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Freitag, 9. März, 8 Uhr
Lottas Schulweg

Lotta hasste ihre Lehrer. Sie hasste ihre Mitschüler, sie hasste Berlin, sie hasste ihre Mutter, immer dann, wenn sie Fleisch aß. Sie hasste ihre Sportlehrerin, weil sie eine verdammte Sklaventreiberin war und nicht einsah, dass sie keine Lust auf Schwitzen hatte. Das war eklig. Sie hasste ihre Freundin Rena, weil sie immer dicker wurde und nur von Jungs erzählte. Sie hasste Vampire, sie hasste Amy Winehouse, weil sie sich so zugrunde gerichtet hatte. Sie hasste Drogen, Alkohol, Zigaretten, Hundescheiße auf der Straße, Fahrradfahrer auf dem Gehweg, bettelnde Penner und alle Politiker, weil sie nichts unternahmen gegen die Geldgier der Reichen.

Sie hatte sich eine kleine Kladde angelegt, «Mein Hassbuch», in das sie alles eintrug, was sie verabscheute. Das war eine Menge, stellte sie befriedigt fest, nachdem sie über fünfzig Einträge gezählt hatte. «Du kannst stolz sein auf jeden Feind, denn nur die Starken suchen sich Gegner, nur die Schwachen Freunde!»

Sie hatte lange über den Satz nachdenken müssen, und über die Menschen, die sie kannte, die alle viel zu feige waren und keinen einzigen Gegner hatten, nur Freunde.

Ihre Freundin Rena wollte sich überall nur beliebt machen, und genau das Gegenteil war der Fall und aus Kummer wurde sie immer fetter und fetter.

Ihre Mutter war auch nicht sehr stark, obwohl sie immer so tat. Klar, sie wusste, dass sie eine Menge am Hut hatte und dass es nicht einfach war für eine alleinerziehende Mutter, aber es hatte sie ja keiner dazu gezwungen.

«Warum hast du mich denn damals bekommen, obwohl du ihn gar nicht mehr geliebt hast?»

Becky war total baff gewesen, als sie ihr die Frage gestellt hatte. Das hätte sie nicht erwartet, dass ihre Tochter so plötzlich erwachsen wurde. Viel zu schnell erwachsen.

«Was für eine Frage!», wich sie aus.

«Warum denn, warum denn?», blaffte Lotta böse zurück. Sie wusste, sie hatte das Recht auf eine Antwort.

Ohne den Orden hätte sie sich das allerdings nie getraut, ihrer Mutter so zuzusetzen. «I’ve got the power!», summte sie. Ein ziemlich gutes Gefühl, das sie bis dahin nicht gekannt hatte. Als sie das erste Mal in die Community kam, dachte sie, was für ein abgedrehter Film: «New Virgins.»

Den Link hatte ihr eine Veganerin zugeschickt. «Wenn du wirklich ernst machen willst mit dem Kampf gegen die Fleischfresser, Kannibalen und Blutsaufer, geh da mal hin.»

Erst war es gar nicht so leicht, Zutritt zu bekommen. Sie brauchte eine Patin und nachdem die sie empfohlen hatte, musste sie eine lange Liste mit ziemlich direkten Fragen beantworten.

Worüber sie gern nachdachte, was sie gern las, was ihre Eltern gern lasen, wann sie das erste Mal gelacht hatte, wann sie das erste Mal geweint hatte. Da waren schwierige Fragen darunter und ganz einfache und es war total spannend gewesen, darüber nachzudenken. Sie wusste noch genau, wann sie das erste Mal gelacht hatte, aus vollem Hals und so laut, dass ihre Mutter schon Angst bekam, sie würde an dem Lachen ersticken.

Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren war Becky mit einem kleinen süßen Kater angekommen, Karl-Heinz hatte sie ihn getauft, was natürlich total süß war, weil kein Kater hieß Karl-Heinz, der aber schon, denn er sah aus wie Karl-Heinz. Ein rot gestreifter kleiner Tiger, gar nicht so billig eingekauft bei einer ziemlich armen Frau in Hellersdorf, die sich das Katzenfutter nicht mehr leisten konnte.

Sie hatte ihre Mutter damals mitleidig angesehen. Becky fiel immer auf solche Geschichten rein. Sie gab jedem Penner einen Euro, jedem Musikanten zwei und jeder alten Frau, die nach Alkohol stank, einen lieben Blick. Sie war schwach. Sie fand für alles und jeden eine Entschuldigung.

«Entschuldige dich niemals!», war eine Ordensregel, die ihr sofort eingeleuchtet hatte, weil sie an ihre Mutter denken musste. Die entschuldigte sich für alles und jeden.

«Was sollen wir denn mit einer Katze?», hatte sie damals gefragt. «Na, was wohl? Wir wollen sie knuddeln und lieben und in Ehren aufwachsen sehen. Ist er nicht total süß!» Genau in dem Moment, als sie das sagte, hatte sich Karl-Heinz seltsam breitbeinig auf Beckys Lesesessel gesetzt, war einmal mit dem Hintern hin und her geschrubbt und hatte dann gepieselt und gepieselt. Becky war schockstarr und Lotta hatte lauthals lachen müssen, sie konnte gar kein Ende mehr finden. Das war so typisch für ihre Mutter, so was von typisch. Sie hatte einfach immer Pech. Aber das konnte sie keinem anderen ankreiden als sich selbst. Sie war einfach zu schwach. Die Schwester Oberin hatte es ganz einfach und klar formuliert: «Versager versagen nicht weil die anderen es wollen, sondern weil sie es selbst wollen. Sie wollen versagen, sie wollen ihr Versagen eintauschen gegen Mitleid.» So wie ihre Mutter ihren Kummer eintauschen wollte gegen Zärtlichkeiten. Aber Lotta hatte ihr jeden Körperkontakt untersagt. Sie war ansteckend. Die Schwäche ihrer Mutter war ansteckend. Das hatte auch die obere Schwester gesagt und die Schlussfolgerung war ganz klar und einfach: Halte dich fern von denen, die nicht so sind wie du.

Nachdem sie damals den Fragebogen ausgefüllt hatte, dauerte es fast einen ganzen Monat, bis sie Zutritt zum ersten Kreis der Novizen erhielt. Ihr Passwort war «Strength», was sie anfangs ein wenig albern fand, eher etwas für Jungs und «World of Warcraft», und sie hatte schon Angst, dass sie in ein komisches Spiel geraten war, in dem sich Avatare um irgendwelche geheimen Schätze balgten, aber es war ganz ernst. Jeder konnte sich einen Namen geben oder unter seinem eigenen mitarbeiten. Lotta nannte sich Lilith, der Name hatte ihr schon immer gefallen, das wäre ein viel schönerer Name für sie gewesen, irgendwie geheimnisvoller.

Lilith war eine Göttin, die einem Baum entsprungen war, das passte gut zu ihr. Sie kam sich auch vor wie aus einem Baum entsprungen. Sie liebte Bäume und manchmal, wenn kein Mensch in der Nähe war, umarmte sie Bäume. Es war ein gutes Gefühl. Es gab ihr viel mehr Kraft, als wenn sie einen Menschen umarmte.

Das hatte sie noch nie jemand gesagt, aber mit den anderen Novizinnen konnte sie über alles reden. Es ging vielen so wie ihr. Sie liebten die Pflanzen und die Blumen. Sie mochten kein Fleisch. Keine lauten Menschen. Keine Sonne, die zu hell brannte.

Lotta trug immer eine Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor. «Ich will nicht schmutzig werden.»

Ihre Mutter hatte das für einen dummen Scherz gehalten. «Du wirst doch nicht schmutzig, wenn du braun wirst. Was ist das denn für ein Unsinn?!»

«Das ist kein Unsinn», hatte sie wütend entgegnet, «sieh dir doch diese braunen Menschen an. Wie schmutzig das aussieht!»

Ihre Haut blieb blass wie Porzellan, das fand sie schön. Ihre Mutter hingegen starrte sie zuweilen an, als fürchtete sie um ihre Gesundheit und ihren Verstand.

Aber das ist normal, hatte die Schwester Oberin geschrieben, die anderen verstehen das nicht. «Sie verstehen dich nicht! Rede mit ihnen wie mit Kindern, denn sie verstehen es nicht und werden es nie verstehen, was gelebte Reinheit ist!»

Gelebte Reinheit, das war das Wort, auf das sie gewartet hatte, gelebte Reinheit, das hatte sie immer gewollt, auch als sie es noch nicht so hatte sagen können.

«Danke, obere Schwester», hatte sie damals nur geschrieben, «danke.» In der Woche darauf war sie in den nächsten Kreis aufgenommen worden, den Kreis der tätigen Engel, und als Zeichen ihres Fortschritts war ihr ein Brief zugestellt worden, mit einem Rosentattoo, das sich sanft auftragen ließ und zur Not auch wieder abbürsten, aber sie wollte es nie mehr abbürsten, sie wollte es für immer tragen. Denn von nun an war sie nie mehr allein, ganz gleich, was ihre Mutter darüber denken mochte. Die war ihr egal. Und vielleicht, vielleicht konnte sie ja bald ohne sie leben! Die Schwester Oberin hatte so etwas angedeutet. Dann könnte sie endlich zu Heloise ziehen!

Freitag, 9. März, 11 Uhr
Restaurant Gendamerie

Der Sekretär hatte Martina in die Gendarmerie zum späten Frühstück gebeten. Sie mochte das Lokal nicht sonderlich. Es stand für den neuen Protz in Mitte. Für den neuen Ehrgeiz der Gastronomie, der sich in Nichts von dem alten Ehrgeiz unterschied, den Leuten möglichst rasch das Geld aus der Tasche zu ziehen. Der Trick funktionierte nicht über das gute Essen, sondern über das Ambiente und das Wirgefühl. Deswegen mied sie seit Monaten das Borchardt nebenan, dort, wo sie alle saßen, die glaubten, dazu zu gehören. Aber wenn sie ihren Friseur sehen wollte, dann ging sie in seine Frisierstube und nicht ins Restaurant.

Der Gastraum in der Gendarmerie war riesig und um diese Uhrzeit fast vollkommen leer. Ein ältliches Touristenehepaar kuschelte in einer der Nischen, den aufgeschlagenen Stadtplan vor sich. Seniorenstädtereisen, das würde ihr wahrscheinlich erspart bleiben bei ihrer Lebenserwartung. Die beiden sahen ab und an verstohlen auf das riesige Wandgemälde, Bacchanal, von Jean-Yves Klein, sie war seinerzeit bei der Einweihung dabei gewesen. Die Vorstellung, dass die beiden Alten sich gern und umstandslos dieser Orgie anschließen würden, reizte sie zu einem Lächeln. Das ihr sofort missriet, als sie sich auf ihr Gegenüber konzentrierte. So viel blasierter Hochmut war ihr selten untergekommen.

«Was reizt Sie eigentlich an diesem Handlanger-Job für einen senilen Choleriker?»

Wie immer in letzter Zeit hatte sie sich sprachlich nicht im Griff, wenn sie wütend war, aber das war ihr gleichgültig.

Wilson setzte sich ein wenig aufrechter. Er schien die feste Absicht zu haben, ihr genau so viel Angriffsfläche zu bieten, wie sie brauchte, um eine passabel gute Laune zu entwickeln.

 

«Das Geld. Ich bin käuflich, und das aus Überzeugung. Hinzu kommt natürlich das öffentliche Aufsehen! Ich stehe gern im Mittelpunkt, wie Sie wohl schon bemerkt haben.»

«Publicitygeil!»

«Was ich bei hübschen Frauen Ihrer Generation nie verstehen werde, ist dieser gewisse undefinierbare Hang zur Vulgarität! Als befänden sie sich dauernd in der Defensive, aber ich darf Ihnen versichern: Sie sind nicht in der Defensive. Ich will Ihnen nichts Böses. Im Gegenteil.»

«Na, dann reden wir doch noch ein wenig über Sie. Sie haben meine Frage nicht beantwortet, sondern sich in kulturkritische Phrasen gerettet. Dagegen bin ich schwer allergisch. Also bitte, was veranlasst Sie, Ihre Zeit für Klimt zu opfern?»

«Nun ja, ich will ehrlich sein: Ich habe einen Vaterkomplex. Ich bin in Internaten aufgewachsen, habe meine Eltern nie kennengelernt, trotz aufwendiger Recherche weiß ich bis heute nicht, wer sie sind, wer sie waren, warum sie zusammen waren, wieso sie mich zeugten … die üblichen Fragen. Klimt nahm mich an wie einen Sohn. Er öffnete mir alle Türen. Ich kam frisch von der Universität und stand wohl schon da unter Beobachtung einiger Verlage, weil ich in Sachen Marketing und Ego-Commerce einiges publiziert hatte. Ich wollte mich aber nicht einem dieser Großkonzerne andienen, also nahm ich vor drei Jahren sein Angebot als persönlicher PR-Assistent an. Was auch für mich eine grandiose Werbung war – von nun an standen wir immer gemeinsam vor der Kamera. Und ich darf Ihnen versichern, er stand in letzter Zeit verdammt oft vor der Kamera.» Er tupfte sich den Mund mit der Serviette, als könnte er so das ‹verdammt› ungeschehen machen.

«Sie müssen entschuldigen, es gibt hier kein Frühstück in dem Sinne, wie Sie es vielleicht gewohnt sind, aber ich denke, ein Croissant und ein Kaffee genügen?»

Sie nickte, und er orderte unauffällig. Er war einer dieser Männer, die in einem Restaurant nie laut rufen oder auffällig gestikulieren mussten. Die Kellner lauerten geradezu auf seine Bestellung, mochte sie auch noch so bescheiden ausfallen.

«Wo war ich?» Er sah sie mit koketter Neugier an, als wollte er ihren Kenntnisstand überprüfen.

«Ego-Commerce?»

«Nun, ich darf mir schmeicheln, diesen Begriff geprägt zu haben, in Analogie zu Social Commerce, Sie verstehen …»

«Natürlich!»

Martina war versucht, ihn an seiner Krawatte einmal im Raum rotieren zu lassen, bis auch noch das letzte Kleingeld aus seinen Hosentaschen geklimpert war.

«In aller Kürze: Social Commerce bindet den Kunden ins Verkaufsgeschehen ein.»

«Sollte man meinen, er kauft ja schließlich. Deswegen heißt er wohl Kunde.»

«Die Bindung ist eine emotionale», fuhr Wilson ungerührt fort. «Er soll das Produkt im Netz kommentieren, bewerben, durchaus auch kritisieren. Der Kunde wird auf gewisse Weise zum Koproduzenten. Ego-Commerce bedeutet folglich: Wir kreieren Prominenz mithilfe spezifisch designter User-Kampagnen, was den Vorteil hat, es kostet wenig, bringt aber viel, schlicht gesprochen.»

«Und der Vorteil der User?»

«Sie können jederzeit selbst prominent werden!»

«Versteh ich nicht.»

«Nine-Eleven, Sie erinnern sich, der Einsturz der Zwillingstürme.»

«Sehr witzig!»

«In der Folge gab es eine Flut von Publikationen. Nun, wie bewerben Sie Bücher über Nine-Eleven? Indem Sie Anzeigen schalten? Das ist Verlagsdenken von gestern. Es ist ein Dreischritt. Sie schlagen dem Autor das Thema vor: Verschwörungstheorie. Zweiter Schritt: Sie richten Nutzerforen zu diesem Thema im Internet ein. Ermuntern andere Verschwörungstheoretiker, ihre Vermutungen ins Netz zu stellen, über Mittelsmänner versteht sich, und heizen so eine Debatte im Netz an, die wiederum, im dritten Schritt, den Erfolg des Buchs garantiert.»

«Und in der Folge andere animiert, zum gleichen Thema ein ähnliches Buch zu schreiben, das wiederum heftig diskutiert wird und sich wahnsinnig gut verkauft, was wiederum …»

«Genau, das Perpetuum mobile des Verlagswesens. Von mir erfunden. Erste Nutznießerin war übrigens Jane Rowling.»

«Sehr witzig.»

Sie sah ihn mit leicht schräg gelegtem Kopf an, was bei ihr immer ein Zeichen war, dass sie eine Idee faszinierend fand. Das hatte er sofort wahrgenommen und ruckte geschmeichelt auf seinem Platz hin und her. Er war wie ein kleiner Junge. Vermutlich war was dran an seiner Waisen-Biografie. So etwas konnte man unmöglich schauspielern.

«Einen ähnlichen Hype sollen Sie jetzt bei Klimt auslösen?»

«Auch das, und ein wenig mehr! Klimt geht es ja nicht nur um den Verkauf seiner Bücher, Geld hat er nicht mehr nötig, wird er auch vermutlich nicht mehr ausgeben können, ihm geht es um Publicity für seine Ideen.»

«Aus reiner Sorge um die Welt und ihren Fortbestand?»

«So in etwa …»

«Warum wechselte Klimt dann als Wissenschaftler ins Romanfach?» Sie unterbrach ihn aus Angst, er könnte dieses ‹etwa› ausformulieren zu einem brillanten Vortrag über Gott und die Welt und Klimts Rolle als alternder Messias. Wilson holte tief Luft, es passierte ihm nicht oft, dass er einfach so unterbrochen wurde. Es machte ihn nicht ärgerlich, eher neugierig. Er hatte in Martina eine ebenbürtige Gegnerin, das gefiel ihm, das gefiel ihm sogar außerordentlich. «Weil man ihm als Wissenschaftler kaum Gehör schenken würde. Zudem: Er ist eitel. Er braucht Publikum, das große Publikum!»

‹Da habt ihr etwas gemeinsam›, dachte sie. ‹Du hörst dich auch gern reden, wie alle Männer deiner Generation.› Martina schätzte Wilson auf Mitte dreißig. Er trug einen dezent gestreiften Anzug, eine sehr teure Armbanduhr, zumindest dem Anschein nach, und ließ seine Hände sehr dekorativ auf dem Tisch ruhen, wohl wissend, dass sie das Anziehendste an ihm waren. Denn während sein Blick immer ein wenig zu musternd wirkte, strahlten seine Hände die Ruhe eines Menschen aus, der sich selbst und seiner Talente absolut gewiss war.

«Darüber hinaus gibt es durchaus persönliche Motive, mit ihm zusammenzuarbeiten …»

«Wann wird das Buch erscheinen?»

«In absehbarer Zeit, aber ich will auf etwas anderes hinaus …»

Allmählich fand sie Gefallen daran, ihn barsch zu unterbrechen.

«Wie ist der Betreuungs-, oder besser gefragt, der Überwachungsplan?»

«Löchrig, da Klimt sich beharrlich weigert, unter meinem persönlichen Arrest zu stehen, wie er das nennt.»

«Er will sterben?»

«Er inszeniert seinen Tod. Die vierzehn Stationen des Kreuzweges … sagt Ihnen das etwas? Wenn nicht, lesen Sie es nach. Die Bibel, ein sehr interessantes Buch. Denn mich müssen Sie jetzt entschuldigen, sosehr ich Ihre inquisitorische Art auch schätze, es wird eine Protestaktion vor Klimts Hotel erwartet. Ein kleiner Marketingspaß unseres Verlags, über den wir bitte beide Stillschweigen bewahren. Aber wollen wir unser Gespräch nicht heute Abend fortsetzen … Ein kleiner Bummel entlang der Spree? Dann können wir ein wenig ausführlicher über die Privatperson Klimt sprechen. Das kam mir doch gerade ein wenig zu kurz. Überlegen Sie in Ruhe, welche Fragen Sie wirklich stellen wollen, welche Fragen wirklich wichtig sind!» Er lächelte auf eine so bedeutsame Art, dass sie versucht war, ihm den Zuckerstreuer an den Kopf zu werfen. Er sah ihre verhaltene Wut und lächelte noch eine Spur maliziöser.

«Dann könnten wir auch ein wenig über Sie reden! Ich hoffe, Sie haben die Therapien gut überstanden und fühlen sich fit für die anstehenden Aufgaben?! Also abgemacht? Neunzehn Uhr vor dem Bode-Museum? Ach ja, eine kleine Bitte noch. Kontaktieren Sie morgen diese Frau hier, Klimts Tochter. Er legt großen Wert darauf. Und es wird, wie es so schön heißt, Ihr Schaden nicht sein. Die Kontaktdaten finden Sie auf der Rückseite des Fotos. Ein schönen Tag noch!»

Martina war so überwältigt von einem Gefühl der tiefen Abneigung gegen Wilson, dass sie instinktiv den Kopf schüttelte – und zustimmte. Wilson nickte ihr höflich zu und ging, natürlich nicht ohne vorher dezent die Rechnung beglichen zu haben. Ein Heranwinken, ein diskretes Hinüberreichen eines viel zu großen Scheins, ganz schlechtes Hollywood. Fehlte nur noch, dass der Kellner an ihren Tisch trat und nach weiteren Wünschen fragte.

«Nein, danke, keinen Appetit!»

Er war tatsächlich gekommen und hatte ihr die Speisekarte vorlegen wollen. Was für eine gute Show, schade nur, dass sie wirklich nicht ihre beste Leistung abgerufen hatte. Wilson war ihr überlegen, noch. Mit dem Hinweis auf Klimt als Privatmann hatte er ihr den Kopf ganz schön zurechtgestutzt. Es war klar, dass es hier nicht nur um eine Marketingkampagne für ein neues Buch ging. Klimt hatte ein Anliegen, etwas, was ihm sehr wichtig war, eine Herzenssache. Um das Wohl der Menschheit sorgte der sich nicht, aber auch nicht um Geld oder Ruhm. Es musste irgendetwas anderes sein, aber was? Sie hatte einfach zu wenig Infos. Sie zog das Dossier aus ihrer Tasche, das ihr Kehrtmann in die Hand gedrückt hatte. Zwanzig magere Seiten über Klimts Karriere als Wissenschaftler und gefeierter Buchautor. Kaum drei Zeilen über ihn als Privatmann. Verheiratet, geschieden, ein Kind. ‹Das arme Kind›, dachte sie unwillkürlich. Seine Frau war bereits vor zehn Jahren gestorben, kein Wort über die Todesursache. Wahrscheinlich beschäftigte Klimt eine Heerschar von Anwälten, um sein Privatleben zu schützen – aber warum dann die Anfrage an sie?!

Martina rieb sich die Fäuste gegen die Stirn. Da war sie wieder, die Angst, dass sie ihr Talent einfach so verloren hatte. Mit dem Krebs war auch ihre Intuition verschwunden, verstrahlt, vergiftet durch die Chemo, sie fühlte sich krank und schwach.

«Verdammt, ich brauch einen guten Kaffee!»

Die Kellner drehten sich zu ihr um, als hätten sie den stummen Aufschrei tatsächlich gehört. Eigentlich wollten sie ihr nur in den Mantel helfen, zu dritt. Sie wehrte lachend ab und machte sich auf den Weg in Andrews Café.

Das Café war in den letzten Monaten so etwas wie ihr ganz privater Schutzraum geworden. Andrew war Australier. Sie hatte keine Ahnung, wie er es schaffte, aber wann immer er sie anlächelte, fühlte sie sich wie ein Bondi-Beach-Girl.

Mit zwanzig war sie dort gewesen. Damals hatte sie die Australier überhaupt nicht gemocht. Sie erinnerte sich an jede Menge tote Kängurus, die in unterschiedlichen Verwesungsgraden die Fernstraßen säumten. An schrecklich heiße Tage, an feuchte Regenwälder, träge Koalas und natürlich an die Wasserwunder des Great-Barrier-Riffs. Aber sie war kein Fan geworden. Seit Andrew sein kleines Café direkt an der Spree aufgemacht hatte, war alles anderes. Sie mochte seinen Akzent, seine beharrliche Weigerung, deutsch zu sprechen, und seinen Espresso. Den anderen Gästen erging es ähnlich. Es war immer viel zu eng, aber die Leute drängten sich gern herein, auch wenn selten ein Platz auf den kleinen harten Stühlen frei war. An dem kleineren der zwei Tische saß wie immer Tom und starrte angestrengt auf den Bildschirm seines Laptops.

«Hey, Babe!» Er sah kaum hoch, sondern tänzelte weiter über die Tastatur. Eigentlich hatte er Musiker werden wollen, aber der eklatante Mangel an Talent war selbst ihm nicht entgangen. Das wenige Geld, das er brauchte, verdiente er durch Kellnern, ansonsten multiplizierte er seine Existenz in Dutzenden Chatrooms und seinem privaten Blog.

Das Erfreulichste an Tom war seine absolute Asexualität. Das machte den Umgang mit ihm so entspannt. Zudem hatte Martina in den Monaten ihrer Krankheit selbst eine Art multiple Persönlichkeit entwickelt, sodass sie sich an Toms beharrlichen Schizophrenien nicht weiter störte. Für ihn gab es keine feste Zeit mehr, keinen festen Raum, er surfte im Universum wie ein Zeitreisender ohne Kilometerlimit.

«Master of the Universe, ich hab ein Problem!»

«Süße, erzähl mir was Neues!»

«Blick mich an, wenn ich mit dir rede!»

«Aber subito, meine Schönheit, einen kleinen Augenblick noch!»

Sie wusste genau, dass ein kleiner Augenblick bei Tom ganz schön lange sein konnte, und schlürfte bedächtig ihren Espresso.

«So!» Er blickte konzentriert auf. «Jetzt bin ich ganz für dich da!»

«Schön, mein Lieber, ich hab nämlich eine dringende Bitte!»

«Eine, die honoriert wird?»

«Bei Erfolg, sehr gut honoriert sogar!»

Das Schöne bei diesen kreativ Freischaffenden in Berlin war, dass sie alle ständig Geld brauchten, das machte sie so verfügbar. ‹Irgendwie seid ihr doch alle Stricher›, dachte sie ein wenig amüsiert, als sie in Toms aufmerksames Gesicht sah.

 

«Hier», sie schrieb Klimts und Wilsons Namen auf einen herumliegenden Kellnerblock.

«Alles, was ich wissen will, ist das, was nicht in Wikipedia oder sonstigen offiziellen Lebensläufen steht. Ich will den Klatsch, den Tratsch, die Essenz des Chats!»

«Die Essenz des Chats», er schüttelte den Kopf, «irgendwie bist du nicht von dieser Welt, meine blasse Schönheit.» Er wedelte wie wild mit dem Zettel vor ihren Augen, um ihr Frischluft zuzuführen. «Bis heute Abend bitte. Honorierung morgen um die gleich Zeit hier!»

«D’accord, Mademoiselle!»

Er hatte den Kopf schon wieder über die Tasten gebeugt. Seine Finger waren so unglaublich flink. Das war das Letzte, was sie von ihm im Gedächtnis behalten sollte.

Diese unglaublich flinken Finger.