Tödliche Tour

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Will verlagerte sein Gewicht und fuhr vorsichtig in die Kurve, die zum ersten Anstieg führte. Jetzt konnte er die Mannschaft sehen und er griff zu seiner Trinkflasche, um ein wenig Energie zu tanken. Heute war ein guter Tag, alle Reserven waren gefüllt.

Er machte wieder Druck und merkte, wie er langsam an seine Grenzen stieß. Es war ihm so vorgekommen, als habe er noch massig zuzusetzen gehabt, aber selbst die Größten, Merckx, LeMond, Indurain, kamen irgendwann an eine Mauer, die sie nicht durchbrechen konnten – so, als täten sich Physiologie und Physik zusammen, um sie in die Realität zurückzuholen und die Gesetze der Physik auch für sie wieder gelten zu lassen. Wie ungerecht, wie unwirklich.

Will zog sein rechtes Bein an den oberen Druckpunkt der Pedalumdrehung und legte sich in eine scharfe Rechtskurve. Es hatte ihn schon immer verblüfft, dass er das konnte. Er musste in dieser Kurve eine Schräglage von 45 Grad oder mehr haben und er verlor trotzdem zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle. Er segelte. Und jetzt musste er gleich die anderen erreichen. Noch über die nächste Kuppe, dann waren sie direkt vor ihm. Einer der neuen italienischen Wasserträger hatte Probleme mit seiner Kette und war zurückgefallen. Will nahm ihn mit und ohne ein Wort zu wechseln, bildeten sie eine Kolonne aus zwei Mann, bei der sie abwechselnd im Wind fuhren und das Tempo hoch hielten, um die Mannschaft einzuholen, ohne sich zu verausgaben.

Und die Lücke schloss sich.

Deeds war überrascht, als er Will nicht nur von hinten an die Gruppe heranfahren sah, sondern direkt an deren Spitze vorstoßen; besser gesagt, er war schockiert. Er schaute Will lange und eindringlich an.

»Nicht einschlafen, Mädels, Windkante und etwas Tempo, wenn ich bitten darf!«

Das Feld zerfiel in zwei Gruppen von je acht Fahrern, die sich sofort in die Tiefe und in die Breite staffelten, um den Seitenwind zu brechen. Der führende Fahrer nahm dem zweiten den Wind, der gleich links neben und eine halbe Radlänge hinter ihm fuhr, der dritte fuhr ebenso im Schatten des zweiten und so weiter. Sie bildeten eine rollende Wand und konnten so das Tempo deutlich steigern, vor allem für Bourgoin, der als Mannschaftskapitän weniger oft und weniger lange im Wind fuhr als der Italiener, der Will geholfen hatte, die Lücke zum Feld zu schließen.

Die nächsten zehn Minuten lang war Haven eine rollende Barrikade, eine gut geölte Maschine. Und als das Team so im stillen Einvernehmen dahinflog, merkte Will, dass ihn langsam die Kraft verließ. Von Senlis bis hierher das Loch zuzufahren, war die leichtere Übung gewesen. Er hatte sich stark gefühlt und diese überraschende Stärke genossen. Jetzt, da er die Leichtigkeit des Fahrens im Pulk hätte genießen können, spürte er die ersten Anzeichen einer Schwere in den Beinen, als fülle jemand langsam Sand in seine Waden, in seine Schuhe und in seine Oberschenkel. Er schaltete runter, um das Tempo der Mannschaft halten zu können, überschaltete und musste wie ein Wahnsinniger kurbeln, um dranzubleiben. Der Umwerfer hatte zwei Gänge übersprungen. So etwas durfte, ja konnte nicht passieren. Und doch passierte es. Und er konnte nichts dagegen tun.

Will hatte Mist gebaut. Er hatte zu viel gewollt, war zu früh zu hart gefahren. Die Jagd, bei der er zu Anfang so stark gewesen war, hatte seine Kräfte aufgezehrt und zu viel von seinen Reserven verbraucht, an die er zu lange nicht gedacht hatte. Sein Beine fingen an mit ungeheurem Feuer zu brennen. Er musste sie dehnen – nur einen Moment anhalten und die Beine dehnen. Der kraftvolle Rhythmus, den er noch vor ein paar Augenblicken gehabt hatte, war weg. Seine Oberschenkel schrien vor Schmerz. Er würde in der nächsten Stunde abreißen lassen müssen. Er versuchte Kraft aus seinen Armen zu ziehen, aus seinen Lungen, aus seinem Oberkörper. Benutze deinen Kopf, um da durchzukommen, das kann nicht ewig dauern. Und doch wusste er es. Er wusste es.

Er schaltete herunter und fuhr aus der Gruppe heraus. Er verließ seinen Platz. Er setzte sich aufrecht. Das große Experiment, die große Herausforderung war vorbei. Er hatte dem Feind ins Auge gesehen: seinem Alter, seiner Begabung, seinem Trainingszustand, seinem Selbstbewusstsein, seinem Selbstvertrauen. Er selbst war der Feind. Und der Feind hatte gewonnen.

Er hielt vor dem Fahrradgeschäft an, an dem er am Tag zuvor vorbeigekommen war. Der weißhaarige Besitzer hörte auf, das vorbeifahrende Team anzufeuern und starrte für einen langen Augenblick Will an, bevor er wieder in der Dunkelheit des Ladens verschwand.

Der Mannschaftswagen hielt neben ihm.

»Deeds hat gesagt, du sollst nach Senlis zurückfahren und deine Sachen packen. Du bist fertig.«

Ross starrte Philippe Graillot, einen unbedeutenden Team-Angestellten, fassungslos an. Wer zum Teufel bist du überhaupt, dachte er, mit welchem Recht redest du so mit mir – ich bin verdammt noch mal ein Fahrer. Ich sitze jeden Tag auf dem Rad. Egal welche Aufgabe, egal welches Wetter, ich bin da, du nicht. Du sitzt in einem verdammten Lederschalensitz und quasselst und frisst, denkst darüber nach, wie du den Weibern in der Kneipe weismachen kannst, dass du ein Fahrer bist, damit du sie abschleppen kannst, du Bastard. Wer bist du, dass du so mit mir redest, du kleiner Wurm?

Ross schaute durch das nichtssagende Gesicht hindurch, das ihm aus dem Fenster des geschundenen Peugeot entgegensah. Er zog kräftig die Nase hoch und spuckte einen fetten Batzen aus Rotz und Spucke direkt vor das Auto auf die Straße.

»Sag Deeds, dass ich nichts auszuräumen habe, du Wicht.«

»So kannst du nicht mit mir reden.« Philippe versuchte, bedrohlich zu klingen.

»Geh mir aus den Augen, oder der nächste landet dir im Gesicht. Wenn ich gefeuert bin, brauche ich ja wohl nicht mehr auf dich zu hören, oder?«

Schotter spritzte über Wills Schulter, als der Wagen mit qualmenden Reifen wieder auf die Straße fuhr, um die Mannschaft einzuholen. Will konnte sehen, wie der runde, kahle Kopf aufgeregt in das Funkgerät sprach. Deeds bekam die Nachricht übermittelt. Vielleicht hätte er auch für ihn noch ein paar passende Worte einstreuen sollen. Aber das war nicht nötig. Deeds kannte seine Einstellung, genau wie Will wusste, was Deeds von ihm hielt. Keine Geheimnisse auf beiden Seiten.

Seine Chance war vorbei. Die Würfel waren gefallen. Und trotzdem nahm ihm die Entlassung von Haven ein ungeheures Gewicht von den Schultern. Er konnte seine Sachen gepackt haben und verschwunden sein, bevor Deeds und die Mannschaft zurück waren.

Er schoss noch eine Auster in Richtung des Ladens, bereute aber schnell seine Wut. Der Besitzer nahm das Rad fahren ernst. Will nahm es nicht mehr ernst. Während er aufstieg, um zurück nach Senlis zu fahren, wusste er nicht mehr, wer Recht hatte und wer nicht.

Weniger als eine Stunde später bog er in die Zufahrt zur verfallenen Rennbahn ein. Abreißen zu lassen war immer hart, aber nach Hause zu kommen, nachdem man aufgegeben hatte, schien immer leicht – als wäre die Straße zur Hölle abschüssig, ohne Rollwiderstand und mit starkem Rückenwind.


Er stieg von seinem Colnago ab und für einen Augenblick überlegte er, das Rad auf die Straße zu feuern. Aber dann hörte er Kenally sagen, dass man nie das Rad verantwortlich machen dürfe, selbst wenn es kaputtgegangen sei. Die Schuld liege immer beim Fahrer, beim Mechaniker, beim Peloton oder bei den Kräften der Natur.

Es war eine gute Ausfahrt gewesen, auch wenn sie nur zwei Tage gedauert hatte. Eine gute Ausfahrt. Er kniete sich auf den Randstein, hielt mit seiner linken Hand das Rad am Vorbau fest und betrachtete die Winkel des Rahmens. Die Linien waren scharf und wahr und obwohl es eine neue Lackierung vertragen konnte, konnte man die Schönheit erkennen, die der Konstrukteur angestrebt hatte. Das war kein Spielzeug. Das war kein Gebrauchsrad. Das war kein Angeberrad. Das war fast eine Kriegswaffe – eine Maschine, die die Seele dessen, der im Sattel saß, zutiefst berührte, sein Herz gefangen nahm.

Und für einen Augenblick fühlte sich Will ihrer nicht würdig.

Er stand auf und ging, das Rad im Schlepptau, in das Gebäude. Er sah Tomas in der Werkstatt und drückte ihm die Maschine in die Hand. Sie gehörte jetzt ihm. Es gab nichts zu sagen. Tomas wusste es, aus Instinkt oder weil Deeds bereits frohlockend über Funk die Nachricht verkündet hatte.

Es gab nichts mehr zu tun, außer sich auszuziehen, sich zu duschen und die Hufe zu schwingen.

Will ging in die Umkleidekabine und streifte sein Trikot über den Kopf. Er hatte es nicht einmal geschafft, sich eine Radfahrerbräune zuzulegen: dunkle Arme, blasse Brust, blasse Hände mit kleinen Kreisen auf den Rücken, ein dunkelroter Nacken. Alles war noch weiß wie ein Fischbauch.

Er warf das Trikot in eine Ecke und nahm sich ein Handtuch. Hier drinnen, wo er vor der Kälte geschützt war, begann er zu schwitzen. Er rieb sein Gesicht kräftig mit einem rauhen Handtuch ab. Es fühlte sich fast wie Sandpapier an, aber auch sehr sinnlich.

Was für ein Tag.


Deeds hatte ihn rausgeschmissen und Will hatte versucht, zu gehen. Ein Assistent hatte ihm jedoch gesagt, er solle warten, bis das Team zurückkommt. Will sah nicht ein, warum er hätte bleiben sollen, also hatte er geduscht, gepackt, seine Sachen am Ausgang gestapelt, um auf ein Taxi zum Gare du Nord in Paris zu warten.

Der Assistent hatte die Taschen zurück in die Kabine gebracht. Will hatte sie wieder hinaus auf die Straße getragen. Das Taxi kam. Will und der Fahrer hatten die Taschen eingeladen, der Assistent hatte sie wieder ausgeladen, den Fahrer bezahlt und Will mitgeteilt, er habe Order, bis zum Nachmittag zu bleiben, damit man die Sache klären könne.

 

Will rieb sich die Augen, um den aufsteigenden Frust zu vertreiben. Was war das jetzt schon wieder für ein Spiel? Ein finaler Kopfschuss bevor man ihn gedemütigt auf die Straße jagte? Eine letzte Erniedrigung? Will war zu müde, um sich darüber aufzuregen. Er ging in das Büro des Trainers, legte seine Füße auf den Tisch und nickte sofort ein.

Tomas weckte ihn aufgeregt.

»Das musst du dir anschauen.«

Will rieb sich die Augen, stand auf und folgte Tomas schlaftrunken den Korridor hinab. Er hasste es, sich so zu fühlen, noch nicht wach, und nicht genau zu wissen, wo er war. Als er hinter Tomas stehenblieb und sah, was dieser ihm zeigen wollte, war er jedoch mit einem Schlag hellwach.

Es war Deeds, am Telefon, der sich augenscheinlich nicht gerade amüsierte. Seine Gesichtsfarbe wechselte zwischen Hellrot, Lila und schließlich Weiß. Wer immer am anderen Ende der Leitung war, nahm Deeds nicht ab, was dieser zu verkaufen versuchte. Er beschwatzte, flötete, redete sich in Rage, bettelte, flehte. Nichts zeigte irgendeine Wirkung. Ein Herr war dabei, seinen Knecht in die Schranken zu weisen. Eine wunderbare Vorstellung. Will hätte gern gewusst, an wen er die Dankeschön-Karte schicken sollte.

Jetzt hörte Deeds nur noch zu. Was immer er gesagt hatte, war auf taube Ohren gestoßen. Er hörte noch eine Weile still zu, dann legte er langsam den Hörer auf. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Deeds sah im Neonlicht eindeutig grün aus.

Er schaute auf und sah Will und Tomas. Es schien, als hätte ihn alle Kraft verlassen.

Er winkte sie heran.

»Will. Komm rein und schließ die Tür.«

Will trat ein und machte leise die Tür zu. Er setzte sich in den harten Stuhl gegenüber Deeds anstatt in den gepolsterten Sessel in die Ecke. Man kann nie wissen, wann man schnell aufstehen muss.

»Wir beide haben unsere Differenzen«, sagte Deeds, »und du musst meinen Standpunkt verstehen – ich möchte gewinnen. Und wir wissen beide, dass du kein Ersatz für Colgan bist.«

»Wenn das alles ist«, sagte Will und begann aufzustehen, »dann kann ich ja...«

»Nein, Will, das ist nicht alles. Es tut mir Leid, was ich dir zu sagen habe.« Deeds holte tief Luft. Dies hier war schwer für ihn. »Es tut mir Leid, wie ich mich benommen habe. Gestern Abend die Tür abzuschließen. Dich hinterherfahren zu lassen. Die Dopingprobe heute Morgen. Ich wollte dich loswerden, egal wie.«

Deeds hielt inne. Er suchte nach Worten. Will suchte nur eine Mitfahrgelegenheit zum Bahnhof.

»Tatsache ist, dass du Teil dieser Mannschaft bist. Ob es mir passt oder nicht« – Deeds sah die Überraschung in Wills Gesichtsausdruck – »und egal, ob es dir passt oder nicht.«

»Du versuchst mir zu sagen, dass ... «

»Ich sage dir, dass wir verheiratet sind, Ross. Von jetzt an, bis zum Ende der Saison. Du kannst nicht gehen, wir haben die Option auf dich gekauft. Und ich kann dich nicht rausschmeißen – weil der Konzern sagt, dass er dich behalten will. Ich weiß nicht, welcher Plan dahinter steckt, aber auf jeden Fall gehörst du dazu. Und ich. Wir haben keine Wahl – und ab jetzt werde ich versuchen, das Beste daraus zu machen.« Er machte eine lange Pause, bevor er zum schwersten Teil seiner Ansprache kam: »Willst du das auch versuchen?«

Will dachte nach. Das hatte er nicht erwartet. Das war auch nicht das, was er wollte. Er wusste, er war so lange rechtlich an Haven gebunden, bis sie ihn freigaben. Welches Interesse hatten sie an ihm?

Der heutige Tag hatte es ihm gezeigt. Deeds. Seine Mannschaftskameraden. Alle. Er war ein Verlierer. Aber ein Verlierer mit Vertrag. Und jetzt wurde er in die Ecke gedrängt. Er hasste es, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Er hasste es, nein gesagt zu bekommen. Er hasste es, ins Gesicht gesagt zu bekommen, du kannst es nicht, du bist nicht gut genug, du bist nicht das, du bist nicht dies, auch wenn es stimmte. Vielleicht hatte der Vertrag ja auch sein Gutes, indem er ihn dazu zwang, noch eine Saison lang zu tun, was getan werden musste, noch eine Fahrt, noch eine Reise über den Asphalt. Vielleicht war es ein Segen, seine letzte Chance, es sich zu beweisen und es Deeds zu zeigen.

Und vielleicht war es alles auch nur egoistischer Mist.

Will seufzte, beinahe schmerzerfüllt. Er dachte an die Saison, die vor ihm lag. Die endlosen Fahrten über die Landstraßen Frankreichs, Italiens und Belgiens, durch Regen und Kälte und Schnee und tobende Fans und einem Ziel entgegen, das sie meist schon abbauten, bis er dort ankam.

Er hörte in seinen Körper hinein, befragte ihn nach den Gefühlen und der Zukunft. Er genoss die Tatsache, dass, zumindest zu diesem Zeitpunkt der Saison, ihm noch nicht die Knie wehtaten, die Hände taub waren und die Lungen stachen. Vielleicht, dachte er. Nur noch einmal. Nur um es ihnen zu zeigen und vielleicht auch sich selbst. Es war sein Ego, das sprach. Aber sein Ego hatte ihn hierher gebracht. Und vielleicht würde er noch einmal darauf hören.

Nur noch eine Saison.

Er schaute Deeds direkt ins Gesicht.

»Ich bin dabei«, war alles, was er herausbrachte, bevor er aufstand, sich umdrehte und ohne zurückzuschauen aus dem Zimmer verschwand. Deeds konnte lange Zeit mit niemandem mehr reden.


Jetzt half ihm derselbe Assistent, der schon vorher für die Dick-und-Doof-Nummer mit dem Ein- und Ausladen verantwortlich gewesen war, seine Sachen zusammenzusuchen und sie in einem Mannschaftswagen in eine der Wohnungen in der Gegend zwischen Senlis und Paris zu verfrachten, die das Team angemietet hatte. Tomas schob das Colnago auf die Straße und schraubte es auf das Dach des weißen Peugeot. Er wandte sich Will zu, der gerade die Radkleidung vom Vormittag in den Kofferraum warf.

»Wir sind jetzt seit langem Freunde, nicht wahr?« Tomas wirkte etwas unsicher.

»Natürlich«, erwiderte Will. »Und was kommt jetzt?«

»Denk immer eines, versprichst du mir das? Ich bin nur ein Bote.« Tomas griff in seine Tasche und holte ein Stück Papier hervor. Er schob es Will zu, als wäre es ein Messer.

Jetzt machte Will sich Sorgen. Er nahm den Zettel und öffnete ihn vorsichtig. Tomas’ Unsicherheit begann sich auf ihn zu übertragen. Er las die Notiz.

»Ich warte auf dich. Morgen. In Deeds’ Büro. – Kim.« Erstaunlich. Es war wie ein Messerstich gewesen. Und er hatte ihn ins Herz getroffen.

4

Der Ritt an der Wand

Die Wohnung war nicht die schlechteste, in der Will je gelebt hatte. Ein Loch in Milwaukee war schlimmer gewesen. Aber diese hier war nahe dran. Sie lag in einer vergessenen Straße in einem alten Industriebezirk nördlich von Paris, westlich des Flughafens Charles de Gaulle, 20 Kilometer südlich von Senlis, ein Zimmer im ersten Stock mit einem Bett, einer Badwanne, einer Toilette, einer Kochplatte, einem Tisch, einem Stuhl und einem Telefon. Aber wenigstens war das Klo kein Loch auf dem Gang im Zwischengeschoss. Solche Toiletten hatte Will in Pariser Wohnhäusern gesehen und sich nicht vorzustellen gewagt, wie es hinter den Türen aussehen mochte. Und zum Glück gab es mit den Duschen im Velodrom keinen Grund, sich hier häufig aufzuhalten, wo man auf einem wackeligen Holzgestell über dem Abfluss balancieren musste. Von solchen Wannen mussten Kinder ihre Angst bekommen, mit dem Badewasser weggespült zu werden.

Gewöhnlich schlief er in einem neuen Haus und in einem neuen Bett schlecht, aber heute war er in weniger als einer Stunde nach dem Einzug weggetreten. Er war kurz ausgegangen, um ein Pasta-Abendessen zu sich zu nehmen und hatte sich dann sofort auf die papierdünne Matratze sinken lassen. Licht aus.

Eine Galerie von Gesichtern durchzog seine Träume, Deeds und Cheryl, Bourgoin und Cacciavillani, aber vor allem Kim und ihre Freunde, die geheimnisvollen Männer, die ihr so viel Aufmerksamkeit gewidmet, ihn auf Partys zur Seite geschubst hatten, und deren Anzüge er im Schrank gefunden hatte, nachdem er bei GelSchweiz rausgeflogen und ein paar Tage zu früh von der Lombardei-Rundfahrt zurückgekommen war. Quelle surprise! Quelle horreur! Der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass hatte überlaufen lassen.

Er wachte um sechs Uhr auf, der Uhrzeit, die er sich antrainiert hatte, außer wenn er am Abend zuvor fermentierte Getränke inhaliert hatte. An diesem Abend hatte er das nicht getan, also klingelte der biologische Wecker pünktlich.

Ein schnelles Bad, eine Abreibung mit Alkohol, ein schnell zusammengebruzzeltes Frühstück aus Eiern und Nudeln und rein in die Arbeitskleidung. Heute würde er als erster am Start stehen.

Er warf sich seinen Seesack auf den Rücken, nahm sein Rad über die Schulter und trug beides auf die Straße. Das würde an sich schon ein gutes Training sein: ein langer Gang, zwei Stockwerke Treppen, morgens und abends, mit 30 Kilo auf den Schultern. Wie machten dicke Menschen das nur? Es musste ihre Knie umbringen.

Es waren etwa 20 Kilometer zu dem verrottenden Velodrom in Senlis. Die konnte er in null Komma nichts wegstrampeln und würde wach und gut aufgewärmt ankommen.

Als er durch den Berufsverkehr im Norden der Stadt fuhr, schweiften seine Gedanken zurück zu den Träumen der letzten Nacht und dann noch weiter, über die Entfernung und über die Jahre hin zu einem Tag in Toulouse, wo er bei einem Kriterium im Publikum eine amerikanische Studentin entdeckt hatte und gespürt hatte, wie ihn auf der Stelle der Blitz traf. War es »Der Pate« gewesen, wo es hieß: »Er wurde vom Blitz getroffen«? Genau, Michael Corleone, vom Blitz getroffen. Das war es, was ihm passiert war, als er zum ersten Mal Kim Grady in der Menge entdeckt hatte, mit erdbeerblondem Haar, durch das die Sonne schien. Er hatte das Rennen gewonnen und sich dabei fast umgebracht. Aber er musste gewinnen. Er musste sich auf dem Podium zeigen. Er musste ins Ziel kommen, bevor sie anfing, sich zu langweilen und in irgendein Café ging.

Sie war nicht gegangen.

Es war ihr sogar aufgefallen, wie er sie bei jeder Runde angesehen hatte. Also hatte sie sich zum Podium durchgekämpft, hatte zugesehen, wie er ein Bouquet leicht angewelkter Rosen, 500 Francs und eine Flasche Rotwein entgegennahm, und sich an einen günstigen Platz gestellt, so dass die, die um sie herumstanden, wie ein Vorhang am Premierenabend aufgingen, und seinen Blick auf sie alleine freigaben, wie sie unwiderstehlich und umwerfend da stand.

Sie hatte ihm all dies schon am selben Abend in einem Café erzählt, wohin er sie von seinem Preisgeld zum Essen eingeladen hatte. Sie sagte ihm wie selbstverständlich, dass er keine Wahl gehabt habe. Sie hatte entschieden, dass sie ihn wollte. Sie hatte ihn beim Rennen beobachtet, seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und sein Schicksal in ihre Hand genommen.

»Was – das Schicksal, dein Essen von meinem Geld zu bezahlen?« »Genau«, erwiderte sie.

Das ist fantasisch, dachte er: eine femme fatale, die auf mich steht. Das Leben kann so schön sein.

Sein erstes Gefühl auf dem Podium war gewesen, dass dies ein Geschenk Gottes sei. Als sich die Menge teilte, kam er sich vor wie Moses, der das erste Mal auf Israel schaut. Wie Milch und Honig.

Warum ist das nur so schiefgegangen?

Will bog um die Ecke zum Trainingszentrum. Die Autos der führenden Fahrer standen schon da. Bourgoin. Merkel. Sogar Cacciavilani war früh da. Es war bedeutungslos, dass er mit dem Rad gekommen war, aber es gab ihm irgendwie ein gutes Gefühl.

»Hallo, Überlebender.«

Will fuhr zu Cheryl an den Straßenrand.

»Überlebender?«

»Ich habe gehört, dass Deeds sich mit seinen Bedenken nicht recht durchsetzen konnte.«

»Ja, es muss eine gute Show gewesen sein.« Plötzlich verlor er sich in ihrem Gesicht, in der Form, der Farbe und in der Zartheit. Sie schaute ihn missbilligend an und er rüttelte sich wach.

»Bild dir bloß nichts ein, du Idiot.«

»Hey, Hey... tut mir Leid. Ich war für einen Augenblick bewusstlos, aber jetzt bin ich wieder da. Gehirn ausgeschaltet. Ich nehme an, du musst ganz schön was einstecken, weil du bist, wer du bist – was du bist – eine ... « Er rang nach einem Wort, das ihn nicht wie einen vollständigen Trottel aussehen lassen würde.

 

»Ich glaube, du meinst: eine Frau«, sagte sie und musste dabei über seine Verlegenheit lachen. »Du hast Recht. Ich bin ein Profi. Ich kenne meinen Job und ich mache ihn gut. Aber andererseits ist es in Europa schon schwer genug, eine Frau zu sein, ohne dass man in einem Männerberuf arbeitet.«

Sie schaute sich rasch um, um zu sehen ob jemand zuhörte, wie sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ und ihre Verletzlichkeit preisgab. Warum erzählte sie das diesem Typen, war er nicht genau so ein Pisser wie alle anderen? Nur weil er Amerikaner war? Cardinal war auch Amerikaner und ihm würde sie ums Verrecken nichts erzählen. Dieser Kerl, verdammt, das musste der Kater von letzter Nacht sein. Schlafmangel machte aus ihr einen emotionalen Idioten, der bereit war, mit jedem über alles zu reden.

»Die Frauen der Fahrer betrachten mich wie eine Art Nadelkissen und die Typen behandeln mich, als wäre das Erste, was ich im Sinn hätte, nachdem ich sie den ganzen Tag über französische Landstraßen gejagt habe, sie besinnungslos zu vögeln. Keine Chance. Ich habe zu lange zu hart um diesen Job gekämpft.«

Will hörte sich diese Rede genau an, die er in den verschiedensten Variationen schon so oft gehört hatte, seit er in Europa als Amateur angefangen hatte. Sogar er selbst hatte sie schon gehalten. Es ging dabei um den Zusammenprall zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Ego. Auf der anderen Seite hatte ihn noch fast niemand besinnungslos vögeln wollen.

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte er. »So, du verstehst mich. Hast du schon einmal an meiner Stelle gestanden? Ich glaube kaum.«

Die Tür, die sich so einfach vor Will geöffnet hatte, war auf einmal wieder verschlossen. Sie starrte ihn für einen endlosen Augenblick stumm an.

»Versuche heute nicht, vorne mitzufahren. Sie werden versuchen, dich kaputtzufahren, oder einfach nur warten, bis du platzt. Bleib ruhig im Feld bis du wieder deine Form gefunden hast. Konzentrier dich darauf, genau in der Mitte zu bleiben. Wenn du zu weit hinten fährst, hast du verloren, weil die Neuprofis wegplatzen und du mit ihnen hinten rausfällst. Bleib in der Mitte.«

»Ich weiß. Ich war einmal ein Profi, erinnerst du dich?«

»Nur eine Erinnerung. Du hast dich bislang nicht wie einer benommen.«

»Danke. Ich verspreche, dass ich mich bessern werde. Für Gott, Haven und das Vaterland.«

»Du kannst mich mal.«

Er hielt inne und schaute sie an. In ihren Augen brannte ein Feuer, das ihm bei der ganzen Kabbelei bislang nicht aufgefallen war. »Es tut mir Leid. Danke für den Rat.«

»Vergiss es.«

Will hörte, wie sich der Eingang zum Velodrom hinter ihm öffnete. Das war alles, was er hörte. Und doch zuckte er unfreiwillig zusammen. Er spürte, wie sich um ihn herum eine Mauer aufbaute, ein Schutz gegen jede Verletzung von außen. Als ob das möglich wäre. Als Kim Grady Ross vor Will trat, brach die Mauer mit einem Schlag in sich zusammen. Sie wusste was sie sagen musste. Sie wusste, wie sie schauen musste. Sie wusste nicht nur, wo die Löcher im Panzer waren, sondern auch, wie rostig er geworden war.

»Guten Morgen, Will. Und Sie müssen Sharon sein?« »Cheryl«, erwiderte die Betreuerin zugeknöpft.

Will war beeindruckt. Wie viel waren es – fünf Sekunden? – und schon hatte Kim Cheryl provoziert, war durch die Linien gebrochen und hatte eine kleine Granate platziert.

Kim ignorierte Cheryl und wandte sich wieder Will zu.

»Du hast die Sitzung verpasst. Deeds ist schon wieder sauer. Aber keine Angst, Will. Du bist sicher. Komm nur so schnell wie möglich wieder in Form. Machst du das? Die Mannschaft braucht dich und deine Fähigkeit, sich für den Mannschaftskapitän bedingungslos zu opfern.«

»Na so was«, sagte er sarkastisch, »solch sanfte Worte sind noch selten an mich gerichtet worden. Ich möchte nicht unhöflich sein, Kim, aber ... warum sollte dich das interessieren? Ich zahle keine Alimente, keine Unterstützung. Es gibt keine Verbindung zwischen uns. Warum sollte es dich interessieren, dass ich gut fahre?«

»Nimm es nicht persönlich, Willie. Du interessierst mich nicht, aber es interessiert mich wie du fährst. Die Mannschaft interessiert mich. Weißt du, sie gehört mir. Was du tust, wirkt sich darauf aus, wie viel ich verdiene, und wie viel ich verdiene, wirkt sich darauf aus, wie du den Rest deines Lebens verbringst: bequem, in irgendeiner Position in diesem Geschäft, oder draußen, auf deinem Hintern, als Fahrrad-Penner. Du hast einmal gesagt, dass jeder irgendwann zu dem Menschen wird, den er am meisten hasst. Du stehst jetzt an der Schwelle. Ärgere mich nicht, Will. Sonst bist du ganz schnell so ein Penner. Verpfusch es nicht.«

Sie hatte während ihres Monologs nach vorne gegriffen und hielt jetzt sein Kinn in ihrer Hand. Will erstarrte, als er spürte, wie ihr Griff fester wurde, wegschnappte und seinen Kopf zur Seite fallen ließ.

»Streng dich heute an, Will. Die Mannschaft – und dein Arbeitgeber – erwarten das von dir.«

Kim drehte sich auf dem Absatz um und lief davon. Der Geruch von Lagerfeld hing in der Luft. Cheryl schaute ihr nach, wie sie zu ihrem silbernen Mercedes ging, im Fond Platz nahm und hinter einer Wolke aus Abgas und Straßenstaub verschwand.

»Gott, was für eine Ziege. Eine Freundin von dir?« »Gewissermaßen. Meine Ex-Frau. Die Art von Frau, die einen Mann zum Trinken bringt.«

»So schön ist sie doch auch wieder nicht.«

»Es geht nicht um ihr Aussehen.«

»Ach so.«

»Ich habe drei Jahre lang mit dieser Frau zusammengelebt. Es war so, als würde man auf Nitroglyzerin-Flaschen laufen. Man wusste nie, wann eine hochgehen würde und ob dabei nicht der ganze Laden in die Luft fliegt.«

»Hört sich nach Spaß an.«

»Oh ja. Sie ist auch die einzige Frau, die ich kenne, deren Periode drei Wochen im Monat dauert.«

»Und du bist noch nicht einmal verbittert. Also, erst eine leidenschaftliche Ehe und jetzt lebst du in einem Loch in Belgien ... « »Das ist kein Loch.«

»... und arbeitest für eine Fahrradmannschaft, die dich als Anhängsel auf ihre Lohnliste gesetzt hat. Toll, Ross«, sagte sie mit einem starken Sarkasmus, »manche Leute wissen wirklich, wie man lebt. Deiner sprühenden Schlagfertigkeit zufolge gehe ich davon aus, dass du nicht wusstest, dass ihr ein großer Anteil an der Mannschaft gehört und dass sie die Mannschaft für Martin Bergalis managt.«

Will schüttelte den Kopf.

»Das dachte ich mir«, sagte Cheryl, »man sieht nicht oft eine so gute Imitation eines Basset, der gerade von einem Auto überfahren wurde.«

Will lächelte, dann fing er laut an zu lachen. Vielleicht hatten Cheryl und er gerade einen gemeinsamen Feind gefunden und der Groll der ersten Begegnungen zwischen ihnen konnte jetzt begraben werden, um den Weg für zumindest eine freundschaftliche Beziehung frei zu machen. Er konnte einen zweiten Freund neben Tomas gut gebrauchen. Es gab noch so viel zu sagen, noch so viel, was er loswerden musste. Er war an einem Punkt angelangt, an dem er mit jemand anderem als Leo reden musste, seinem Saufkumpanen in Avelgem, der nicht ein Wort Englisch verstand, wenn er nicht bis obenhin voll war.

Will wollte Cheryl gerade noch etwas sagen, als sich hinter ihm das leise Surren von Naben und Ketten und Kränzen und Krachen von Umwerfern erhob.

Die Mannschaft begann ihr Vormittagstraining durch die Landschaft im Norden von Paris. Sie würden den Verkehr blockieren, sie würden Fußgänger fast überfahren, sie würden wie ein Panzer über die Straße rollen. In Amerika würde man sie erschießen, aber hier waren sie Haven. Und sie regierten die Straße.

Cheryl schaute ihn an.

»Bleib in der Mitte. Suche deine Form.«

Er lächelte. Tausend Sprüche fielen ihm ein, aber er wusste, dass, wenn er auch nur einen losließe, sie ihm wahrscheinlich mit einer Metallstange die Knie brechen würde. Er hatte sein Leben in einer Welt der Sprüche verbracht, aber jetzt, auf einmal, wollte er damit nichts mehr zu tun haben.

Also ließ er es bleiben. Zum ersten Mal in seinem Leben ließ er es bleiben. Er schaute sie einfach nur an und sagte »Danke«.