Tödliche Tour

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Delgado hielt einen Augenblick lang inne, dann stieg er in den Haven-Mannschaftswagen und zog die Tür hinter sich zu. Das Auto fuhr an und verschwand im Feierabendverkehr von Senlis. Carl Deeds schaute ihm hinterher, dann ging er zu seinem eigenen Auto, stieg ein und machte sich auf die lange Fahrt zu seiner Wohnung in Paris, wo eine Flasche Wein auf ihn wartete.












Er hatte das Ortsschild passiert. Er war in den Vororten von Senlis. Senlis. Sinnlos. Diese ganze gottverdammte Sache war sinnlos. Noch zehn Kilometer. Nach der nächsten Abzweigung würde er durch den Verkehr fahren müssen und er würde sich noch mehr konzentrieren müssen, damit er nicht auf einer Kühlerhaube landete.



Zehn. Nicht mehr weit. Wieviel – sechs Meilen? Bestimmte Amerikanismen hatte er trotz vieler Jahre in Belgien beibehalten. Er rechnete Kilometer in Meilen um. Er übersetzte Flämisch in Französisch und Französisch in Englisch, obwohl es auf diese Art ewig dauerte, bis er sein Essen bestellt hatte. Es war dumm und es war engstirnig, aber es war eben das Verfahren, das er während des ersten Jahres entwickelt hatte, um mit dem Alltag zurecht zu kommen. Jetzt war es einfach nur seine Art. Es war nicht schnell und es war nicht schön, aber es funktionierte für ihn. Noch acht. Noch sieben. Noch sechs.



Jetzt schossen Autos an ihm vorbei. Er hätte auf sie achten müssen, aber er konnte seinen Kopf nicht heben. Er sah seine Füße. Er sah seine Pedale. Sollten sie sich nicht schneller bewegen? Er überfuhr eine rote Ampel und er verfuhr sich in eine Einbahnstraße. Wohin? Welche Straße? Wenn er die verkehrte nahm, würde er wieder zurück fahren. Die Karte ergab keinen Sinn mehr. Aber hier, hier war die richtige Straße, denn da war das Geschäft, an dem er mit dem Taxi auf dem Weg zum Trainingszentrum vorbeigefahren war. Das Velodrom müsste gleich um die Ecke sein, in all seiner braunen, verfallenen Hässlichkeit. Was für eine Rattenfalle. Wie konnte irgendjemand an diesem Ort Fahrrad fahren, an diesem teuflischen Ort? Mein Gott, ich würde es nie tun, niemals, niemals.



Will hielt am Eingangstor. Er schaute auf den Tacho. Er zeigte nichts an. Wie viele Stunden im Sattel? Zu viele. Hatte er wirklich so viele Stunden seines Lebens verloren, und wofür? Er schwang sein Bein über den Sattel und betrat zum ersten Mal seit dem Fahrradladen festen Boden. Wo war dieser Laden gewesen? Wie lange war das her? Seine Beine zitterten. Er ging wie Opa Ross nach seinem Schlaganfall. Er zog das Rad hinter sich her wie ein Sheriff in einem Comic einen bewusstlosen Desperado hinter sich herschleift, und stolperte zur Tür. Deeds würde bei seinem Anblick erschrecken.



Vielleicht. Oder auch nicht. Die Vordertür war abgeschlossen.



Will kehrte um und zog das Rad am Vorderrad hinter sich her um die Ecke des Gebäudes, die Allee hinunter und in den Hof neben der Bahn. Die Umkleidekabinen waren auch abgeschlossen.



Zu diesem Zeitpunkt wäre er zusammengebrochen, wenn die in ihm aufsteigende Wut ihn nicht aufrecht gehalten hätte. Er lehnte sich gegen die Tür und begann mit den Fäusten dagegen zu trommeln, erst langsam, dann immer schneller und fester.



»Du Hurensohn!«



Peng!



Jetzt war er noch erschöpfter und die Tür hatte sich nicht geöffnet und offenbar hatte ihn auch niemand gehört.



Will schaute sich um und bemerkte, dass ein Fenster, etwa zwei Meter über ihm, offenstand. Er schob sein Rad an die Wand, kletterte rauf bis er auf dem Sattel stand und schaute hinein. Innen war es verdammt weit bis zum Boden, aber wenn er nur raufkäme, rauf, rauf und rein... der rostige Fensterrahmen biss sich in seinen Hintern und fing an, durch die Kunstfaser in seine Haut zu schneiden. Trotzdem zog er sich weiter hinein, solange, bis ihm auf der anderen Seite die Schwerkraft zu Hilfe kam.



Ross versuchte den Sturz mit den Füßen zu bremsen, aber er konnte sich im Fallen nicht rechtzeitig an der Fassung des Fensters einhaken. Seine ausgestreckten Arme schlugen zunächst auf eine Holzkiste auf und rutschten dann über die Fliesen. Er versuchte abzurollen, aber es war zu spät und außerdem war er ohnehin zu müde.



Sein Kopf drehte sich zur Seite und sein Schlüsselbein schlug auf den Boden. Will schrie, als der Schmerz seine gesamte rechte Körperhälfte durchzog. Er lag auf dem schmutzigen Fußboden und rang nach Luft. Er glaubte nicht, dass etwas gebrochen war, aber es würde garantiert einen bösen Bluterguss geben.



Er setzte sich auf. Dies war irgendein Trockenraum. Er glaubte sich erinnern zu können, dass er direkt neben der Umkleidekabine lag. Er stand auf und versuchte, seinen linken Arm auszustrecken – autsch – lieber noch nicht. Er streifte seine Fahrradschuhe ab – das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, auf einem Kachelboden herumzuschlittern – und watschelte zur Außentür, öffnete den Riegel und holte sein Rad herein. Es war ihr verdammtes Rad und er hätte es einfach stehen lassen sollen. Sollte sich doch Deeds mit dem Diebstahl rumärgern. Aber für Will war es immer derartig schwer gewesen, an Fahrräder und Fahrradausrüstung zu kommen, dass er sie nur mit Respekt behandeln konnte.



Er schob das Rad in eine Ecke und schloss die Tür wieder ab. Das Gebäude war jetzt so still wie eine Zeitungsredaktion eine Stunde nachdem die letzte Ausgabe in Druck gegeben wurde. Er konnte ein gelegentliches Quietschen vernehmen, das erstickte Gurgeln eines Heißwasserbereiters über ihm. Er war alleine. Tödlich einsam. War er gerade in das falsche Gebäude eingebrochen? Nein. Da waren seine Sachen, in die Ecke gestapelt. Es lag ein Zettel darauf.



Er hob ihn auf und las, was er von dem Hühnergekritzel entziffern konnte: »Willkommen zu Hause. Morgen früh 8 Uhr. Mannschaftsbesprechung hier. Deeds.«



Er brauchte dringend eine Dusche. Ohne Dusche würde er vermutlich morgen oder in einer Woche Sitzpickel und Pilze bekommen. Er trat hinein und ließ das heiße Wasser über seinen Körper laufen. Er wusch sich nicht. Er stand einfach da, in seinen Klamotten und Socken.



Langsam, ganz langsam, zog er sich aus und wusch die verschmutzteren Teile seines Körpers. Will wusste nicht, wie lange er da stand. Er konnte an der Duschwand lehnend eingenickt sein. Er konnte bewusstlos gewesen sein. Er wusste nur, dass, als er wieder wach wurde, seine Finger angenehm zwetschgenhaft aussahen.



Er trat aus der Dusche und griff nach einem Handtuch. Es gab keines. Nur nasse, die die anderen benutzt hatten und die jenen leicht schimmeligen Geruch absonderten, den nur Sportler übertragen. Er nahm das am wenigsten nasse und am wenigsten ekelhafte Handtuch und trocknete sich so gut wie möglich ab. Er stolperte hinüber zu seinen Sachen und wühlte sie nach wenigstens einem Haven Power Bar durch. Er hatte immer einen in Reserve. Man weiß nie, wann der Hungerast zuschlägt.



Der ungeöffnete Riegel fiel ihm aus der Hand. Will war eingeschlafen, nackt, neben seiner Tasche, bevor der Riegel auch nur auf dem verschmierten Kachelboden aufgeschlagen war.



Sein letzter Gedanke, bevor er komplett weggetreten war, war eine Erinnerung. An das, in was er sich an jenem Tag verliebt hatte, als er in Detroit die Tür von Two Wheels kurz vor Ladenschluß geöffnet hatte. Es war eine Erinnerung, die ein Leben lang hielt. Sie hatte ihn hierher gebracht, an diesen Ort, zu diesem Job.



Es war der Geruch gewesen.



Nachdem er ihn in jenem Moment gerochen hatte, war er für immer verloren.





3



Haven im Sinn





Dies ist mein neuestes Gemälde. Es heißt ›Morgenröte – mit Kojoten‹.« Will drehte sich instinktiv auf die Seite und bedeckte seine Blöße. Er bedeckte sie zwar nur mit einem Haven Power Bar, aber immerhin bedeckte er sie.



»Ich sagte, ich nenne es ›Morgenröte ... ‹ «



»Schon gut – hab’ schon kapiert. Ich bin wach.«



»Bist du nicht. Wenn du wach wärst, würdest du sagen: ›Delgado – irgendeine Verwandtschaft mit Pedro?‹ und ich würde sagen: ›Entfernt... ‹.«



»Hallo, Tomas.«



»Hallo, Will. Sei mir nicht böse, aber du siehst absolut beschissen aus.«



»So fühle ich mich auch. Danke.«



Will stand auf, um sich zu strecken und wickelte sich das mittlerweile trockene, aber brettsteife Handtuch um. Tomas schüttelte in einer Mischung aus Mitleid und Abscheu den Kopf.



»Reiß dich zusammen. In weniger als einer Stunde ist eine Mannschaftssitzung und Deeds hat gekocht, als du gestern nicht da warst.«



»Daran hätte der Bastard denken sollen, als er gestern die Hintertür abgeschlossen hat.«



»Er hat gesagt, du wärst angekommen und alles sei in Ordnung.«



»Nichts war in Ordnung und jetzt bin ich völlig im Eimer. Gibt’s hier ein Café oder so was? Ich brauch’ dringend ein Frühstück.« »Ein paar Häuser weiter. Marie’s. Teuer, aber gut. Und es gibt eine ordentliche Portion.«



»Geld hab’ ich. Eine ordentliche Portion hab’ ich nötig.«



»Du hast etwa 45 Minuten ... und geh zu den Besprechungen. Deeds wird sich grün und blau ärgern, wenn er dich sieht.«



Ross lächelte. Nichts würde ihm besser tun als das. Tomas sagte ihm, er solle sich beeilen. Dann könnten sie vor dem Training noch gemeinsam sein Rad einstellen. Außerdem versprach er Ross, ihm Mannschaftskleidung zu besorgen – aus der aktuellen Kollektion.



Will dankte ihm und sprang unter die Dusche, um sich rasch abzuwaschen. Er trocknete sich mit einem frischen Handtuch ab, das Tomas ihm mitgebracht hatte und rieb sich mit Alkohol ab. Er wusste nicht, ob das wirklich etwas brachte, aber er konnte sich daran erinnern, dass Izzy ihm gesagt hatte, es härte die Haut ab und töte die kleinen Bestien, die Sitzprobleme verursachten. Er rasierte sich schnell und zog sich einen weiten Trainingsanzug sowie Badeschlappen an. Das würde reichen, bis Tomas ihm eine Ausrüstung besorgt hatte. Will warf einen Blick auf die Uhr. Sieben Minuten glatt. Kein Zweifel, er war noch immer der schnellste Stripper aus der achten Klasse. Wenigstens eine Begabung, die er nie verloren hatte.

 



Er trat aus der Hintertür und lief durch die Gasse zur Straße. Bislang war ihm der leise Charme noch nicht aufgefallen, der sogar von dieser kleinen Zufahrt zum Velodrom von Senlis ausging: verschnörkelte Zäune, Blumen, Kopfsteinpflaster, aus dem ein Hauch von Moos durchschimmerte, und ein Hinterhof, der tatsächlich dazu einlud, sich niederzulassen, die Schuhe auszuziehen ...



Das Café war nur zwei Häuser weiter und lag fast direkt an der Straße. Auf dem Bürgersteig standen die stereotypen französischen Stühle und Tische, die Ross schon immer fasziniert hatten. Warum sollte irgendjemand, und sei es an einem herrlichen Frühlingstag, in zwei Meter Entfernung von Autos mit schlecht eingestellten Vergasern sitzen wollen, die Stoßstange an Stoßstange da standen und nichts taten, als deine Lungen mit Abgasen zu verpesten?



Er liebte die Franzosen, aber er würde sie nie verstehen.



Marie’s war klein, aber es gefiel ihm sofort. Auf einer Seite stand eine Theke mit einer riesigen Espresso-Maschine, eingerahmt von unzähligen Weinflaschen. Meine Art von Café, dachte Will; viel Wein plus viel Espresso machten aus ihm den wachsten Betrunkenen in ganz Europa.



Eine Frau, von der er annahm, sie müsse Marie sein, stand hinter der Theke und spülte Gläser. Merkwürdigerweise sah sie eher deutsch aus als französisch. Sie hatte angegraute blonde Haare, die zu einem strengen Dutt zusammengesteckt waren. Die Aufmachung ließ sie aussehen wie eine Mischung aus Dorothy Gale aus Oz und einem Jungmädel, Krachlederne auf einem prallen Gestell. Marie musste um die 240 Pfund wiegen, dachte er, und das bedeutete, dass sie das, was sie kochte, auch gerne aß. Perfekt.



Seine Art von Café.



»Monsieur...?«



Das war das Schönste am Rad fahren, dachte Will, während er Kaffee, Obst, Müsli, Buttercroissant, Joghurt, vier Eier und eine Waffel bestellte. »Und bringen Sie bitte nicht alles auf einmal. Bringen Sie die Sachen gleich raus, wenn sie fertig werden. Ich esse alles hintereinander, ich habe es ein wenig eilig.«



Marie lächelte. Ein Fahrrad-Team nebenan war gut fürs Geschäft.












Als er zum Velodrom zurückging wünschte Will sich, er hätte noch ein bisschen mehr Zeit bis zum Training. Obwohl er erst 32 war, konnte er nicht mehr alles, was nicht niet- und nagelfest war, in sich reinstopfen, sich aufs Rad schwingen und bis zum Morgengrauen fahren. Er brauchte jetzt ein wenig Ruhe – wenigstens eine Stunde – oder eine Handvoll Magentabletten. Er begriffjetzt, warum es hieß, man solle eine Stunde nach dem Essen nicht schwimmen. Wenn er jetzt in eine Pfütze treten würde, würde er versinken wie ein Stein.



Will schaute auf die Uhr. Gut in der Zeit. Noch zehn Minuten bis zur Besprechung und er war bereit. Tomas hatte ihm frische Radklamotten auf die Tasche gelegt. Sogar Handschuhe, ein Helm und eine Sonnenbrille waren dabei. Alles passte zusammen und alles war mit den Logos von Haven und einem Haufen kleinerer Sponsoren versehen. Nicht schlecht. Große Mannschaften hatten ihre Vorzüge. Ross zog sich um, während der Rest der Mannschaft nach und nach eintrudelte. Keiner beachtete ihn weiter. Das einzige Mal, dass jemand mit ihm sprach, war, als er fragte, wo sich die Werkstatt befände. Er wusste, dass diese Dinge ihre Zeit brauchten, insbesondere, wenn man der Ersatzmann für den Kapitän war. Es würde Ablehnung geben, bissige Bemerkungen... und jede Menge nackter Wut auf ihn. Aber er war hier, zum Guten oder zum Schlechten und aus Gründen, die nur der liebe Gott kannte.



Er nahm seine Schuhe, seine Brille und seinen Helm und ging durch den teilweise tapezierten Tunnel auf die Geräusche und den Geruch zu, die ihm so vertraut waren. Das Geräusch von Laufrädern, die zentriert werden, von herunterfallenden Schraubenschlüsseln und die Gerüche von Lagerfett und Leder und Kettenöl. Vielleicht hätte er Mechaniker bleiben sollen. Nein. Er wollte fahren. Und auch die wunderbarste Sache der Welt kann zur Hölle auf Erden werden, wenn man sie zu lange tut oder zusammen mit den falschen Leuten.



Tomas schaute von seinem Montageständer auf, als Will durch die Schwingtüren trat.



»Du kommst gerade recht. Ich habe eben dein Rad auf die Rolle gestellt. Lass uns deine Sitzposition und deine Schuhplatten überprüfen.«



Tomas war ein Mechaniker alter Schule. Er tat viele Dinge nach Augenmaß. Sattelhöhe. Winkel der Schuhplatten. Effektiver Sitzrohrwinkel und Entfernung zum Lenker. Er scherte sich nicht um Computer oder Kaliber, nicht einmal um Maßbänder.



Will hatte gestern ganz gut auf seinem Rad gesessen, aber Tomas gab seiner Sitzposition einen letzten Schliff, den Will sofort spürte. Vielleicht war diese Maschine doch kein hoffnungsloser Fall. Er selbst vielleicht auch nicht. Moment. Eins nach dem anderen.



»Ich musste die Räder neu zentrieren. Bist du gestern über irgendetwas drübergefahren? Deine hintere Felge hatte einen riesen Schlag. Es wundert mich, dass du damit überhaupt angekommen bist. Ich musste das Schaltwerk gerade biegen und den Umwerfer neu einstellen. Der Lenker war auch verbogen. Es wundert mich, dass sie dir dieses Rad gegeben haben. Gestern früh war es schrottreif, aber heute wirst du damit ankommen.«



Will lächelte. Das war sein Freund Tomas, der Mann, der anfing über Räder zu sprechen, erst langsam, dann schneller und schneller bis er irgendwann Fakten in einem Tempo herunterrasselte, mit dem es schwer war Schritt zu halten, besonders wenn sein baskischer Akzent durchbrach.



Tomas war einer der echten Charaktere, die Will im europäischen Profi-Zirkus kennen gelernt hatte. Der Sport war reich an ihnen. Tomas, Colgan, sogar Deeds. Obwohl, wenn er es sich recht überlegte, jeder Sport ohne einen wie Deeds besser dran wäre.



Die Besprechung fand in einem der wenigen renovierten Räume des verfallenen Velodroms statt. Er hatte einen dunkelblauen Boden und blasse Betonwände, die mit Lackfarbe überzogen waren. Schwer zu malen, leicht zu reinigen, dachte Will und erinnerte sich an seine Zeit als Maler in einem Bezirkskrankenhaus, wo er immer die Nachtschichten übernommen hatte, um tagsüber trainieren zu können. Er strich mit der Hand über die kühle, sanfte Oberfläche. Er kannte vielleicht nicht die Hauptstadt von Süd-Dakota, aber mit Farbe kannte er sich aus. Und das hier war Lackfarbe. Und auch noch sauber aufgetragen.



Er merkte, dass er es nicht mehr länger hinauszögern konnte. Er drehte sich um und sah seiner neuen Mannschaft ins Gesicht.



Abgesehen von Deeds war Will als letzter in den Raum getreten. Als er sich umschaute, bemerkte er, dass ihm viele Gesichter aus seiner allgemeinen Kenntnis des Profi-Pelotons heraus bekannt waren. Gegen andere war er in den vergangenen vier oder fünf Jahren selbst gefahren. Einen oder zwei kannte er nur aus Artikeln in L’Equipe. Er kannte sie nicht persönlich, aber er kannte ihren Ruf. Richard Bourgoin, der neue Kapitän, war ein Hai: kraftvoll und ausdauernd in den Bergen; solide bis spektakulär bei den Sprints; aber ein Anker, ein totes Gewicht im Zeitfahren. Keiner glaubte wirklich, dass er das Zeug dazu hatte, die Tour zu gewinnen, vor allem ohne ein erstklassiges Team im Rücken. Bis zu Colgans Tod war Bourgoin ein fähiger Leutnant gewesen, jederzeit bereit, Kräfte im Team zu mobilisieren, Taktiken vorzugeben, das Tempo im Peloton zu bestimmen... und wenn es nötig war, sich selbst heroisch zu opfern, um Jean-Pierre Colgan auf den obersten Podiumsplatz zu bringen. Jetzt hatte er diesen Ehrenplatz, wenn auch nur, weil der Leader tot war und es weder Zeit noch Gelegenheit gegeben hatte, einen gleichwertigen Ersatz zu finden.



Nur Will.



Nur ich, dachte Will. Bourgoin sollte dankbar sein. Er hat es nur mir zu verdanken, dass er seine Chance bekommt.



Dann war da Antonio Cacciavillani, der Sprinter. In den vergangenen fünf Jahren war er immer unter den besten drei in der Welt gewesen, bis ein böser Unfall im vergangenen Jahr ihn zwar nicht seinen Antritt gekostet hatte, aber seine Todesverachtung, wenn er sich zur Ziellinie durchschob und -biss.



Hans Merkel war der neue Leutnant der Mannschaft, weil Cacciavillani in den Bergen nicht die Beine hatte, um an den Besten dranzubleiben. Außerdem sind Sprinter meist krasse Einzelgänger und die Nummer Zwei muss sich ganz in den Dienst der Mannschaft stellen. Tony C. hätte das nie gekonnt, Merkel hingegen unterdrückte voll und ganz seine Begabung und seine Persönlichkeit, um Bourgoin über die Linie zu bringen.



Da waren Miguel Cardone, der Baske, und Masenti und Mooria, die italienischen Sechs-Tage-Meister, die so taten, als wären Straßenrennen eine Art Urlaub von der Bahn und eigentlich unter ihrer Würde; und John Cardinal, der amerikanische Mountain-Biker, der auf die Straße zurückgekehrt war, nachdem er seinen Vertrag bei einer italienischen Mountain-Bike-Mannschaft verloren hatte.



Und da war Cheryl. Sie schaute ihn mit wachen grauen Augen an, die seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zogen und deren Blick ihn berührte. Er konnte den Bann nicht brechen, in den sie ihn unzweifelhaft geschlagen hatten. Er zog seinen imaginären Hut und wandte sich zur Tür, als Deeds eintrat.



»Ross – fünfzig Dollar Strafe, weil du gestern zu spät zum Training gekommen bist. Ich würde mehr veranschlagen, aber ich habe gehört, dass du durch außergewöhnliche Umstände verhindert warst und außerdem bist du dann ja doch noch gefahren.«



»Etwa zwei Tage hinter uns«, spottete Cacciavillani. Die Mannschaft lachte und auch Deeds konnte sich nicht halten.



»Du weißt, wie man Freunde gewinnt, was Ross? Okay. Die gleiche Strecke heute, aber ich will ein schärferes Tempo sehen. Ihr seit gestern ein wenig abgeschlafft und gegen Ende faul geworden. Ich möchte die gleichen Gruppen wie gestern sehen – die drei Formationen. Ross, du fährst mit der B-Formation. Henri, pass auf, dass er dranbleibt – er wird Probleme bekommen.«



Henri Bresson schaute von seiner L’Equipe auf, herüber zu Will und warf ihm ein Lächeln zu. »Oui.«



»Außerdem Ross«, sagte Deeds zum Abschluss, »möchte ich, dass du in eine Flasche pinkelst. Mannschaftsorder... und ehrlich gesagt, mag ich es auch nicht besonders, wenn meine Fahrer vor dem Training Pillen einwerfen.«



»Es waren Magentabletten«



»Pinkeln. Ich trau’ dir nicht.«



»Verstanden.«



»Willkommen bei den Profis.«



Will lächelte. »Willkommen bei der Wehrmacht.«



»Fick dich ins Knie, Ross.«



Als alle auseinander strömten, ging Will über den Flur ins Zimmer des Mannschaftsarztes. Der war nicht da, aber einer seiner Assistenten, Luis irgendwas, sagte, er würde alles regeln. Will machte zwei Probefläschchen voll, nahm ein drittes und füllte auch dieses. Luis versiegelte und beschriftete die ersten beiden. Will nahm ein drittes Siegel und verschloss auch noch die dritte. Er datierte das Etikett, unterschrieb es und bat Luis, das Gleiche zu tun.



»Ich brauche nur zwei.«



»Schon in Ordnung. Ich brauche die dritte – nur zur Sicherheit.«



Luis kritzelte seine Unterschrift auf das Etikett. Er schien davon nicht sehr begeistert zu sein. Will trug die Flasche in die Umkleidekabine und tat so, als würde er sie in die Tasche stecken. Dann nahm er sie zusammen mit seinen Sachen mit vor die Tür. Als er heraustrat, bog die Mannschaft gerade auf die Straße ein. Cheryl stand am Eingang und beobachtete die Fahrer, wie sie hinter der Biegung verschwanden. Will gab Tomas seine Probe.



»Könntest du das an einem sicheren Platz für mich aufbewahren?« »Klar, Kumpel«. Tomas steckte die Flasche in seine Manteltasche. Eine plötzliche Eingebung ließ ihn auffahren.



»Sie ist doch gut versiegelt, oder?«



»Sehr gut versiegelt. Danke, mein Freund. Ich habe den Kontrolleuren noch nie getraut.«



Cheryl wandte sich Will zu, als dieser sein Rad auf die Straße schob und sein Bein drüberschwang.



»Deeds hat gesagt, du wärst wieder zu spät. Diesmal musst du sie einholen.«



Ross blickte auf seine Handschuhe, an denen die letzten Jahre deutliche Spuren hinterlassen hatten. Er schaute Cheryl durch Augen an, an denen die letzten Jahre ebenfalls deutliche Spuren hinterlassen hatten.

 



»Kein Problem«, sagte er und machte sich auf die Jagd nach einem vielbeinigen Tier, das vermutlich schon wieder außerhalb seiner Reichweite war.












»Ich stimme völlig mit dir überein, Luc. Benedict auch. Das Problem ist nur, dass der Chefinspektor anderer Meinung ist – und der Kindergarten der Spurensicherung.«



Inspektor Godot stand mitten in den Überresten der Wohnung von Jean-Pierre Colgan auf dem letzten Fleck noch intakten Kachelbodens. Der übrige Boden war nur noch eine Berg- und Tallandschaft aus zerbrochenen Fliesen und hervorstehenden Trägern. Es war schwer, sich durch den Raum zu bewegen. Neben ihm stand Stephen La Sarge, ein Veteran mit mehr als zwanzig Dienstjahren auf dem Buckel. Er hörte La Sarge nur mit einem Ohr zu, während er das Chaos aus Trümmern, Metall- und Holzsplittern sowie Textilfetzen nach jenem entscheidenden Detail absuchte, das die Untersuchung in seine Richtung wenden würde.



Das war keine Gasexplosion.



Godot starrte auf eine Vase, in der eine einsame, verwelkte Blume stand. Die Explosion hatte sie nicht einmal gestreift. Unmittelbar darüber war ein Poster von Jean-Pierre Colgan, dem französischen Fahrrad-Champion, fast vollständig zerstört worden. An der Wand, die mit Splittern gespickt war, hing nur noch eine Ecke des Rahmens, ein Fetzen des Fotos und der Drahthänger. Er stieg über einen Stapel angekokelter Zeitungen auf dem Boden. Daneben stand die Verpackung eines Toasters. In Amerika hergestellt, aber auf das französische Stromnetz abgestimmt. Darauf lag eine Rechnung. Ein Geschenk?



Ein verbranntes und verbogenes Buttermesser und ein geschenkter Toaster.



Nachdem er monatelang im Büro nur Papier hin- und hergeschoben hatte, weil die Lieblinge des Chefs ihn bei allen neuen Fällen ausgestochen hatten, war er endlich wieder an einem Tatort und sein Geist war wieder wach und aktiv. Das Gefühl tat ihm gut.



»Die Jungs von der Spurensicherung halten an ihrer Theorie von der Gasexplosion fest, weil es ihr erster Gedanke war«, fuhr La Sarge fort. »Sie verteidigen sie seit zwei Tagen. Sie würden lieber falsch liegen, als einen Fehler einzugestehen.«



»Und was ist mit dem Chefinspektor?«, murmelte Godot. »Ah... der Chefinspektor. Der hat die doch eingestellt. Uns hat er nicht eingestellt. Man steht immer zu seinen eigenen Kindern.« »Und es spielt auch keine Rolle, dass der Chefinspektor gerade in den Aufsichtsrat von Haven-Pharma berufen worden ist?«



»Ich sehe nicht, warum. Jean-Pierre Colgan ist nur ein winziger Teil des Haven-Konzerns.«



»War. «



La Sarge zuckte zusammen. »War.«



»Er war der französische Meister«, sagte Godot ruhig. Er trat kräftig auf, sodass einer Ratte, die zwischen den bloßliegenden Streben im Boden hervorschaute, die Beute aus dem Maul fiel.



»Ich bin kein Radsportfan«, murrte La Sarge. »Ich kenne die Champions eigentlich kaum. Ich seh’ lieber Fußball.«



Godot fuhr damit fort, den Raum abzusuchen, hielt jedoch plötzlich inne. Irgendetwas in seinem Unterbewusstsein nagte an ihm. Was war das? Er musste es hervorholen. Er schritt vorsichtig über die bloßliegenden Streben zurück zu der Stelle, wo er die Ratte gesehen hatte. Er kniete nieder und holte aus dem Staub und Schmutz von sechzig Jahren, der sich an den Streben angesammelt hatte, den Draht und das Metall hervor, die die Ratte in ihrem Maul gehabt hatte, sowie einen weiteren Schatz.



»Stephen. Du kennst dich doch mit Sprengstoff aus. Was glaubst du, was das hier ist?«



Godot warf seinem Kollegen den Gegenstand zu.



La Sarge fing den verglühten und verbogenen Metallstreifen und drehte ihn in seiner Hand hin und her. »Kann ich nicht sicher sagen, bevor ich es mir nicht im Büro angeschaut habe«, sagte er, »aber es sieht aus wie irgendeine primitive elektrische Apparatur.«



»Apparatur?«



La Sarge holte tief Luft. »Ein Zünder. Wo hast du das gefunden?«



»Genau hier, auf dem Boden. Unser guter Freund Monsieur Le Rat hatte sie zusammen mit anderen Schätzen aufgesammelt.« »Als da wären?«



»Stücke von Papier, Brotkrümel ... und das hier.« Godot warf einen bleistiftdünnen Gegenstand zu La Sarge, der sich vorbeugte, um danach zu greifen. »Es scheinen die Überreste eines Fingers von Monsieur Colgan zu sein.«












Es gab keine Erklärung dafür, dass sich Will so gut fühlte, nicht nach dem gestrigen Tag, noch nicht einmal nach einem guten Essen und einem erholsamen Schlaf. Er hätte in der ersten Stunde platzen müssen, aber es lief wie geschmiert, es lief tatsächlich wie geschmiert. Er fühlte sich wie neugeboren. Gestern ein Traktor, heute ein Sportwagen. Tomas hatte ein Wunder vollbracht. Will fühlte sich gut und stark und gerade wütend genug über seine Behandlung durch Deeds, dass er die Kraft fand, auf das Tempo zu drücken. Und es hochzuhalten. Das Tempo war der Grund gewesen, warum er überhaupt mit Radrennen angefangen hatte. Das und der Geruch.



Two Wheels machte gerade zu. Es war zehn vor fünf und die Lichter in einem Hinterzimmer, das vermutlich die Werkstatt beherbergte, gingen aus. Will stand mit großen Augen in der Eingangstür. Das war kein Fahrradgeschäft. Es gab nur ein oder zwei Räder mit Ballonreifen. Die übrigen Maschinen auf dem Boden und an der Wand waren reine Gefahr: schmale Reifen, schlanke Rahmen, Rasierklingen auf Rädern. Er ging durch den Raum auf eine Reihe von Rädern zu, rot, schwarz, lila und grün, das faszinierendste Hellgrün der Welt.



Es wurde ihm bewusst, dass das, was er roch, ihn genauso unwiderstehlich anzog, wie das, was er sah. Es war Lagerfett, Gummi und Kettenöl, es war Schweiß und es war Wolle und es war exotisch.



Er dachte für einen Augenblick, dass es das sein musste, was seinen Bruder jeden Tag in die Ford-Werkstatt in der Stadt zog, obwohl sich Will dafür noch nie hatte begeistern können. Dort war es unsicher und erdrückend, hier war es sinnlich und er fühlte sich aufgehoben. Dort war die Welt der Höhlenmenschen mit sechs Daumen. Dies hier war die Welt mechanischer Chirurgen. Es machte süchtig und er war nach der ersten Prise ein Junkie.



Die Türglocke klingelte hinter ihm, als er und sein Vater nach innen traten. Ein weißhaariger Kopf schaute hinter einem Vorhang hervor, der zum hinteren Teil des Ladens führte.



»Wir schließen. Das war’s für heute.«



»Wir wollten nur einen Blick auf die Räder werfen. Entschuldigen Sie. Komm, Will. Sie wollen zumachen. Lass uns fahren.«



Stewart Kenally wischte sich die Hände an seinem verschmierten Overall ab, während er Will beoachtete, der vor der Reihe der Rennräder stand. Er ging zu ihm herüber und schaute ihn genau an.



»Fährst du gerne? Schnell?«



Will erwachte aus seinen Träumereien, schaute auf und stotterte: »Äähhhm, jawohl, Sir.«



»Möchtest du schneller fahren als alle anderen?«



»Jawohl, Sir.«



»Fährst du auf einem fetten alten Rad?«



»Jawohl, Sir.«



»Du brauchst ein echtes Rad.«



»Jawohl. Sir.«



Wills Vater wurde klar, dass es um sein Scheckbuch ging.



»Wir sind hier nur zum Schauen. Das ist alles ... nur schauen.«



Aber sogar Wills Vater hatte in den Augen seines Sohnes etwas entdeckt, das bis zu diesem Augenblick noch nicht dagewesen war. Sein Sohn war von etwas gefangen. Und das war stärker als alles andere und als alle anderen im Raum.












Als er nach der letzten Biegung auf eine lange Gerade eingebogen war, hätte Will schwören können, dass er das Team etwa 400 Meter vor sich gesehen hatte, wie sie in Richtung des ersten kuppierten Streckenabschnitts eingebogen waren. Wenn er sie einholen wollte, musste er es jetzt versuchen. Er nahm seine Kräfte zusammen und erhöhte das Tempo. Er trat jetzt einen großen Gang. Seit einer guten Stunde hatte er das Feld gejagt und sich, obwohl er alleine war, gut gefühlt. So sehr Rad fahren ein Mannschaftssport war, so sehr ging es darum, sich selbst zu überwinden und den Willen aufzubringen, das, was man in den Beinen hatte, auf die Straße z