war solch ein Verhalten an der Tagesordnung.

Ich wusste aber, dass das ein richtiger Ernstfall war, einen Gleichstromschlag – diese Art vom Strom floss bei uns unten in dem Bergwerk – zu bekommen. Ich wollte mich unbedingt vollständig untersuchen lassen um sicherzustellen, dass meine körperliche und psychische Gesundheit in keiner Weise beschädigt wurde. Die Ergebnisse der Untersuchungen gaben keinen Grund zur Sorge. Im Gegenteil. Es bestätigte sich, dass ich einen hohen IQ hatte. Ich erfuhr davon ganz zufällig von einem der Steiger, der mir deswegen eine Zeit lang viele Komplimente machte. Dass ich beim Intelligenztest sehr gut abschnitt, wurde mir offiziell nicht bekannt gegeben. Ich erfuhr nur ganz allgemein, dass ich gesund war. Anscheinend wollten sie diese Tatsache nicht publik machen oder bekamen Angst vor mir, weil sie in Erinnerung hatten, dass sie mich am Anfang ignoriert hatten. Sie versuchten, die ganze Geschichte zu vertuschen, damit der Steiger seinen Job für nicht für diesen Fehler verlor.

Ich hatte vor, eine förmliche Beschwerde direkt bei dem Ministerium für Bergbau einzureichen und mitzuteilen, dass mich das betriebliche Amt für Arbeitsschutz unfair behandelte. Ich wusste aber auch, was dieses Schreiben für den Steiger bedeuten konnte. Letztendlich verzichtete ich darauf. Allerdings ließ ich den Steiger und den betrieblichen Sicherheitsdienst eine Zeit lang im Ungewissen. Ich gab nur deshalb endgültig auf, weil der Steiger mich in jedem Moment seine Reue spüren ließ und ich schließlich Mitleid mit ihm bekam.

Etwas später bei der Arbeit wiederholte sich die Verletzung an meinem Meniskus, die ich bereits in der Schule beim Fußballspiel erlitten hatte. Daraufhin konnte ich mein Bein gar nicht mehr bewegen. Und derselbe Steiger, ein Profi in puncto Ausschaltung der Traktion, kümmerte sich um mich wie ein Vater. Er fuhr mit mir nach oben, half mir ein Bad zu nehmen und sorgte persönlich dafür, dass ich umgehend ins Krankenhaus abtransportiert wurde. Dort wurde ich einer Operation unterzogen. Ich muss zugeben, dass er dafür einen Orden verdiente. Ich konnte gegen ihn keinen Groll hegen; er war doch nur ein Mensch.

Karateka

Ich lernte Romek Anfang 1981 in dem Arbeitshotel der Steinkohlegrube in Katowice, in dem Viertel von Załęże, kennen. Wir teilten uns ein Zimmer. Er beeindruckte mich nachhaltig. Er war ein intelligenter, weltgewandter und kultivierter Mann. Wir befreundeten uns schnell. Er verfügte über umfassendes Wissen zu verschieden Themen, was auch meine Aufmerksamkeit erregte. Ich glaubte, dass es für mich Segen war, einen Menschen wie Romek kennenlernen zu können – einen Segen, welchen ich lange erwartete. Romek war auch ein toller Gesprächspartner. Auf jede Frage ging er noch vollständiger ein, als ich es erwartete. Er redete kein dummes Zeug und log nicht, wie es die anderen Hotelgäste wie üblich taten. Nein. Er war ein freier Redner von höchstem Können. Wir hörten ihn mit großer Begeisterung. Er war ein Fachberater und konnte jede Frage klug beantworten – auch zu einem Thema, zu dem er kaum etwas wusste. Seine Wissenslücken deckte er geschickt mit sehr ausgeklügelter Mimik und Gestik. Er konnte sehr intelligente Gesichtsausdrücke machen. Er machte einen Eindruck eines allwissenden Menschen, der manchmal einfach nicht alles preisgeben mochte. In solchen Momenten gab er zu verstehen, dass er etwas mehr verraten konnte, sobald ihm jemand Wodka spendierte. Er spielte hervorragend Akkordeon, Gitarre und Klavier. Er war einfach die Seele der Gesellschaft. Er beherrschte mehrere Fremdsprachen und war ein ausgezeichneter Karatemeister – er besaß den schwarzen Gürtel, den ersten Dan.

Zu dieser Zeit interessierte ich mich nicht nur für diese japanische Kampfkunst, sondern auch für Geschichte und Philosophie der Samurai. Daher war Romek für mich ein Geschenk des Himmels. Er zeigte mir einige tödlich gefährlichen Tricks dieser japanischen Kampfkunst, die ich zwar nie wieder wiederholte, aber sie blieben mir tief in Erinnerung. Drei Jahre später, bei einem harmlosen Streit auf einer Alkohol-Party, brachte ich mein Gegenüber beinahe um, obwohl er viel stärker als ich war. Er geriet in Panik. Komischerweise hatte ich dann gar keine Ahnung, dass ich die Block-Techniken der Samurai anwandte, als ich mich mit diesem Mann auseinandersetzte. Das war automatisch und unkontrolliert. Dieses unbewusste Handeln verwunderte mich und versetzte mich in Angst und Schrecken. Der Arme setzte sich auf den Kopf und zeigte mit seinen Beinen eine berühmte Geste der Solidarität und zwar das „Victory-Zeichen“. Die Gesellschaft auf der Party war entsetzt. Ich selbst erschrak ein wenig, als ich die Folgen meines Verhaltens sah. Einer der Kollegen, die mit mir dabei waren, sagte zu mir „Was machst du denn, Mann? Du bringst den Kerl um!“ Ich fragte mich mit Entsetzen, wer ich eigentlich war? Warum kam ich mit dieser Situation so gut klar? Wieso konnte sowas passieren? Ich verhielt mich wie ein geübter Kenner der Kampfkunst, und ich war es gar nicht! Das zeigt, welchen Vorsprung eine Person, die etwas über Kampfkunst weiß, (so wenig es sein mag) einer Person gegenüber hat die lediglich starke Muskel hat. Ich ließ Romek meinen Karatetrainer in dem Spartakus Sportverein kennenlernen, wo ich in meiner Freizeit ab und zu trainierte. Romek stellte fest, dass mein Coach in dieser Kampfkunst noch ganz viel zu lernen hatte. Er musste immer wieder seine technischen Fehler korrigieren.

Ich zerbrach mir den Kopf, wieso solch ein begabter und intelligenter Mann wie Romek in irgendeinem Arbeitshotel bei der Kohlegrube pennte? Solch ein kluger und intelligenter Typ wie er war hier sonst kaum zu treffen. Für Romek war es aber gar nicht wichtig, eine Menge von gut ausgebildeten Gesprächspartnern zu finden. Sein Ziel war, eine aufmerksame Zuhörerschaft bei sich zu haben, die ihm für seine Geschichten und Akkordeonspiel ohne Wenn und Aber den Alkohol spendierte. Man konnte davon ausgehen, dass unser neuer Kamerad offensichtlich Probleme mit Alkohol hatte.

Als ich Romek kennenlernte, war er 36, und hatte schon eine ganz interessante Lebensgeschichte hinter sich. Er war schon mal im Knast, lernte hervorragend Kassiber zu sprechen und verkehrte in der uninteressanten Unterwelt. Er pflegte zwar gute Kontakte mit diesem Milieu, aber sie bekamen ihm letzten Endes übel. Allerdings lernte er keine Lektion aus seinen peinlichen Erfahrungen. Er war nicht in der Lage, etwas zu begreifen und zur Vernunft zu kommen. Er wiederholte immer die gleichen Fehler, und seine Alkoholsucht trug dazu wesentlich bei. Sie verschleierte ihm die Wahrnehmung der Realität. Sie ließ zu, dass sich in ihm die Überzeugung verfestigte, dass die Gelegenheit zu trinken allem anderen vorrangig war, welche Folgen auch immer diese Gier mit sich bringen mochte.

Seine Frau verließ ihn und wanderte mit dem Kind nach Dänemark aus. Er träumte zwar von Kanada, blieb aber immer noch in Polen, weil ihn die Alkoholsucht jeder Möglichkeit beraubte, „diesem gemeinen kommunistischen System“ (so nannte er die politische Lage im sozialistischen Polen) zu entkommen. Er ließ kein gutes Haar an der damals in Polen regierenden Elite. Es ging nämlich um die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (pl: PZPR), über die er sich mächtig ärgerte.

Ich erfuhr, dass sich in einer Nacht mitten in der Stadt von Katowice einige Spaßvögel fanden, die den betrunkenen Romek nackt auszogen. Im Adamskostüm musste der arme Kerl ein paar Kilometer zu seinem Hotel laufen. Das war spät im Herbst, und das Wetter war auch nicht günstig. Ich glaube, dass der Rezeptionist schlummern musste, als Romek eintraf, sonst hätte der Portier meinen können, ein Spuk stünde vor ihm, und hätte möglicherweise einen Herzanfall bekommen.

Romek verdankte ich einige Ideen, unter anderen die Sehnsucht dem kommunistischen System zu entkommen, aber im Gegensatz zu ihm brachte ich diese Idee fehlerfrei in Erfüllung. Leider übernahm ich auch einige seiner alkoholbezogenen Phantasien, die mein Leben immer stärker beeinflussten, und zwar nicht in die Richtung, die ich mir gewünscht hätte. Obwohl ich nur ganz kurz in dem Arbeitshotel wohnte, wirkte sich dieser Aufenthalt negativ auf meine junge Persönlichkeit aus. Gerade dort wurde mir Alkohol richtig zum Alltag. Im Hotel wohnten mehrere Menschen in der Art von Romek – vielleicht nicht so intelligent, aber definitiv alkoholsüchtig. Diese Leute waren für mich kein gutes Beispiel. Sie verführten mich und imponierten mir aber mit ihrer Redekunst.

 

Das Arbeitshotel ist ein echter Fluch, weil man dort die Langeweile mit Alkohol vertreibt. Die Spirituosen sorgen tatsächlich für die schlimmstmögliche Unterhaltung. Gleiches gilt für alle Massenunterkünfte, wo ausschließlich die Männer wohnen. Daher ist es richtig schwierig, in solcher Gesellschaft der Versuchung zu widerstehen und nicht zu versumpfen.

Das spätere Schicksal von Romek ist mir unbekannt. Zum letzten Mal sah ich ihn 1985 in Katowice. Sein körperlicher und psychischer Zustand war nicht zu beneiden. Wenn er lachte, verdeckte er den Mund mit der Hand. Er scherzte, dass seine Rädchen weg seien. In der Tat ließ ihm der Skorbut die Zähne ausfallen. Ich glaube auch nicht, dass es ihm überhaupt gelang, das von ihm verachtete kommunistische System zu verlassen und in ein Land der westlichen Demokratie einzuziehen, auch wenn er so sehr davon schwärmte.