Durch die Hölle in die Freiheit

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Im Angesicht des Todes

Der 27. Juni 1994 war ein sonniger und ruhiger Tag. Deshalb hatte ich gar keinen Grund zu ahnen, dass gerade an diesem Tag etwas richtig Grausames auf mich zukommen würde, etwas, was ich am wenigsten erwartete. Ich war gerade dabei, den Schrott mit dem Schneidbrenner in kleinere Teile durchzubrennen. Meine Arbeitsstelle befand sich direkt an der Eisenbahn in dem Industriegebiet im Norden von Stuttgart. Dort waren viele Unternehmen ansässig, unter anderem die Firma, bei der ich seit Kurzem arbeitete. An dieser Stelle hatten die Schienenfahrzeuge kein Vorrecht. Daher sollten sie langsam fahren, und die Lokführer mussten auf die Arbeiter aufpassen. Diese Vorschriften sollten die Sicherheit der Arbeiter vor Ort gewährleisten. Neben mir lief ein Ladegerät, das sehr laute Geräusche machte, und welches ich ab und zu bediente. Ich arbeitete in dieser Firma erst seit Kurzem und war froh, dass die Firma immer mehr von meiner Beschäftigung profitierte. Auch meine Mühe wurde hochgeschätzt.

Als ich die Brennerschläuche etwas abseits legte, um sie beim Durchbrennen des Schrotts nicht zu beschädigen, muss ich etwas näher auf die Gleise zugekommen sein. Plötzlich hörte ich die schrille Stimme meines Vorarbeiters: „Gregor!“ Was wäre nicht in Ordnung daran, dass ich etwas näher auf die Gleise zukam? Es war doch nicht verboten. Wir befanden uns immer in der Nähe von den Gleisen und manchmal sogar direkt auf den Gleisen und machten uns keine Sorgen über die vorbeifahrenden Schienenfahrzeuge. So sah unsere Arbeit aus. Die Bahnleute mussten auf uns aufpassen, nicht umgekehrt. Wir sollten unsere Arbeit ausführen und nicht die Beobachter spielen. Daher durchdrang mich diese schrillende Stimme ominös und gab mir zu verstehen, dass etwas Unerwünschtes und sogar Schreckliches vor sich ging. Mir wurde plötzlich klar, dass ich in diesem Moment zu einem Opfer wurde und zwar ganz ohne mein Verschulden, weil jemand anderer hätte aufpassen sollen. Diese Stimme erschrak mich. Ich merkte, dass ich gar keine Chance hatte, der Gefahr zu entkommen oder zu erkennen, zu begreifen, warum ich ihr zum Opfer fiel.

Ich trug eine Sonnenbrille, und mein Sehfeld war eingeschränkt. Wenn man die Arbeit dieser Art verrichtete, war das ganz normal. Meine Aufgabe war es nicht, auf mich selbst aufzupassen. Das musste jeder tun, der sich in meiner Nähe befand. Insbesondere sollten die Bahnleute auf uns Acht geben. Die Mitarbeiter des vorbeifahrenden Schienenfahrzeugs waren verpflichtet, jeden Arbeiter von den Gleisen zu entfernen und für seine Sicherheit zu sorgen. In jener Zeit wichen die Verhältnisse etwas davon ab, was heutzutage in den Arbeitsschutzvorschriften festgesetzt ist. Montag ist ein Tag, den die allgemeine Bevölkerung nicht sonderlich genießt, besonders wenn jemand am Wochenende viel gefeiert hat. Die Facharbeiter für Sicherheit saßen mit dem Lokführer in der Lokomotive und plauderten wahrscheinlich sinnlos miteinander, statt sich an die Arbeit zu machen. Der Vorarbeiter schrie nur ein Wort zu mir, aber die Intensität und Ausdrucksform dieses Rufs sagten mir sehr viel. Das war eine Warnung, dass ich in eine tödliche Gefahr geriet.

Für die Reaktion war es schon zu spät. Etwas Mächtiges fegte mich vom Platz, umfasste mich mit seinen riesigen Armen und wog mich in einen Todesschlaf, aus dem ich so bald nicht mehr erwachen sollte. In dieser grausamen Situation dachte ich mir, dass das eine Lokomotive sein musste. Bald brach die Dunkelheit um mich herum an, und ich sah schon nichts mehr. Ich hatte den Eindruck, dass ich zwischen den Gleisen lag und die Lokomotive langsam aber unausweichlich über mich fuhr. Sehr schnell würde sie mein Leben nehmen. Dass ich mich von meinem Leben trennen müsste, war mir offensichtlich. In meinem Zustand war ich ganz hilflos und konnte mich nicht retten. Ich machte mir nichts vor. Ich wusste, dass mein Leben gerade sein Ende erreichte. Ich war lediglich ein tatenloser Zuschauer meiner eigenen Agonie. Ich erlebte sie ruhig, wie jede Formalität, die man nicht beeinflussen kann. Ich versuchte nur die Beine so zu positionieren, dass sie nicht abgeschnitten werden konnten. Das war vielleicht komisch, dass ich mich ein paar Sekunden vor dem Tod gerade um die Beine kümmerte. Ich dachte mir: „Wie sieht mein Begräbnis aus, wenn meine Beine „separat“ liegen werden?“ Als ob das für mich von Bedeutung gewesen wäre. Darum machte ich mir aber nun Sorgen. Das war vielleicht etwas seltsam, weil ich wusste, dass ich bald umkommen würde, aber ich wollte nicht übermäßig verletzt hinübergehen.

Im Angesicht des Todes wurde mir mein erster Albtraum aus der Kindheit in Erinnerung gebracht, der sich auf Dauer in mein Gedächtnis eingeprägt hatte. Das war ein Traum vom Tod. Und genauso wie in diesem Traum konnte mir jetzt keiner helfen. Mein Bewusstsein wurde in eine andere Zeit- und Wahrnehmungsdimension verlegt. Ich war überzeugt, dass mein Leben auf dieser Welt zwar kurz vor dem Aus stehen würde, aber das war nicht dasselbe wie der Tod. Ich existierte weiter. Ich sah mich im Licht des Tages, der sich dem Ende zuneigt, obwohl der Unfall am Morgen geschah. Ich sah mich als eine Person, die nun vor Gott die Rechenschaft über ihr bisheriges Leben ablegen sollte. Zu diesem extremen Zeitpunkt wusste ich allzu gut, dass Gott existierte, und dass ich mich vor Ihm verantworten müsste – und das obwohl ich ungläubig war. In Kürze sollte ich vor Ihm stehen. Mir war sonnenklar, dass sich mein Schicksal nicht wechseln ließ, und ich erwartete es auch nicht, weil ich wusste, dass ich mein Leben in der neuen Realität nicht verlor. Ich befand mich in irgendeinem Übergangszustand der Realität. Darüber hinaus fühlte ich mich nicht unwohl. Ich hatte keine Angst vor dem Tod. Er bot keine Gefahr für mich. In der Tat sollte ich nur in ein neues Haus umziehen, weil meine Mission auf der Erde schon vorbei war. Dass ich von dieser Welt genommen wurde, kam mir als Erleichterung vor, weil ich meinen ganzen Kummer schon hinter mir hatte. Ein perfektes Wesen musste all das steuern. Es waren vielleicht irgendwelche kaum nachvollziehbaren Figuren, die ich zwar nicht sah, aber stark verspürte. Ich hatte keine Angst vor ihnen, weil sie mein Vertrauen weckten. Das war eine Art Rettungs- oder Transportdienst, Beförderer.

In meinem Bewusstsein liefen dann automatisch und der Reihe nach verschiedene Zustände. Ich nahm sie passiv und mit viel Ruhe wahr, weil alles, was um mich geschah, durch und durch außerhalb meiner Kontrolle war. Was sich nun abspielte, hatte gar nichts mit Feindseligkeit zu tun. Das war bloß ein Abschluss der Formalitäten. Ich wurde von dem Gebiet evakuiert, wo ich mich nicht mehr aufhalten sollte, weil etwas schief ging. Die Wesen, die mich evakuierten, erfüllten dadurch einen Befehl von oben aus. Trotzdem bedauerte ich ein ganzes Stück, dass ich auf der Erde nichts Gutes hinterließ. Mir war klar, dass ich die Rechenschaft von meinen Taten an dem Ort ablegen musste, wo ich gerade geführt wurde. Ich würde traurig, weil ich merkte, dass ich bei meiner Lebensprüfung durchgefallen war. Voller Trauer dachte ich mir: „Was sage ich Gott?“

Ich begriff dann, dass man nicht auf der Erde lebt, um bloß zu überleben, sondern um eine gute Spur hinter sich zu lassen. Ich führte die Mission nicht durch, die mir anvertraut wurde. Ich versagte einfach. Ich wollte alles so gern wiedergutmachen und das in Erfüllung bringen, was ich nicht tat, um noch eine Chance für das Leben auf der Erde zu bekommen. Ich wusste aber, dass ich gegen die Ereignisse, die sich gerade unvermeidlich abspielten, keine Berufung einlegen konnte. Das kam mir gar nicht in den Sinn. Voller Traurigkeit verabschiedete ich mich von der verschwendeten Zeit. Sonst hatte ich keine Sorgen. Nichts mir jetzt von Bedeutung – auch dass ich meine Familie, Freundin und Kollegen hinterlassen würde. Außer der durchgefallenen Lebensprüfung auf der Erde ging mich nichts anderes an. Später befand ich mich in einem schwarzen Tunnel. Ich bewegte mich mit den Beinen nach vorne. Ich lag gemütlich auf dem Rücken, als ob ich auf dem Bett auf Rollen gelegt worden wäre. Über mich herrschte allmählich ein großer Frieden. Ich ahnte, dass etwas unglaublich Schönes bald auf mich zukommen würde. Plötzlich fühlte ich meine Knochen krachen und wachte vor Schmerzen oder vielleicht vor Aufregung auf. Ich wusste, dass das mein Ende war, und dass ich sterben würde. Ich sagte dann: „O Gott“ und verlor das Bewusstsein.

Ich wachte auf und machte die Augen auf, die wieder ein bisschen Licht der Welt zu sehen bekamen. Ich lag auf dem Rücken und wusste gar nicht, wo ich mich befand und was geschehen war. Allmählich erlangte ich das Bewusstsein wieder. Ich hörte unruhige menschliche Stimmen, und mir wurde langsam klar, dass sie von mir sprachen. Ich merkte, dass mir etwas Schreckliches widerfahren war, aber trotzdem lebte ich und war auf der Erde, und nicht in dem Nichts, wie es vor einer Weile der Fall war. Ich überlegte mir, welche Körperteile von mir verletzt worden waren. Sollte die Wirbelsäure betroffen sein, wäre ich am liebsten auf der Stelle gestorben. Ich spürte das linke Bein nicht. Ich schaute kurz und atmete erleichtert auf. Das Bein war da. Es wurde nicht abgeschnitten. Erst jetzt schaute ich mich um und sah die Leute um mich herum. Dann schaute ich nach rechts und rückte den Kopf etwas nach hinten. Dort sah ich einen Polizisten, der mich fröhlich anlächelte. Ich dachte mir: „Wenn dieser zwischenzeitlich angekommen ist und nun hinter mir steht, heißt das, dass mein Abenteuer mit dem Tod ganz lange gedauert haben muss.“ Ich hörte einen Mitarbeiter sagen, dass meine Wirbelsäule unverletzt sein musste, weil ich in der Lage war den Kopf zu bewegen. Es schien so, als ob er die Befürchtung in meinen Gedanken gelesen hätte. Diese Bemerkung beruhigte mich ein ganzes Stück. Mit einer schwachen Stimme bat ich ums Wasser. Plötzlich bekam ich es. Vor mir stand die Lokomotive. Aus dem Fahrzeug stieg ein junger, aber vor Entsetzen blasser Lokführer. Er reichte mir großzügig eine Flasche frisches Wasser und sagte, dass es direkt aus dem Kühlschrank genommen wurde. Ich hatte unglaublichen Durst und trank die ganze Flasche leer. Ich fragte den Lokführer: „Hast du mich nicht gesehen?“ Voller unverhohlener Traurigkeit antwortete er: „Nein.“ Ich erwiderte ironisch: „Das ist schön von dir!“

 

Als der Krankenwagen ankam, wurden mir nur die Schuhe ausgezogen. Ich wurde sehr vorsichtig hineingebracht, weil mir alles wehtat. Kaum fuhren wir los, mussten wir anhalten, weil mir die starken Erschütterungen bei der Fahrt sehr viele Schmerzen bereiteten. Ich brauchte eine Betäubung, die sie im Krankenwagen nicht hatten. Ich schlug vor, dass ein anderer Krankenwagen die Betäubungsmittel liefern konnte. Und so wurde es auch veranlasst. Ich wurde in die Unfallchirurgische Klinik in Ludwigsburg in der Nähe von Stuttgart transportiert und umgehend auf den Operationstisch gelegt. Nach den Routineuntersuchungen legte mir der Arzt eine Maske aufs Gesicht und sagte, dass ich in Kürze einschlafen würde. Ich spürte das irgendwie nicht. Als er mir die Maske auszog, sagte ich: „Ich bin noch nicht eingeschlafen.“ Der Arzt beruhigte mich, dass das eine typische Reaktion nach der Narkose sei und dass die Operation schon vorbei sei. Ich dachte mir, dass es ganz komisch gewesen war. Ich spürte die Narkose nicht, und plötzlich war der Arzt fertig mit der Operation.

Am nächsten Tag kam ein Chefarzt zu mir, begleitet von den erfahrensten Ärzten dieser Klinik und sagte: „Der Zusammenstoß von einem Menschen mit einer Lokomotive bedeutet mehr als den Tod. Anscheinend aber nicht Ihrem Fall. Daher sollten Sie weiterleben.“ Alle hörten zu und schauten auf mich. Ich wurde bekannt, weil ich einen solch schrecklichen Unfall überlebte, ohne Gliedmaße zu verlieren. Mein Fall wurde in verschieden Zeitungen beschrieben. Ich überlegte mir, warum Gott mich am Leben behalten hatte und was er von mir erwartete? Bin ich überhaupt seiner Aufmerksamkeit würdig?

Am dritten Tag ging ich alleine an Krücken auf die Toilette, obwohl mein Schenkel gerade zusammengenäht wurde, und zwar mit sechzehn Schrauben. Das war für mich eine riesige und sehr schmerzliche Anstrengung, aber dieser Spaziergang war mir lieber als die Toilette im Bett.

Über eine Woche nach der Operation verbesserte sich mein Zustand gar nicht. Im Gegenteil. Er wurde immer schlechter, weil meine Blutwerte immer schlechter waren. Bekam ich Blutarmut. Ich hatte oft Albträume, und mir war es manchmal richtig kalt, obwohl es mitten im heißen Sommer war. Es lag an den Problemen mit meinem Blutbild und daran, dass ich eine Blutübertragung erhielt. Das konnte eine ernsthafte Gefahr für mein Leben darstellen. Ich versuchte alles Mögliche zu tun, um meinen Zustand zu verbessern. Ich trank viele Frucht- und Gemüsesäfte, aber das half gar nicht. Bei dem ärztlichen Besuch sprach ich mit dem Mediziner darüber, wie ich damit klarkommen konnte. Er antwortete bedenkenlos: „Rotwein gibt Ihnen Blut.“ Er sagte das scherzhaft, aber sein Gesicht blieb ernst. Das gab mir zu denken. Ohne viel Federlesen veranlasste ich telefonisch, dass meine Freundin mir zwei Flaschen guten, am besten französischen Rotwein besorgte.

Es war Samstagabend, als ich entschloss, mein Blut auf eigene Faust zu „behandeln“, weil ich immer im Kopf hatte, was mir der Arzt sagte. In meinem Krankenhauszimmer gab es noch zwei Patienten. Mein Bett stand an der günstigsten Stelle, und zwar am Fenster. Zuerst erhielten meine zwei Kollegen je ein Glas. Ich wollte sie dadurch zum Schweigen bringen, damit sie dem Personal nicht anzeigten, dass ich mich mit dem Wein therapierte. Und dann fing ich mit stoischer Ruhe an den köstlichen und angeblich heilsamen Rotwein abzuschmecken. Als ich den Wein verkostete, stellte ich mir die Sonnengebiete von Südfrankreich und Italien vor, weil mein kostbares Nass gerade aus diesen Ländern stammte. Es war schon gut nach Mitternacht, als ich schon etwas angeheitert war und einschlief.

Nach den Untersuchungen am Montag teilte mir die Ärztin mit, dass sich der Befund verbesserte. Die Blutwerte sanken nicht mehr. Im Gegenteil. Sie nahmen zu. Ich lächelte, aber verriet ihr nicht, wie es zustande kam. In meinen Gedanken verehrte ich diesen phantasievollen Arzt, der mich aufrichtig über die heilenden Kräfte des Rotweins aufklärte. Der Arzt musste sehr gut wissen, was mich auf die Beine stellen konnte. Offiziell konnte er mir das nicht empfehlen, weil er immer in Begleitung des Personals kam. Er gab es mir nur subtil zu verstehen, aber er tat so, als ob das seine Anordnung gewesen wäre. Er hoffte, dass ich seine verborgene Botschaft begriff, weil er mir direkt in die Augen schaute. Ich machte dann nur einen feinen Gesichtsausdruck, um zu zeigen, dass die Botschaft angekommen war. Ich machte dies aber so, dass es für die anderen unbemerkt blieb. Wir beiden wollten nicht, dass ein Dritter unsere heimliche Kommunikation entdeckte; sonst hätte meine unkonventionelle Kur vereitelt werden können. Der Arzt wollte damit formell nichts zu tun haben. Daher verschlüsselten wir unsere Botschaften.

Nach zwei Wochen in dem Krankenhaus wurde ich zur Rehabilitationskur in der Rehabilitationsklinik Saulgau in der Nähe des Bodensees überwiesen. Dort gab es eine ausgezeichnete medizinische Pflege und leckeres Essen. Ich wohnte in einem luxuriösen Apartment mit Balkon. Als meine Freundin und die Kollegen zu Besuch kamen, badeten wir in dem Bodensee. Ich konnte schon unbegleitet an Krücken gehen und kam selbstständig mit allen Dingen klar. Erst anderthalb Monate nach dem Unfall kam ich nach Hause zurück.

Die Grenzen, die Leben und Tod scheiden, sind unbestimmt und dunkel. Wer kann sagen, wo das eine endet und das andere beginnt?

(Edgar Allan Poe).

Erneute Bekehrung

Die Bewusstseinszustände zwischen Leben und Tod, die ich während des Unfalls erlebte, trugen zu meinem radikalen Umdenken in Bezug auf Religion, Glauben und Gott bei. Ehrlich gesagt ging es mir nicht um den Glauben selbst. Nach all dem, was mir passiert war, wusste ich allzu gut, dass es Gott gab. Ich musste keine großen Anstrengungen unternehmen, um an Ihm zu glauben. Es lag auch nicht an der Überzeugung, die ich über Nacht erlangte. Es handelte sich um die unumstrittene Tatsache, die mir offenbart wurde, und darum, dass ich auf wundersame Weise vor dem unvermeidlichen Tod gerettet wurde. All diese Erfahrungen kamen so geballt und schmerzhaft auf mich zu, dass ich es mit meinem Verstand nicht nachvollziehen konnte. In meinem Bewusstsein wurde Gott zu einer vollendeten und unbestreitbaren Tatsache. Daher wollte ich jetzt mehr über Gott erfahren, um Ihn näher kennenzulernen. Ironischerweise ging mein Wunsch wie von Geisterhand fast sofort in Erfüllung. Die Lehre sollte aber erschütternd sein. Bald tauchten die „Diener Gottes“ auf. Wie sich später herausstellte, hatten sie mit Gott kaum etwas zu tun, eher mit seinem dunklen Abbild. Das waren nämlich die Zeugen Jehovas, mit denen ich schon mal in Berührung kam. Dazu kamen die Pfingstler. Von dieser Gruppe wusste ich hingegen so viel wie nichts.

Die letzten beherrschten schon die Seelen von meinem Schwager und meiner Schwester in Stuttgart. Gerade durch sie wagte die Pfingstbewegung ihre ersten Schritte zu mir. Am Anfang wirkten sie sehr subtil und nüchtern, aber konsequent. Noch nie begegnete ich so freundlichen und gottesfürchtigen Menschen, die sich um die anderen so sehr kümmerten, insbesondere um die Erlösung der Seelen ihrer Nächsten. Sie unterhielten sich mit mir über Gott und zeigten mir verschiedene Bibelstellen, die mich dazu bringen sollten, mich in die Heilige Schrift zu vertiefen. Sie erzählten mir, dass Gott die Macht hatte mich von der Alkoholsucht zu befreien und den Menschen im Allgemeinen bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Allmählich überzeugten sie mich – nicht, weil sie ausgezeichnete Redner waren, sondern weil ich von der fortschreitenden Alkoholsucht befreit werden wollte. Wenn ich hörte, dass mein Glauben mir meine Sucht nehmen konnte, wollte ich diese Chance in Anspruch nehmen. Ich fing an mir das Wissen über ihre Religion anzueignen. In jenem Zeitpunkt hatte ich keine blasse Ahnung davon, dass ich später für ihre angeblich selbstlose und aus reinem Herzen fließende Lehre einen hohen Preis bezahlen musste, weil sie mein Leben für viele Jahre ruinierten! Ich wusste auch nicht, dass die Unterstützung, die man von den Pfingstlern erhielt, mit Selbstlosigkeit gar nichts zu tun hatte. Sie war lediglich eine Illusion, die den Menschen verführen und einlullen sollte.

Nach einem Jahr öffnete ich mich für die Lehre der frisch begegneten Christen. Sie belehrten mich eifrig und erwarteten, dass ich mich in einen neuen Menschen verwandelte. Inzwischen mussten sie einen gefährlichen Konkurrenten loswerden – und zwar die Zeugen Jehovas. Auch sie erhoben die Ansprüche auf meine Seele. Diese zwei Gruppierungen führten einen heimlichen Krieg um das Recht meine Seele zu evangelisieren. Infolgedessen verdrängten die Pfingstler die Zeugen Jehovas und übernahmen die geistliche Kontrolle über mich. Sie waren sehr gut mit der Bibel vertraut, und man konnte mit ihnen endlose Gespräche über Gott führen. Genau das war mir damals besonders wichtig. Am Anfang ahnte ich gar nichts Böses. Sie waren sehr fürsorglich und nahmen mich in eine geistliche Obhut. Und in ihrer Reihe befanden sich meine Familienmitglieder – Schwester Barbara und Schwager Krzysztof. Und die Familie sollte nach meinem Wohl streben, oder? Mit diesen Gedanken im Kopf vertraute ich meinen Verwandten und ihrem neuen Glauben. Das war mein großer Fehler, der tragische Folgen mit sich brachte.

Genesung

Im Dezember 1994 ging ich in die berühmte Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Tübingen zum Gehtraining. Das Fachpersonal brachte mir mit professionellen Maßnahmen das richtige Gehen bei. Sonst hätte ich nie richtiges und gesundes Gehen gelernt. Nach dem Unfall mit der Lokomotive wurde ich drei Operationen unterzogen. Die erste fand direkt danach in Ludwigsburg statt. Zwei weitere Eingriffe folgten in Stuttgart im Katharinenhospital. 1996 wurden mir die chirurgischen Metallteilchen herausgenommen. DreiJahrespäter folgte die Hüftoperation. Um die Jahreswende 1999/2000 absolvierte ich noch einmal ein Gehtraining in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Tübingen.

Nach der Hüftoperation im Jahre 1999 erhielt ich als einzige Person auf der Station ein vollautomatisches Bett. Das war für mich ein großer Segen. Nach solch einer schwierigen Operation brauchte ich ständig die Unterstützung einer Krankenschwester. Diese Wunder der Technik halfen mir unglaublich. Ich drückte verschiedene Knöpfe mit der Hand und konnte dadurch die Position meines Körpers zu jedem beliebigen Zeitpunkt regulieren. Eine Sache gab mir dabei zu denken: In demselben Zimmer lag ein alter Deutscher, der die gleiche Operation hinter sich hatte, aber er erhielt nicht so ein Bett. Und ich, ein Pole, wurde so ausgezeichnet. Der Chefkrankenpfleger in unserer Station sagte mir, dass das Krankenhaus nur ein paar hochmoderne Betten dieser Art erhielt. Es gab Stationen, die gar keines bekamen. Auf unserer Station gab es mehrere Patienten in einem ähnlichen Zustand, aber gerade ich war es, der dieses Bett bekam. Ein bedeutendes Lächeln schwebte dem Krankenpfleger bei diesen Worten um seinen Mund. Er machte deutlich, dass das eine Auszeichnung für mich war. Ich bedanke mich beim Gott für sein großzügiges Geschenk und bei dem Krankhauspersonal, das sich mir gegenüber wohlwollend verhielt.

Zwei Wochen nach der Hüftoperation wurde ich zu der schon erwähnten Klinik in Tübingen für Rehabilitation überwiesen. Nach intensiven Übungen konnte ich meine Knie endlich wieder mühelos beugen. In Deutschland haben die Rehabilitationskliniken Cafés. An diesen Orten ist Alkohol allgemein erhältlich. In meinem Fall war es kein guter Umstand. Ich sah mein Alkoholproblem nun schon ganz klar. Seit dem Unfall erklärte mein Gewissen der Alkoholsucht einen regelrechten Krieg. Dieser harte Krieg spielte sich leider in mir selbst und zulasten von mir ab. Der Heimkrieg, der in mir tobte, war tatsächlich der tragischste Sturm, der in meinem Leben losbrach. Mein Gewissen machte mir nicht nur die Vorwürfe, dass ich trank. Es griff mich regelrecht an. Am Anfang wurde mir nicht klar, dass sich die spirituelle Welt und zwar ihre zwei wichtigsten Pfeiler – das Gute und das Böse – in mein Alkoholproblem einmischten. Das passierte kurz nach dem Unfall im Jahr 1994. Meine Auseinandersetzung mit mir selbst wurde zum Interventionskrieg in der spirituellen Welt.

 

Ich war manchmal schon ordentlich beschwipst, wenn ich im Krankenhaus aus dem Café auf die Station zurückkam. Entgegen dem gesunden Menschenverstand kam ich auch auf eine bestimmte Idee, die dazu führen konnte aus dem Krankenhaus disziplinarisch entlassen zu werden. Wäre dies zustande gekommen, hätte die Versicherung die Kosten meiner teuren Behandlung nicht mehr gedeckt. Das wäre für mich wiederum eine Katastrophe gewesen. Trotzdem setzte ich diese Idee um. Eines Abends ging ich aus dem Krankenhaus, stieg in den Stadtbus ein und ließ mich ins Stadtzentrum von Tübingen fahren. Dort, in den Kneipen, wollte ich mir meinen langweiligen Krankenhausalltag etwas angenehmer machen. Nach mehreren Stunden nächtlicher Trinkerei machte ich, der sich an Krücken herumtreibende Penner, die Polizei auf sich aufmerksam. Um vier Uhr brachten sie mich zurück in die Klinik. Die zwei Gesetzeshüter – ein Mann und eine Frau – waren sehr nett und freundlich. Die Polizistin war schön und gefiel mir von Anfang an. Über den ganzen Weg ins Krankenhaus machte ich ihr Liebeserklärungen, was wiederum ihren Kollegen mehrmals in Gelächter ausbrechen ließ. Glücklicherweise verlor er deswegen die Kontrolle über das Lenkrad nicht. Als die Polizei mich zur Station brachte, unterhielten sie sich eine Weile über mich mit der Krankenschwester, die gerade im Dienst war. Der Polizist und die Krankenschwester platzten vor Lachen, aber die amüsierte Stimme der Polizistin konnte ich nicht vernehmen. Während ich sie leidenschaftlich und eifrig komplimentierte, starrte sie mich an. Ihre Augen strahlten vor Freude. Vielleicht wurde sie noch nie im Leben so nett angesprochen. Ich glaube, dass gerade die deutsche Polizei in ihren Reihen die schönsten Frauen der Welt hat.

Am Morgen kam der Stationsarzt zu mir und sagte, dass für das eigenmächtige Verlassen der Klinik und die Rückkehr unter Alkoholeinfluss sogar mit der polizeilichen Begleitung die stärksten Strafmaßnahmen drohen, inklusive der sofortigen Kappung der Behandlungsfinanzierung. Obwohl ich noch nicht ganz nüchtern war, begriff ich genau, wie sehr ich es übertrieben hatte. Der Spaß hörte für mich auf. Ich antwortete dem Arzt ohne Zögern: „Ich fühlte mich hier so einsam, dass ich das Krankenhaus verlassen musste, sonst wäre ich ausgeflippt. Um das zu vermeiden, musste ich mich etwas amüsieren.“ Der Arzt schaute mich kurz an, als ob er mein Problem richtig verstanden hätte und erwiderte: „Ja. Ich verstehe Sie. Aber das ist nicht Mallorca. Ich spreche darüber noch mit dem Chefarzt.“

Kurz darauf kam er mit dem Chefarzt. Der Professor war eine bekannte Persönlichkeit in der deutschen Medizin. Ich erzählte kurz aber ausdrücklich die Geschichte über meinen Trübsinn, der mich zu einer total verrückten Entscheidung führte, die ich kaum beeinflussen konnte. Ich fügte hinzu, dass ich erst jetzt darüber im Klaren war, was tatsächlich geschehen war. Früher sei es mir gar nicht in den Sinn gekommen. Als ich mich über meine Traurigkeit beschwerte, entschuldigte ich mich wahrscheinlich gar nicht für meinen Unfug, weil ich mich für das Opfer meines eigenen Zustands hielt. Meine Enthüllungen waren beinahe unverschämt. Ich zeigte überhaupt keine Reue, aber erreichte trotzdem das erwünschte Ziel. Auch wenn ich Reue ausgedrückt und mich für mein Verhalten demütig entschuldigt hätte, hätte ich das, was ich angestellt hatte, nicht wiedergutmachen können. Der Professor kam zu mir mit derart unfreundlichem Gesichtsausdrück, als ob die Sache für ihn schon erledigt gewesen wäre. Nach meiner kurzen Rede schaute er mir kurz in die Augen und ging raus, ohne ein Wort zu sagen. Im Endeffekt wurde ich gar nicht bestraft.

Erst um die Mittagszeit, als ich schon ordentlich ausgenüchtert war, dämmerte es mir, wie viel Glück ich hatte und wie viel ich hätte verlieren können. Meine Kollegen aus dem Krankenhaus erzählten mir von ähnlichen Fällen. Die Kerle, die zu viel Alkohol tranken, hatten nicht so viel Glück wie ich. Noch einmal verschonte mich Gott vor einer nicht geringen Tragödie. Ich merkte, dass ich bestraft wurde, aber gleichzeitig, dass mich eine bestimmte Kraft vor dem endgültigen Untergang schützte. Ich wusste einfach nicht, worum es hier ging.

Zum zweiten Gehtraining nach der Hüftoperation, das für Dezember 1999 geplant war, kam ich ein paar Tage zu spät an. Ich trank wie gewöhnlich, und es fehlte mir die Kraft, mich aus dem Säuferwahn loszureißen und pünktlich in der Klinik eintreffen. In Deutschland ist Ordnung und Disziplin von großer Bedeutung. Die Termine werden hier zwingend eingehalten. Da sich meine Seele in jener Zeit in einem elenden Zustand befand, passte ich mich diesen Regeln immer wieder nicht an. Ich konnte nicht ertragen, was ich selbst anstellte. Allerdings führte diese Frustration nicht zu irgendeiner Verhaltensänderung von mir. Ich schämte mich dafür und versuchte, aus jeder Not herauszukommen, in die ich von meinem paarhufigen Teufel getrieben wurde. Bei mir gehörte es schon zum Alltag, dass ich versuchte, alle Schäden, die ich anrichtete, nachzubessern, da ich zu einem Sklaven meiner selbst wurde.

Ich traf in dem Krankenhaus kurz vor Weihnachten ein und dachte mir: Würden sie mich jetzt einweisen, wäre die Klinik für mich ein Ort, der vor den Alkohol-Versuchungen schützen könnte, die zu dieser Jahreszeit besonders stark waren. Der Arzt sagte mir aber, dass ich mich im nächsten Jahr melden sollte, um einen neuen Termin zu vereinbaren. Da ich die frühere Einladung der Klinik ignorierte, wollte das Personal gar nicht mit mir sprechen. Ich wollte aber nicht nachgeben, und während des Gesprächs mit dem Arzt in einem großen Flur schmachtete ich nach meinem Gott, dass Er mir helfe. Genau dann passierte etwas Überraschendes. Der Arzt sagte, dass er meinen Fall nun mit jemandem besprechen würde. Während ich auf den Mediziner wartete, betete ich eifrig. Kurz danach kam er zurück und veranlasste, dass die Krankenschwester mich auf eine bestimmte Station führte. Er sah mich verstohlen an und gab dadurch zu verstehen, dass ich aufgenommen wurde. Ich war überglücklich und lobte meinen Gott von ganzem Herzen. Ich bedankte mich herzlich bei dem Arzt und sagte Ihm: „Gott segne Sie.“ Er schaute mir über die Schulter, lächelte und machte sich an seine Arbeit. Ich wiederum stand noch eine Weile da und erlebte die Macht Gottes, weil ich mir sicher war, dass Er mir half. Dann kam eine Krankenschwester, die sich um mich kümmerte.

Dieser Arzt war ein Paradebeispiel von einem edlen, klugen, ansprechbaren und gelassenen Typ. Solche Menschen waren eine Klasse für sich. Ich beneidete sie deswegen, weil ich wusste, dass ich wegen meiner Alkoholsucht im Vergleich zu ihnen ein richtiger Versager war. Manchmal beobachtete ich die Leute und konnte schon aus ihren Gesichtern lesen, dass sie zumindest keine Schwierigkeiten mit Alkohol hatten. Sie waren für mich ein Musterbeispiel des Lebens, aber bislang folgte ich diesem Beispiel nur in meinen Träumen. Ich hatte nicht ausreichend viel Kraft, um ihr Verhalten nachzuahmen.

In dieser Klinik konnte ich dadurch die Jahrhundertwende erleben, und zwar ganz trocken, obwohl jeder Patient zu diesem Anlass eine Flasche Sekt erhielt. Ich entschied mich dafür, auf dieses Geschenk zu verzichten, und ich war nicht der Einzige. Ich begegnete hier einem neuen Kollegen, Günter. Er war ein Abstinenzler und stellte mich als tolles Beispiel dar. Er unterstützte mich moralisch und ermunterte mich dazu, in seine Fußstapfen zu treten und mit dem Trinken ein für alle Mal aufzuhören.