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Donnerstag, 8. März, 11 Uhr
Auguststraße

«Was hältst du davon?»

Richard Claasen rührte nachdenklich in seinem grünen Tee. Es hatte Tage gegeben, da hätte er mit einer solchen Brühe nicht mal die Blumen gegossen, dachte Martina mit bitterer Belustigung, denn sie war froh, dass diese Tage lange zurücklagen. Fünf Jahre hatte er schon nichts mehr getrunken – aber eine gewisse Fahrigkeit in den Bewegungen war geblieben.

Sie saßen im Café der Kunstwerke in der Auguststraße. Sein Stammcafé, der vielen Zeitungen und Zeitschriften wegen. Sie vermutete eher der Touristinnen wegen, die in Scharen das nebenan gelegene Museum für moderne Kunst stürmten, hyperinteressiert die Treppen hoch- und runtertrippelten und dann erschöpft ihren Latte macchiato orderten.

«Klingt so verrückt, dass was dran sein könnte!»

Er musterte sie eindringlich.

«Aber wichtiger ist doch: Wie geht es dir? So allgemein und im Besonderen? Warum lässt du so wenig von dir hören?!» Da war es wieder, dieses Selbstmitleidige, Vorwurfsvolle. Sie sah angestrengt hinaus auf den Hof, weil sie ihn nicht ihren Unmut spüren lassen wollte. «Ich bin nicht hier, Paps, um dir aus meiner Krankenakte vorzulesen!»

Sie sah, dass er versucht war, ihre Hand zu tätscheln, aber ihr böser Blick brachte ihn schnell zurück zum eigentlichen Thema.

«Schon gut, mein Schatz. Schon gut. Reg dich nicht auf. Okay, der Typ will sich umbringen, du bekommst das Exklusivinterview mit seinem Todesengel, was gibt es da groß zu überlegen?»

«Die Sache stinkt!»

«Stimmt! Sagt das Trüffelschwein und freut sich über den Fund. Ist nun mal unser Job.»

Richard Claasen hatte seit Jahren keinen Artikel mehr geschrieben, dennoch redete er noch immer in der Wir-Form, wenn er seine Tochter traf. Sie hatte ihm einige kleinere Rechercheaufträge zukommen lassen, und er hatte sich alle Mühe gegeben, das nicht als Akt des Mitleids zu begreifen.

«Machen wir einen Deal wie in den guten alten Zeiten: Gib mir vierundzwanzig Stunden, um diesen Klimt zu durchleuchten …»

«Deal abgemacht. Aber bleib diskret!» Martina wusste, dass sie genauso gut einen Pinguin hätte bitten können, seinen Frack auszuziehen.

Sie stand auf und sah mit einem kindlichen Lächeln auf sein graues Haar. Es nahm ihr immer noch den Atem, wenn sie daran dachte, dass er sie überleben könnte. Der Gedanke verstörte sie nicht, er machte sie nur tieftraurig, denn sie war sich sicher, dass er es allein nicht schaffen würde.

Claasen wollte sich erheben, aber sie ahnte, dass eine Umarmung drohte, und drückte ihn wieder zurück auf den Stuhl.

«Ist schon gut, Paps! Versprochen ist versprochen! Du hängst nichts an die große Glocke!»

«Pfadfinderehrenwort!», grinste er, aber da war sie schon auf dem Weg zum Tresen, um die Rechnung zu zahlen. Im Innenhof wandte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu. Er winkte mit beiden Händen zurück.

«Noch einen doppelten Espresso!»

Vermutlich hatte sie auch den schon bezahlt, dachte er verbittert, denn sie kannte ihn ja in- und auswendig.

Richard Claasen liebte seine Tochter über alles. Er liebte sie mit diesem völlig reinen und guten Gefühl, einem besonderen Menschen das Leben geschenkt zu haben. Tag für Tag hatte er dafür dem lieben Gott gedankt, auch wenn er eigentlich den Teufel für den Drahtzieher seines Lebens hielt. In seinen verlorensten Jahren war es immer der Gedanke an seine Tochter gewesen, der ihn vom letzten Schritt abgehalten hatte, aber in den letzten Monaten ging sie ihm gewaltig auf die Nerven.

Er hasste den Gedanken, dass die Krankheit noch einmal ausbrechen könnte, er verfluchte den Tag, da er das erste Mal davon gehört hatte. Ihr blasses durchscheinendes Gesicht nach dem Ende der Chemotherapie trieb ihn nachts um, immer wieder erschien sie ihm, ein Todesengel, der an sein Bett trat, seine Hand nahm und zart flüsterte: «Mach dir keine Sorgen!»

Verdammt noch mal, er machte sich Sorgen, verdammt große Sorgen, denn das Mädchen, das er kannte und liebte, war ihm abhandengekommen und stattdessen war eine gepanzerte Jeanne d’Arc erschienen, die glaubte, ihren Krieg gegen Gott und die Welt alleine führen zu können. Das konnte sie nicht.

«Lass dir doch einfach mal helfen, verdammt!», hatte er sie angeherrscht, als sie wieder mal sein Angebot ausgeschlagen hatte, ihr ein wenig mehr Arbeit abzunehmen. Aber sie hatte nur kühl abgelehnt. Genau diese beherrschte Kühle brachte ihn zur Verzweiflung. Er wusste auch genau warum. Ihre Mutter war genauso gewesen. Als sie ihn verabschiedet hatte, damals, vor ziemlich genau zwanzig Jahren, hatte sie keine Miene verzogen. Er wurde einfach entlassen. Aber selbst bei seiner Entlassung hatte sich der Chefredakteur um ein paar freundliche Worte bemüht, auch wenn sie beide wussten, dass die Redaktion heilfroh war, ihn loszuwerden.

Das hatte er gut verstehen können. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie unbeliebt ein cholerischer Alkoholiker war, der glaubte, alles besser zu wissen, weil er in der Steinzeit für gewaltige Schlagzeilen gesorgt hatte. Seine Kollegen waren froh, ihn losgeworden zu sein, und er war froh, diese Karriereschnösel nicht mehr sehen zu müssen.

Aber dass Alina ihn einfach so von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt hatte, das hatte er nicht so einfach weggesteckt. Obwohl er natürlich wusste, dass es ihr gutes Recht war, endlich ein eigenes Leben zu führen. Eins, in dem es nicht um Suff und Geld und Ruhm ging.

Fünf Jahre war er jetzt trocken. Nicht ein Mal hatte sie angerufen. Nicht ein Mal hatte er gewagt, sich bei ihr zu melden. Martina traf sie regelmäßig, aber mehr als ein «Geht ihr gut» war ihr nicht zu entlocken. Als ob die beiden ein Schweigegelübde abgelegt hätten. Aber kein Mensch ist so beschissen schlecht, als dass man ihn einfach für den Rest seines Lebens totschweigen durfte.

«Lass die verdammte Flucherei», ermahnte er sich selbst und dankte der Kellnerin mit einem schiefen Lächeln für den Espresso.

«Ein frisches Glas Wasser bitte noch!»

Er wusste, wo Alina wohnte, weit draußen im Westteil der Stadt, wo ihn der Zufall nicht hinführen konnte. Einfach so in die Gegend zu fahren, sich in ein Café zu setzen und auf ihr Erscheinen zu hoffen, das traute er sich nicht. Das traute er auch dem Schicksal nicht zu, dass noch ein Happy End für ihn vorgesehen war.

Die Frau am Nebentisch trank einen Prosecco. Sie war nicht sonderlich schön. Eine dieser alternden Vernissagegängerinnen, die sonst nicht mehr viel im Leben zu tun hatten. Sie wirkte nicht grade sympathisch in ihrer verkrampften Art, aus dem Museumsspaziergang das Letzte an Genuss für diesen Tag, ihren freien Tag, herauszuholen. Aber ihren Prosecco, den neidete er ihr. Seit Monaten das erste Mal. Der Wunsch, sich irrsinnig zu betrinken. Auf der Stelle. Er faltete die Hände, unentwirrbar, sodass er weder ein Glas noch eine Tasse heben konnte, und betete das Versprechen vor sich hin, das er Martina gegeben hatte, sich nie mehr, nie mehr so gehen zu lassen. Nie mehr, nie mehr sollte sie ihn so sehen. Total besoffen. Dümmer als ein Tier. Regungsloser als ein Stein.

Aber sie war ihm im Gegenzug auch etwas schuldig, dachte er verbittert. Ein wenig mehr Liebe, ein bisschen weniger Mitleid. Sie unterschätzte ihn, hielt ihn für alt und abgekämpft, aber das war er nicht, noch lange nicht. Im Fall Klimt würde er ihr das beweisen.

Donnerstag, 8. März, 12 Uhr
Grandhotel, Klimts Suite

«Was für ein Scheißpublikum …»

Klimt suhlte sich in seiner Vulgarität wie eine Wildsau im Schlamm, dachte Wilson und musterte seinen Chef leicht angeekelt. Der hätte diesen Vergleich nicht einmal übel genommen, das war sein Verständnis von Männlichkeit – raumgreifende Rüpeleien, körperlich und verbal. ‹Zu viel Hemingway in der Jugend bringt jeden Mann um seine Tugend.› Wilson ertappte sich wieder einmal dabei, dass er absurd alberne Dinge denken musste, um seinen Chef überhaupt noch zu ertragen. ‹Smile or die, rhyme or cry.›

«Diese Idioten kapieren nichts, die könnten ihre eigenen Eier gerührt auf dem Silbertablett serviert bekommen und würden auch noch Danke sagen!»

Was Wilson noch mehr abstieß als diese sinnlosen Pöbeleien, war der Applaus heischende Blick von Klimt. Der saß in seinem schmalen französischen Hotelsessel, die dicken Schenkel eng zusammengepresst, die Fäuste auf den Armlehnen geballt, und spuckte mit hochrotem Kopf Obszönität um Obszönität auf den Teppich. In Kriegszeiten wäre es vermutlich Kautabak gewesen oder Zigarrenreste. Ein wenig wirkte er wie Churchill, nur ohne Amt und Würden.

Sie hatten im Schnelldurchlauf die Videoaufzeichnung des Vortrags studiert. Nach kaum drei Minuten kam die Frage, die Wilson eigentlich gleich vorab erwartet hätte: «Wie fanden Sie mich?» Die Frage klang beiläufig, aber Robert Wilson arbeitete schon zu lange für seinen Chef, als dass er sich davon hätte täuschen lassen. «Sensationell! Wie immer. Wir haben mehr Presse als der König der Löwen Flöhe!»

«Die Scheißkerle von der Presse interessieren mich nicht! Die würden jedem für diese Story den Hintern wischen. Was sagt das Publikum? Der einfache Mann auf der Straße? Ist die Botschaft angekommen?»

«Die Lawine kommt langsam ins Rollen. Die wichtigsten Boulevardblätter widmen sich dem Thema, etwas zaghaft noch, zugegeben, aber das wird sich rasch ändern. Hier: ‹Hitlers Erben unter uns.› Nice try, oder? ‹Hitlers Testament und sein Vollstrecker!› Alles noch etwas ungelenk, die Deutschen können immer noch nicht so gut mit ihrer Geschichte. Aber der hier ist gut: ‹Mord auf Abruf!› Sie trauen der Sache alle noch nicht so recht. Dazu kommt ein durchaus vertretbares Misstrauen bei so sensationellen Enthüllungen wie der unseren. Hitlers Tagebücher wurden ja auch recht schnell wieder aus dem Regal genommen. Aber wenn Sie nach meiner ganz privaten Einschätzung fragen, insbesondere wie Ihre Person wahrgenommen wird? Ja, die Leute wollen Sie unbedingt sterben sehen! Das kann man ihnen nicht mal übel nehmen, oder? Die Ankündigung, auch wenn sie etwas vernehmlicher hätte sein können, kam gut an! Gerade bei den Zuhörern im Saal.»

 

Charles Klimt kannte Wilson viel zu gut, als dass er sich von seiner zynisch willfährigen Art hätte beeindrucken lassen. Dennoch machte er sich einen Spaß daraus, ihm immer wieder Komplimente abzunötigen.

«Na immerhin haben wir schon ganz schön Schlamm aufgewirbelt, oder? Aber gut, zurück zum illustren Kreis der möglichen Attentäter …»

«Sie waren alle da.» Wilson wies auf einen kleinen hageren Herrn mit seidenem Schal, der während des Vortrages hektisch Notizen machte und kaum den Kopf hob.

«Ihr Freund Richard junior, der offenbar nie genug von ihren Ausführungen bekommen kann!»

Klimt hüstelte belustigt. Richard junior verfolgte ihn schon seit langer Zeit mit Morddrohungen. Er sah sich als Werkzeug des wiedergeborenen Herrn und vermutete in Klimt den leibhaftigen Antichristen, womit er nicht alleine stand. Allerdings bereitete die Beharrlichkeit seines Hasses inzwischen selbst Klimt ein wenig Sorge.

«Ich will nicht, dass mein Plan durch die Panikattacke eines Wirrkopfes durchkreuzt wird! Verstehen wir uns da?! Von wessen Hand ich sterbe, entscheide immer noch ich! Lassen Sie ihn verprügeln. Vielleicht kommt er dann zur Besinnung!»

Wilson hatte über jeden gefährlich scheinenden Gegner ein Dossier angelegt. Bei Richard junior musste er allerdings noch nicht mal seinen Laptop aufklappen, um alle relevanten Daten abzurufen. Richard war ein Gegner der ersten Stunde. Ein kleiner, hagerer, ein wenig bucklig wirkender Mann, ein Eindruck, der aber nur daher rührte, dass der Hass auf Klimt ihn geradezu niederzudrücken schien. Umso wahrscheinlicher war es, dass er diese Last irgendwann abzuschütteln gedachte. Es schien, als gönnte er seinem Erzfeind nicht einen einzigen weiteren Tag auf diesem sündigen Planeten.

«Hier, wie immer am äußersten Rand, seinen langen Beinen zuliebe, Signore Othello. Und wie immer ganz in Schwarz gekleidet! Ein Held der unveräußerlichen Gewohnheiten!»

Klimt hüstelte, als hätte er sich an einer Fischgräte verschluckt.

«Wilson, Ihre Witze bringen mich noch mal ins Grab!»

«Ich fürchte, das steht nicht in der Macht meines Humors! Signore Othello bereitet im Übrigen die Publikation einer neuen Kampfschrift gegen Sie vor, Auszüge kursieren bereits im Internet, eine Lektüre erübrigt sich, er verharrt auf dem Niveau seiner untalentiertesten Studenten.»

Martin Moses war wegen wiederholter sexueller Belästigung von Studentinnen wie Studenten unehrenhaft entlassen worden, und zwar ausgerechnet in jenem Monat, als Klimt drei Gastvorträge in Berkeley hielt. Moses vermutete einen Zusammenhang, welcher genau, war ihm selbst unergründlich, und so bezichtigte er Klimt zunächst einmal des Ideenklaus. Eine absurde Unterstellung, die auch nie ernsthafte Diskussionen ausgelöst hatte. Was ihn, den universitären Stalker dennoch so gefährlich machte, war, dass er die Treibjagd der Presse gegen ihn seit geraumer Zeit schon in eine Hexenjagd gegen Klimt wenden wollte, indem er immer neue Enthüllungen über dessen Sexualgewohnheiten ins Netz stellte, gern auch mit gefälschtem Bildmaterial oder gekauften Zeugenaussagen, was zuweilen schon sehr ernsthafte Auseinandersetzungen mit den uneinsichtigen Ermittlungsbehörden diverser Gastländer ausgelöst hatte.

«Es ist kein Spaß, in jedem neuen Land mit einem anderen Sexualdelikt konfrontiert zu werden. Seine Fantasie scheint da keine Grenzen zu kennen. Nur weil er sich als Täter vergessen machen will … Was für ein Waschweib! Sorgen Sie für seine Ausweisung! Gerne auch mit pikantem Bildmaterial. Das wird doch hier in Berlin nicht so schwer sein!»

Klimt verzog angewidert den Mund. Er empfand es geradezu als persönliche Beleidigung, dass ihm Martin Moses noch immer eine sexuelle Regsamkeit zutraute.

«Wir sollten den deutschen Behörden zudem einen Tipp geben, was seinen Drogenkonsum anbelangt. Vielleicht beschleunigt das Othellos Heimreise!»

Wilson hatte es sich angewöhnt, den Intimfeinden seines Chefs Namen aus Shakespeares Dramen zu geben. Klimt fand das nicht sonderlich witzig, aber er musste zugeben, es nahm den Figuren ein wenig von ihrer Bedrohlichkeit. Mit einem abschätzigen Lächeln musterte er das Standbild. Verstreut im Zuhörerraum saß ein weiteres Dutzend «Gewohnheitsspinner», die ihn mit Hass-Mails rund um den Globus verfolgten.

«Fast schon ein Familientreffen. Kein neues Gesicht dabei, schade, aber das war ja auch nicht zu erwarten!»

«Unser eigentlicher Gegner», Wilson ignorierte Klimts kokettes Aufseufzen und zeigte auf einen leger am Rand sitzenden älteren Herrn mit Fliege, «hält sich wie immer diskret im Hintergrund. Shylock, alias Ludwig Müller von Hausen, Generalssekretär der ‹Humanistischen Liga›. Ich vermute, er wird in den nächsten Tagen an Sie herantreten und Sie sehr höflich bitten, auf den zweiten Teil des Vortrages zu verzichten.

«Was wissen wir über von Hausen exakt?»

Wilson klappte sein Notebook auf und tänzelte mit den Fingern über die Tastatur. Er bildete sich viel darauf ein, das nahezu geräuschlos tun zu können, was Klimt nur ein verächtliches Schnaufen abnötigte.

«Warum ist von Hausen gefährlich? Er hat über alle Mächtigen dieser Stadt ein Dossier angelegt. Politiker, Wirtschaftsbosse und Kriminelle. Wer in Berlin etwas zu sagen hat, ist in seiner Datenbank.»

«Wir auch? Haben wir auch Zugriff auf diese Datenbank?»

«Selbstredend!» Wilson hüstelte selbstzufrieden. «Aber das ist nebensächlich, insofern dieses provinzielle Surrounding hier in Berlin für uns nicht weiter von Interesse ist. Wichtiger, brisanter sind von Hausens internationale Kontakte. Er ist, dank der von ihm gegründeten D’Annunzio-Gesellschaft, bestens vernetzt mit der italienischen Mafia. Er unterhält rege Kontakte zu der White-Nation-Bewegung in den Staaten, und er kennt dank seiner juristischen Beratertätigkeit für die Stasi-Waffenverkäufer die einflussreichsten Politiker, soll heißen Kriminellen im Nahen Osten. Von Hause aus ist er ein Enkel des berüchtigten SS-Oberführers Hilmar von Hausen, der für seine eigenhändigen Erschießungen von Dutzenden Partisanen den Ehrennamen Bluthund von Batschka erhielt. Hilmar von Hausen gelang seinerzeit die Flucht auf der «Rattenlinie», soll heißen, dank der tätigen Mithilfe des Roten Kreuzes und des Vatikans konnte er nach Paraguay entkommen. Dort verlor sich seine Spur. Vermutlich kehrte er unter anderem Namen zu seiner Familie in die Bundesrepublik zurück. Auffällig ist jedenfalls, dass die keineswegs reichen von Hausens seit Beginn der Fünfzigerjahre einen Chauffeur beschäftigten, der Hilmar von Hausen auffällig ähnlich sah. Die Kriminalpolizei hier in Berlin ging entsprechenden Hinweisen allerdings nie nach. Es bestand kein Fahndungsbedarf.» Klimt schnaufte verächtlich, was Wilson nicht aus der Ruhe brachte. «Hilmars Sohn starb früh. Es hieß, er sei geistig umnachtet gewesen, was man von Ludwig Müller von Hausen nicht behaupten kann – er geriet ganz nach seinem Großvater. Eine eiskalte Intelligenz und ein unbezähmbarer Machtwille. Der Mann ist ein Gegner von Format.»

«Nationalsozialist noch immer?» Klimt schien nicht sonderlich beeindruckt, aber seine Augen verengten sich hoch konzentriert. «Schlimmer. Ein Nationalsozialist der Zukunft. Was ihn treibt? Schwer zu sagen! Ich fürchte, es ist ein sehr antiquiertes Gefühl von Stolz. Er hasst die Gegenwart, die Moderne schlechthin. Er verachtet die Generation seines Großvaters, weil sie Deutschland in den Abgrund führte. Er nimmt es Hitler persönlich übel, dass Berlin bombardiert wurde. Er möchte nur eins, Rache dafür nehmen, dass ihm persönlich in dieser Zeit nicht die große Bühne bereitet wurde. Ein Achill ohne die trojanische Bühne und ohne Homer!»

«Dieses Gefühl werden die wenigsten nachvollziehen können!»

«Das macht ihn so unberechenbar. Jeder vermutet etwas anderes hinter seinem Tun. Geldgier, Geltungssucht, Fanatismus, nichts von alldem. Er unterstützt die Bewegung nur aus einem Grund: Vernichtungswille. Zwei Kinder, eine Frau, die keinen Hehl daraus macht, dass sie ihn gern und häufig betrügt, was wiederum ihm völlig gleichgültig ist. Dieser Mann ist faktisch unangreifbar … Ihm ist nichts lieb und teuer, sein Ego ausgenommen.»

«Was plant er?»

«Nun ja, Ihre Auslöschung, das versteht sich. Sie sind ihm schon rein körperlich zutiefst zuwider. Die Frage ist nur, wie er es bewerkstelligen will. Ich fürchte, sein Talent zur Grausamkeit steht seiner Fantasie, was den Tathergang betreffen wird, in nichts nach.»

«Wollen Sie mir Angst machen?!»

«Aber sicher! Das lässt Sie hoffentlich ein wenig vorsichtiger agieren! Allzu einfach wollen wir es den anderen ja auch nicht machen!»

«Was tun?»

«Nun, wir haben noch etwas Zeit. Er wird sich mit uns, mit Ihnen treffen wollen. Er wird zu erfahren suchen, was genau Sie alles wissen. Er wird Ihnen drohen, sie zu bestechen versuchen, kurzum ein wenig Katz und Maus mit ihnen spielen, und dann wird er sie töten. Eigenhändig, könnte ich mir vorstellen.»

«Und wir? Was können wir gegen ihn tun?» Klimt wurde ungeduldig, was Wilson noch bedächtiger sprechen ließ.

«Wir können dafür sorgen, dass die Allianz seiner Opfer tätig wird. Die Frage ist nur, ob uns das rechtzeitig gelingt.»

«Die Allianz seiner Opfer?! Geht es ein wenig konkreter?!»

«Nun ja, kein Bürgermeister wird sich gern nachsagen lassen, dass sein liebster Zeitvertreib Nutten und Koks sind, in wechselnder Reihenfolge, kein Gewerkschaftler gibt gern Schwarzgeldkonten zu, kein Vorsitzender der deutschen Industriellenvereinigung will seine Nacktbilder aus den Knabenpuffs in Phuket im Internet veröffentlicht sehen. Von Hausen hat sehr eifrig recherchiert. Das kommt uns zugute. Wir werden uns im präventiven Ermahnen üben.»

«Wie oft hab ich Ihnen schon gesagt, dass mir Ihre affektierte Ausdrucksweise grässlich auf die Nerven geht?!»

«Häufig, sehr häufig. Es ist mir geradezu ein Ansporn! Aber auch wenn Ihnen die Formulierung ‹präventives Ermahnen › nicht zusagt, so sind Sie doch mit dem Vorgehen an sich einverstanden, hoffe ich?»

«Wer soll als Erster auffliegen?»

«Aus politischem Kalkül wie aus persönlichem Empfinden heraus würde ich vorschlagen, dass wir zuallererst das Dossier über den Bürgermeister in Auszügen der Presse zuspielen. Mit einem sorgfältig kaschierten Adressvermerk sozusagen, der die Meute direkt auf die Spur von Hausens bringt. Das wird ihn nicht unschädlich machen, aber doch beschäftigen!»

«Gut, einverstanden.»

«Und nun, zuguterletzt …»

«Mein Liebling, wo ist sie? Ah ja, was für ein entzückendes Audrey-Hepburn-Hütchen! Die Lady hat einfach Geschmack!»

Er zoomte ihr Gesicht heran.

«Ayn, mein Schatz! Très chic wie immer, eine aparte Person. Schade, dass uns das Schicksal zu so unerbittlichen Feinden erklärt hat. Schade, schade!»

Klimt kicherte in sich hinein, was Wilson etwas unruhig auf seinem Sitz hin und her rutschen ließ. Er durchblickte die Beziehung zwischen Ayn Goldhouse und Klimt einfach nicht. Ein Außenstehender hätte denken können, sie wären vor langer Zeit tatsächlich einmal ein Paar gewesen, aber Ayn war gerade einmal Anfang fünfzig, während Klimt seinen siebzigsten Geburtstag nicht mehr erleben würde. Nicht zuletzt, weil Ayn Goldhouse es ihm nicht gönnte. Wilson erschrak ein wenig über die harmlose Formulierung. «Nicht gönnte» war eine lächerliche Verharmlosung. Diese Frau hasste Klimt mit einer Unbedingtheit, mit einer Tiefe des Gefühls, die unweigerlich an das Gegenteil denken ließ. Es war Liebe, nur auf teuflische Art.

Wilson erinnerte sich Wort für Wort an Klimts Erzählung über die erste gemeinsame Begegnung auf einem Charity-Dinner in Boston. Klimt stand in einer Traube aufmerksam lauschender Professoren und monologisierte wie immer über Gottes Tod und das nahende Ende der Welt, da erschien – kurz bevor zu Tisch gebeten wurde – eine Frau in Begleitung zweier mächtiger Leibwächter, die wie fallsüchtige Erzengel hinter ihr dreinstolperten, denn sie eilte mit kleinen festen Schrittchen direkt auf Klimt zu, blieb empört vor ihm stehen, ballte die Fäuste in ihre Hüften und zischte ihn an: «Feigling!»

 

Klimt blinzelte verwirrt. Er war Beleidigungen gewohnt, aber die waren meist von handfester Art, vor allem hatten sie meist einen guten Grund, aber als Feigling war er sich noch nie vorgekommen und anderen wohl auch nicht.

Die kleine schlanke Frau in dem dunkelroten Designerkostüm lächelte maliziös angesichts seiner Verwirrtheit, genoss sie einen ausgiebigen Augenblick lang, warf einen abschätzigen, aber keineswegs ungnädigen Blick auf Klimts jungen Sekretär und verschwand dann in der Obhut ihrer muskulösen Leibeigenen an den Tisch. Im Lauf des weiteren Abends würdigte sie Klimt keines weiteren Blicks mehr.

Der blieb, nachdem er so abgekanzelt worden war, einige Momente verwirrt stehen, dann fragte er bemüht ironisch: «Wer war das denn? Dschingis Khan in Frauenkleidern?»

«Keineswegs schlecht geraten!», applaudierte ein mageres Männchen mit schwerer Hornbrille, das sich als Soziologieprofessor zu erkennen gab. «Gestatten, mein Name ist Baumann, Norbert Baumann, und Schwerpunkt meines wissenschaftlichen Bemühens ist die neue Religiosität der verarmenden amerikanischen Mittelschicht.»

Klimts Blick gab ihm zu verstehen, dass er bitte schnell auf den Punkt kommen möge, weil er ihm sonst umstandslos den Rücken zudrehen würde. «Und Ayn Goldhouse ist ihr Prophet», setzte der aufgeschreckte kleine Professor eilends hinzu.

«Die Armee der Engel!» Klimts unfehlbares Gedächtnis lieferte ihm die passenden Stichworte, die er schnell zu einer ersten Personenbeschreibung zusammenfassen konnte. «Adoptivkind reicher Eltern, gab sich selbst ihren Vornamen in Bewunderung der Kapitalismuspriesterin Ayn Rand, schart seit Jahren eine Armee fanatisierter Feministinnen und Genderhysterikerinnen um sich, weil sie Gott für eine Frau und die Welt für ihren Fußabstreifer Richtung Himmelsthron hält …»

Klimt schnaufte, während Professor Baumann Hilfe suchend auf die anderen Anwesenden blickte, denn er hätte so gerne differenzierend eingegriffen, aber die warteten nur auf weitere polemische Kommentare – welche jedoch unterblieben.

Klimt schwieg, er schwieg für den Rest des Abends, dann, nach der Heimkehr in ihr gemeinsames Hotel, befahl er seinem damaligen Sekretär, alles, aber auch alles über diese Frau in Erfahrung zu bringen.

«Ich denke, dass ist der Beginn einer sehr intensiven … ja, warum nicht, nennen wir es Freundschaft!»

Wilson hatte den Report über sie sorgfältig studiert. Und er zermarterte sich seitdem das Hirn, was Ayn Goldhouse mit dem Vorwurf «Feigling» gemeint haben konnte. Aber es fiel ihm nichts ein, er konnte sich nicht einmal ruhig auf die Fragestellung konzentrieren, denn was ihn so fesselte, war das außergewöhnlich Anziehende ihrer Erscheinung. Ayn Goldhouse verzauberte ihr Gegenüber sofort, körperlich, weil sie einen mit einem so hellen durchdringenden Blick ansah, als könnte sie noch die dunkelsten Abgründe der Seele in einem neuen Licht erstrahlen lassen. Eine Menschenfängerin, das war sie!

Vor ziemlich genau drei Jahren hatte Wilson alles an Material gesammelt, was der Markt und die Detekteien an Informationen über Ayn Goldhouse hergaben. Es war viel, aber nicht genug, um das Rätsel um diese Frau zu klären. Das ging wohl auch Klimt so, denn er starrte noch immer wie gebannt auf die Leinwand, als befände er sich in einem stillen Dialog mit seiner Erzfeindin.

«Was mag sie wohl vorhaben?», flüsterte er, also könnte sie ihn und Wilson belauschen. «Was glauben Sie?»

«Sie wird alles tun, um Sie baldmöglichst zu eliminieren! Nicht eigenhändig, versteht sich, nicht auf körperliche Weise, vermute ich, das wäre zu billig. Sie will Sie lächerlich machen, so lächerlich, dass nie wieder ein Hahn nach Ihnen kräht, geschweige denn ein Journalist sich meldet!»

«Da vermuten Sie wohl richtig! Aber wie sollte es ihr gelingen, einen Menschen, der nichts mehr zu verlieren hat, vollends und für immer der Lächerlichkeit preiszugeben?»

«Sie animiert ihn, nackt durchs Brandenburger Tor zu spazieren?»

«Ihrer Fantasie sind in jeglicher Hinsicht sehr pubertäre Grenzen gesetzt!»

«Sie enttarnt seine wissenschaftlichen Arbeiten als Plagiate?»

«Wie originell! Wer könnte sich heutzutage noch wissenschaftlich blamieren, vor welchem Publikum denn, ich bitte Sie?!»

«Tut mir leid, dann muss ich die Waffen strecken …»

Klimt sah ihn mit einem gleichermaßen herablassenden wie ermutigenden Blick an, als hätte er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass Wilson eines Tages doch den ersten Schritt in seinen Fußstapfen würde tun können.

«Bescheidenheit ist aller Neugier Anfang! Denken Sie nach, wann waren die Helden in der Geschichte unserer Menschheit am verletzlichsten? Hmm? Seit den Tagen Homers gilt für alle Helden eine eiserne Maxime: Verliebe dich nicht, niemals, nie! Sonst verlierst du den Halt und dein Königreich und die Macht über Gott und die Frauen.»

«Sie meinen, Ayn Goldhouse will eine ihrer jungen Novizinnen auf Sie ansetzen, auf dass Sie gleichsam die Hosen herunterlassen und äh …»

«Nackt durchs Brandenburger Tor spazieren? Wilson! Sie gelangen auf den seltsamsten Umwegen immer wieder auf das kleine Eiland ihrer Naivität! Überlegen Sie doch, würde Ayn Goldhouse einer Schülerin diese heikle Aufgabe anvertrauen?»

«Nein, wahrscheinlich nicht. Sie meinen …»

Er sah seinen Chef ein wenig verwundert an, denn diese Überlegung schien ihm so absurd, dass sogar in der verrückten Welt Klimts kein Platz dafür war.

«Sie meinen doch nicht etwa …»

«Doch, sehr wohl, dass meine ich. Ich vermute, dass mir in den nächsten vierundzwanzig Stunden eine sehr geschmackvoll gestaltete Einladungskarte zugestellt wird …»

«In der Ayn Goldhouse Sie …»

«In der sie mich zum romantischen Dinner bittet, sehr wohl. Es wird ein wunderbarer Abend werden, davon bin ich überzeugt. Aber ich muss gestehen, ich weiß noch nicht genau, wie sich Odysseus vor dem Gesang der Sirene wirklich in Schutz bringen kann. Es ist also, deswegen sehen Sie mich so vergnügt, ein Wettstreit auf Augenhöhe! Und ich schließe eine persönliche Niederlage zum Wohle aller keineswegs aus!»

«Also alles nach Plan!»

«Alles nach Plan, Wilson! Auf nach Golgatha!» Klimt erhob sich. Wilson bot ihm die Hand, was Klimt mit einem höhnischen Lachen kommentierte.

«Sosehr mir Ihr Mut imponiert, so gesundheitsschädigend scheint er mir. Ich würde Ihnen dringend raten, auch wenn Sie wie gewohnt meine Ratschläge nicht zur Kenntnis nehmen, auf keinen Fall ohne Begleitung außer Haus zu gehen!»

«Wollen Sie mir Befehle erteilen?»

«Bitten, ich formuliere Bitten, zu Ihrem eigenen Wohl.»

«Danke! Abgelehnt.»

Wilson hatte nichts anderes erwartet.

«Eine letzte Kleinigkeit noch, Herr Klimt: Der Verlag hat angerufen, soll heißen Ihre Lektorin Fräulein Austen. Sie lässt fragen, wann endlich das Manuskript Ihres Buches eintrifft?»

Beide mussten lachen. Sie hatten dieses Fragespiel schon zu oft gespielt.

«Niemals, wie Sie sehr gut wissen. Aber drücken Sie es höflicher aus.»