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Freitag, 9. März, 12 Uhr
Kehrtmanns Büro

Ihm war nicht wohl bei der Sache. Vor ihm lag das Dossier «Klimt», das vollständige Dossier, nicht nur die Auszüge, die er Martina überlassen hatte.

Er hatte den Fall nicht ablehnen können, aber je länger er darüber nachdachte, desto lieber wäre es ihm gewesen, die Konkurrenz hätte sich darum gekümmert.

Das Risiko stand in keinem Verhältnis zum Ertrag. Klimt mochte noch so spektakulär liquidiert werden, drei Tage später würde kein Hahn mehr danach krähen. Ein toter Wissenschaftler – wen interessierte das?! Und ob er wirklich das Opfer einer Naziverschwörung war oder nur Zielscheibe eines paranoiden Amokläufers – kein Leser würde sich die Zeit nehmen, darüber groß nachzudenken. Das war nicht Thema. Jedenfalls kein Thema, mit dem er seine Zielgruppe locken konnte.

Ludger Kehrtmann stand auf und trat an den Wandschrank. Er griff sich den Putter, legte den Golfball ans Ende des langen Grünstreifens, den er in seinem Büro hatte auslegen lassen, und spielte den Ball ruhig in Richtung Loch. Wieder und wieder. Er erinnerte sich an Martinas Gesicht, als sie diese Putting Mat das erste Mal gesehen hatte.

«Sie spielen Golf?!»

Als ob sie das nicht gewusst hätte! Sie hatte ihn oft genug spöttisch gemustert, wenn er mit seinem Golfbag direkt vom Büro auf den Platz fuhr.

«Sie spielen Golf jetzt auch im Büro?!», verbesserte sie sich.

«Ja, ich übe, und sparen Sie sich jede weitere Bemerkung, insbesondere was die Wechselbeziehung Golf und Libido anbelangt!»

«Wechselbeziehung Golf – Libido! Was für eine Schlagzeile! Woran hatten Sie gedacht, ans Apothekerblatt?!»

«Raus!», hatte er damals gebrüllt, und sie war lachend geflohen. Das war vor ihrer Krankheit, als sie oft und gern gelacht hatte.

Auch deswegen hatte er sie auf den Fall angesetzt. Nicht dass es da wirklich etwas zu lachen gab, aber er wollte ihre Leidenschaft wieder wecken. Wenn er sie so in ihrem Büro sitzen sah, ganz in sich gekehrt, nur auf eins fokussiert, auf die Krankheit, und auf den Sieg über ihre Krankheit, dann überkam ihn ein so grausames Mitleid, dass er fast glaubte, dieses Mitleid würde seine Liebe gänzlich ersticken.

Wenn sie ihn dabei ertappte, wie er sie beobachtete, drohte sie immer mit dem Zeigefinger und lächelte spöttisch. Aber dieses spöttische Lächeln war nur noch ein schwacher Reflex jener unbändigen Abneigung, die sie ihm anfangs entgegengebracht hatte.

Als sie damals in sein Büro getreten war, hatte er sich auf der Stelle in sie verliebt. «Das ist die Frau deines Lebens, die Mutter deiner Kinder, die Herrin deines Heims.» Kein Lovesong, der ihm nicht durch den Kopf gegangen wäre. Fünf Jahre war das her. Keine Minute hatte es damals gedauert, seine Träume in der alleruntersten Schublade zu verschließen. Er hatte sie einfach nur noch angestarrt. So war es ihm zumindest vorgekommen. Sie war schlank, schön, vorlaut und unglaublich ehrgeizig. Das Erste, was ihm auffiel, waren ihre Hände, unmerklich gepflegt, kein aufdringlicher Nagellack, keine überlangen Fingernägel, aber ein ganz feiner Geruch nach einer ziemlich teuren Handcreme, die sie sich als kleinen Luxus gönnte.

Er liebte diesen Geruch. Wenn man ihr fest die Hand schüttelte, blieb ein wenig davon in der eigenen Hand. Brigitte hatte die gleiche Creme benutzt, jeden Morgen, selbst an dem Morgen, als sie gestorben war. Brigitte, seine Verlobte. Die er genau in dem Moment vergaß, als Martina in sein Büro trat. Eine schreckliche Minute lang. Mehr brauchte es nicht, um ein Leben auf den Kopf zu stellen. Danach nährte sich seine Liebe zu ihr nur noch von Schuldgefühlen. Brigitte. Das klang nach einem anderen Leben. Das war ein anderes Leben. Ihre Hand hatte einen kurzen Moment an seiner Wange gelegen, wie sie es immer tat zum Abschied. «Dreizehn Uhr, Lutter und Wegner», hatte sie beim Hinausgehen gerufen, obwohl sie genau wusste, dass er lieber zum Italiener gegenüber gegangen wäre. Lächeln musste er trotzdem. Lächeln musste er auch, als er das seltsame Bild sah, das sich ihm wenige Stunden später bot. Er hatte die Eingangstür seines Bürogebäudes geöffnet, trat vorsichtig auf den Gehweg, aus Angst vor einem der wahnsinnigen Fahrradkuriere, die gelegentlich hier langrasten, und starrte geradeswegs auf den Unfallort. Dieser riesige Audi quattro Q6, umringt von Polizisten und Sanitätern. Dennoch erhaschte er einen Blick auf das Opfer. Auf die Hand des Opfers. Sie war wohl, ohne sich umzusehen, auf die Straße gerannt. Weil sie nicht zu spät kommen wollte. Sie wusste, er hasste Unpünktlichkeit. Er hatte auf die Uhr gesehen damals, 13 Uhr, sie wäre nicht zu spät gekommen.

Das war zwei Jahre her. Nur zwei Jahre. Eine Ewigkeit. Und noch immer hatte er ein schlechtes Gewissen. Die eine Minute des Verrats. Als wäre seine plötzliche Liebe für Martina der Grund für Brigittes Tod gewesen. Als hätte er ihr den Tod gewünscht.

Er hätte es nie für möglich gehalten, dass ein Mensch von einem Tag auf den anderen so erkalten kann. Wenn er morgens vor den Spiegel trat, glaubte er, einem schlechten Darsteller seiner selbst gegenüberzustehen. Anfangs hatte er daran gedacht, alles hinzuschmeißen, aber er führte sein altes Leben weiter, einfach so aus Gewohnheit. Seine Eltern lebten auf Mallorca, und wenn er ehrlich war, fand er diese Lösung brillant. Er sah sie im Frühjahr zur Mandelblüte und im Winter an den Weihnachtsfeiertagen. Mehr Familie musste nicht sein. Er hatte keine Freunde, was er nicht weiter bedauerte, denn in diesem Geschäft gab es nur News-Junkies oder Narzissten. Er hatte sich an diesen Typus gewöhnt, alle anderen Menschen fand er langweilig. Altmodisch. Schallplatten, die zu langsam abgespielt wurden. Er mochte Tempo. Deswegen hatte er mit Golf angefangen. Es war die perfekte Mischung zwischen Beschleunigung und Verlangsamung. Anfangs hatte er geflucht über die weiten Wege zwischen Abschlagpunkt und Loch, und er hatte sich zum Spott der guten Golfer einen Elektrocart gemietet, um schneller von A nach B zu kommen. Aber das hatte die Vorfreude geraubt. Nach einer Weile verstand er – Heranpirschen gehört zur Jagd.

Er hatte Brigitte allmählich vergessen, so wie man seinen ersten Kuss vergisst, und irgendwann stellt man erstaunt fest, dass es große Mühe kostet, sich zu erinnern, wann und wo es geschehen war.

Eins wusste er allerdings ganz sicher, er wollte endlich wieder ein Zusammenleben. Er wusste auch mit wem. Es gab nur ein Problem, Martina ahnte nichts von seinen Plänen. Und vermutlich wäre sie in Ohnmacht gefallen, hätte er ihr davon erzählt. Sie würde ihn lieben, dessen war er sich sicher, Martina würde ihn eines Tages lieben. Sonst wäre das alles ohne Sinn. Der Tod Brigittes. Seine Einsamkeit. Dieser idiotische Job.

Er packte das Dossier in seine Aktentasche. Ohne einen wirklichen Risiko-Job wie diesen würde sie nie wieder zu ihrer alten Stärke zurückfinden, sondern einfach nur Dienst nach Vorschrift leisten. Allerdings gab es im Fall Klimt so viele Risiken, dass er es fast schon wieder bereute, ihr den Fall übertragen zu haben.

Er kannte von Hausen, den Mafia-Anwalt, er war ihm mehrfach persönlich begegnet, und er hatte noch seine Ankündigung im Ohr, dass er ihn in nicht allzu ferner Zeit mit brisantem Material über einige Prominente der A-Liga versorgen würde. Von Hausen war ein rationaler Mensch. Ein Mord war ihm ohne Weiteres zuzutrauen, er hätte wie Abraham seinen eigenen Sohn geopfert, wenn die Organisation es verlangt hätte. Er nannte den Verein dieser Nazispinner immer nur die «Organisation», weil er einen professionellen Abstand wahren wollte. Aber diese Organisation hatte seit jeher ein oberstes Gesetz: im Hintergrund agieren. Sie würden niemals in den Verdacht kommen wollen, für den Mord an einer Unschuldigen verantwortlich zu sein.

Dennoch wusste er seit genau drei Stunden, dass Martina bereits observiert wurde. Das musste kein schlechtes Zeichen sein, es konnte auch eine Schutzwache sein. Was ihn nervös machte, war, dass diese Schutzwache nicht auf seiner Gehaltsliste stand. Er hatte keine Ahnung, wer dahintersteckte. Es konnte Klimt sein. Es konnte aber auch diese hochgradig verrückte Ayn Goldhouse sein. Die ging ihm allmählich wirklich auf die Nerven.

Das oberste Gesetz ihres Ordens war es von Anfang an gewesen, für Öffentlichkeit zu sorgen. Skandale zu initialisieren, wo immer es ging. Das war bislang ohne Blutvergießen vonstattengegangen – aber wie lange noch? Ayn Goldhouse hatte ein halbes Dutzend amerikanischer Politiker kaltgestellt, indem sie die Kerle mit herabgelassenen Hosen bloßstellte. Sie bediente die Presse mit Skandalgeschichten in Serie. Sein Verdacht war, sie produzierte die Skandale in eigener Regie. Das war für die Betroffenen peinlich, aber nicht tödlich. Zumindest hatte keiner den Mut gehabt, sich nach diesen Enthüllungsstorys selbst die Kugel zu geben. Klimt war da von einem anderen Format. Ihm traute er durchaus so einen Ehrentod von eigener Hand zu. Fragte sich nur, welche Leiche er im Keller liegen hatte. Dass da eine lag, dessen war er sich sicher.

Ayn Goldhouse wollte Klimt mit aller Gewalt zur Strecke bringen. Den Grund kannte er nicht. Aber ihr Jagdinstinkt hatte sie bislang noch nie in die Irre geführt. Das musste er anerkennen, auch wenn ihm diese Art von Fanatismus fremd war. Er spürte, dass sie es absolut ernst meinte. Und dass sie jeden liquidieren würde, der sich ihr bei diesem Vorhaben in den Weg stellte.

Kehrtmann kannte Martina, wenn sie einmal einen Fall übernahm, dann tat sie alles, um ihren Mandanten zu schützen, und zwar genau so lange, bis die Geschichte unter Dach und Fach war. Das konnte in diesem Fall verdammt viel zu lange sein. So jedenfalls würde sie sich ausdrücken. Und stur an der Sache weiterarbeiten.

 

Und er? Er würde alles tun, sie zu schützen. Das musste sie doch spüren: Dass all seine Bemühungen einen ganz einfachen Grund hatten. Ihr das Fluchen abzugewöhnen. Denn so konnte er sie doch nicht vor den Traualtar führen, fluchend. Er musste lächeln. Wie oft hatte er sich schon ihr Gesicht vorgestellt, wenn er vor ihr auf die Knie gehen würde: «Willst du meine Frau werden?» Sie mochte diese altmodische Art, dessen war er sich sicher. Er war sich nur unsicher, ob sie lachen oder weinen würde. Seinetwegen konnte sie auch beides tun, Hauptsache, sie nahm seinen Antrag an.

Er nahm den dünnen Sommermantel vom Hacken, warf ihn über den Arm und eilte zum Aufzug. Er hatte es plötzlich sehr eilig, an die frische Luft zu kommen. Sein Appetit war verschwunden, aber er verspürte plötzlich einen so heftigen Bewegungsdrang, dass er fast in den Laufschritt verfiel, als er die Friedrichstraße Richtung Checkpoint Charlie hinuntereilte. Sein Verfolger, ein dicker, asthmatisch schnaufender Mann, hatte Mühe, unauffällig nachzukommen.

Freitag, 9. März, 12 Uhr
von Hausens Villa im Grunewald

Er hasste seinen Vater. Er hasste seinen Vater auf eine so leidenschaftliche Weise, dass er manchmal selbst davor erschrak. Wenn er zurückdachte, war da nie ein anderes Gefühl gewesen. Seine früheste Erinnerung war, wie sein Vater ihm das Gesicht mit Schnee wusch. Er hatte geweint, weil ihm so kalt auf dem Schlitten war. Jahr für Jahr fuhren sie im Winter in den Schwarzwald. Sie wohnten in einem muffigen Holzhaus in einem finsteren Tal mit endlosen Tannenwäldern, durch die sie stundenlang wandern mussten. Sein Vater zog den Schlitten und abwechselnd durften sich er, seine Schwester oder sein Bruder darauf setzen. Das tat er allerdings nicht ihnen zuliebe. Das tat er der Kräftigung seines Organismus wegen. So drückte er sich aus. Kräftigung des Organismus. Stärkung des Lebenswillens. Unangreifbarkeit der Psyche. Hörte man ihm zu, befand man sich automatisch im Kriegszustand mit Gott und der Welt. Wobei, Gott gab es im Universum seines Vaters nicht, wie er schon bald herausfand. Er wäre nämlich gern in den Religionsunterricht gegangen. Aber er war nicht getauft.

«Warum bin ich nicht getauft?», hatte er seine Mutter gefragt.

«Wende dich an deinen Vater!», hatte sie nur entgegnet.

«Wende dich an deinen Vater», hatte er höhnisch ihre Worte wiederholt, wieder und wieder, «wende dich an deinen Vater!»

Er hatte tatsächlich all seinen Mut zusammengenommen, war – nachdem er pflichtschuldigst angeklopft hatte – ins Arbeitszimmer seines Vaters getreten und hatte ihn gefragt: «Warum bin ich nicht getauft?»

Sein Vater thronte hinter dem Schreibtisch und musterte ihn kalt. Er trug einen dunklen Anzug, wie immer, eine dunkle Krawatte und schnippte sich eine imaginäre Fluse vom Jackettärmel.

Im Laufe der Jahre verstand Helmar, was diese Geste wirklich bedeutete. Dieser Reinigungsimpuls galt ihm. Wann immer sein Vater ihn sah, wischte er irgendeinen unsichtbaren Partikel von seinem Anzug. Als wollte er ihn zum Verschwinden bringen.

Anfangs war er über die Frage fast verzweifelt, was genau sein Vater nicht an ihm mochte. Er tat alles, was ein kleiner Junge tun konnte, um seinem Vater zu imponieren.

Er trug eine ernste Miene zur Schau, benahm sich schon im Kindergarten wie ein Erwachsener, lachte so gut wie nie, redete altklug daher, erwog ein Jurastudium – und hörte doch nie ein gutes Wort. Seine Mutter war ihm gleichgültig. Sie war einfach eine Unperson. Vielleicht äffte er auch da schon seit Kindheitstagen seinen Vater nach. Bewusst war es ihm nicht. Seine Mutter zu verachten, schien ihm ein so natürliches, ein so zwingendes Gefühl, dass er nicht weiter darüber nachdachte.

Als er dann mitbekam, wie absichtsvoll und publikumsgeil sie seinen Vater betrog, war sie vollends für ihn gestorben. Seinen Geschwistern erging es ähnlich. Es war verrückt. Anstatt auf sie als Beistand zu hoffen, verfluchten sie gemeinsam ihre Anwesenheit in diesem Haus. Obwohl sie immer gut zu ihnen gewesen war. Sie umsorgt hatte. Sich um ihre Liebe bemühte. Die sie nie bekam. Weil sie ihr alle diesen Vater verübelten.

Was für ein Elternhaus! Außenstehende konnten nicht ahnen, welche Hölle ihr Leben war. Eine kalte Hölle.

Er hatte angefangen, täglich in der Bibel zu lesen. Das einzige Buch, in dem er eine Antwort finden konnte. Er wusste nicht, warum er sich da so sicher war. Vielleicht weil er jede Nacht gebetet hatte, dass da einer sein möge, der mächtiger war als sein Vater. Mächtiger und ein wenig gütiger.

«Gott ist gütig», hatte ihm ein Zeuge Jehovas vor dem Bahnhof Zoo anvertraut, «Gott ist gütig.»

Er hielt diese Broschüre wie eine Mahntafel weit von sich gestreckt und murmelte immer nur den gleichen Satz: «Gott ist gütig.» Helmar hatte lachen müssen über diesen seltsamen Mann mit seiner schlichten Botschaft, aber die Botschaft blieb in seinem Hirn, mehr noch, es war die einzige Botschaft, die je bis zu seinem Herzen vorgedrungen war.

«Gott ist gütig!»

Mit fünfzehn Jahren hatte er die Bibel von der ersten bis zur letzten Zeile durchgelesen. Er verstand nicht alles, aber er war sich sicher, es irgendwann verstehen zu können.

Was er sehr genau verstand war, dass sein Vater ins Alte Testament gehörte. Für ihn war Jesus nicht gestorben. Für ihn war er nicht geboren worden.

«Warum bin ich nicht getauft worden?»

Es war selten, dass sein Vater Erstaunen zeigte. Als er ihm damals diese Frage gestellt hatte, war mehr als Erstaunen in seinem Gesicht zu lesen gewesen, es war Erstaunen gepaart mit einer abgrundtiefen Verachtung.

«Warum du nicht getauft worden bist?» Sein Vater musste die Frage offensichtlich wiederholen, um sich ihren Sinn verständlich zu machen.

Helmar stand und wartete. Es war klar, dass sein Vater ihm keinen Stuhl anbot. Die beiden Stühle, die da vor dem Schreibtisch standen, waren nur für Klienten. Es war auch absehbar, dass er ihn wie einen rückfälligen Straftäter einige Minuten stumm vor dem Schreibtisch stehen lassen wollte, damit er sich seiner Schuld bewusst wurde.

Der Schuld, seinen Vater gestört zu haben, der Schuld, sich eine unaussprechlich dumme Frage ausgedacht zu haben, der niemals zu tilgenden Schuld, diese Frage auch noch laut gestellt zu haben. Vor allem aber: der Schuld der Anwesenheit.

Er blickte sich Hilfe suchend im Zimmer um, während sein Vater ihn kalt fixierte. Er war selten in diesem Raum. Sein Vater schloss ihn nie ab, aber es verstand sich von selbst, dass die Kinder darin nichts verloren hatten.

Es war ein gewaltiger Schreibtisch, hinter dem er thronte, ein Erbstück des Großvaters, von dem Helmar nur wusste, dass er ein Nazi gewesen war. Geredet wurde nie darüber, aber es gab diesen kurzen Artikel in Wikipedia, der wenig mehr als seinen damaligen Rang mitteilte. Auf dem Schreibtisch standen eine massive gusseiserne Lampe und ein Briefbeschwerer aus Marmor, wohl auch ein Erbstück, denn er wirkte sehr klobig und sehr bedrohlich. Helmar mochte diesen Briefbeschwerer aus einem ganz einfachen Grund, er hatte sich schon oft vorgestellt, seinem Vater damit den Schädel einzuschlagen, und es war jedes Mal ein gutes Gefühl gewesen, dass es da etwas Härteres gab als den Dickkopf seines Vaters.

Sein Vater klappte den Laptop zu, er hatte immer das neueste Modell, immer einen Toshiba, die Marke der Samurais!, und dennoch hatte man das Gefühl, dass er sich bei jedem Auf- und Zuklappen darüber ärgerte, dass es keinen deutschen Computerhersteller gab.

Von sich aus wäre Helmar nie auf die Idee gekommen, heimlich in dieses Arbeitszimmer einzutreten, obwohl es der einzige Raum im Haus war, in dem Bücher standen. Seine Schwester las nicht, sein Bruder blickte nie von seinem Laptop hoch, so kam es ihm zumindest vor. Und er selbst las nur in der Bibel, die er in seinem Sportrucksack verbarg. Aber er wollte wissen, was sein Vater las, was er dachte, was er fühlte. «Unser Vater?» – sein Bruder hatte ihn bei der Frage angesehen, als wäre er irrsinnig. «Was unser Vater denkt oder fühlt oder macht oder kackt, ist mir scheißegal. Wenn du es unbedingt wissen willst, dann würde ich nicht auf seine Bücherwand starren, sondern seinen Laptop klauen!»

Als sein Vater auf einer seiner Auslandsreisen war, hatte er systematisch das Arbeitszimmer untersucht. Er wusste, es gab einen Safe hinter dem absurd kitschigen Heidebild links an der Wand, aber da war kein Rankommen. Er nahm alle Bände der Bücherwand rechts einzeln aus dem Regal, aber da war nichts, kein Kuvert, keine versteckten Zeitungsausschnitte, keine heimlichen Andenken. Nichts. Sauber aufgereiht standen die deutschen Klassiker in einer edlen blauen Leinenausgabe, unberührt. Er hätte schwören können, dass sein Vater nie einen Band davon in der Hand gehabt hatte. Das Gleiche galt für die Lexika. Ein deutsches, ein englisches und ein französisches. Wunderbar schwere Bände, nie angefasst. Dann hatte er sich den Schreibtisch vorgenommen. Sein Vater hatte nichts abgeschlossen. Er war sich wohl sicher, dass seine Kinder es nie wagen würden, seine privaten Sachen zu durchstöbern. Als Helmar alles durchgesehen hatte, war er sich auch klar darüber, warum sein Vater sich so sicher sein konnte. Es gab nichts Privates. Kein Bild, kein privater Brief, keine Pistole, nichts. In der einen Schublade Briefumschläge, in der anderen diverse Schreibutensilien, mehr nicht. Dieser Mann legte es darauf an, keine Spuren zu hinterlassen, aber warum hatte er dann Kinder gezeugt?

«Gott ist eine Ausrede. Eine Ausrede der Schwachen für ihre Schwäche.»

Sie hatten sich eine Weile unverwandt angestarrt. Sein Vater mit der gelangweilten Gelassenheit eines Richters, der sein Urteil längst gefällt hatte, weil er den Delinquenten in- und auswendig kannte. Er selbst mit dem ängstlichen Willen, ihm einmal, nur ein einziges Mal standhalten zu können.

Er hatte den Blick senken müssen. Als er nach einer Weile wieder aufsah, mühsam die Tränen unterdrückend, sah er den höhnischen Gesichtsausdruck seines Vaters. ‹Schwächling!› Dieser Gesichtsausdruck war nicht schwer zu übersetzen. «Mein Sohn ist ein pickliger Schwächling!»

In diesem Moment schwor sich Helmar, seinem Vater zu schaden, wo und wann immer er konnte.

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