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«1906». Der Zusammenbruch der alten Welt

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Die „Tauranga“ schien ziemlich unversehrt zu sein, nur ein 10 cm Geschütz war aus der Lafette geworfen und lag schief über der Reeling. Der Panzerschild war wie ein Blechkasten seitlich zusammengedrückt. Schwer beschädigt schien dagegen die „Wallaroo“ zu sein. Sie lag quer zu dem Wrack der „Möwe“, die ungefähr 30 m seewärts von dem Riff, das die Fortsetzung der Landspitze von Mulinuu bildet, gesunken war. Die „Wallaroo“ lag offenbar bis zur Mitte des Schiffes auf dem Riff – wie er dahin geraten, war ein Rätsel – mußte auch schwer leck sein, denn die Lenzpumpen warfen an beiden Bordseiten mächtige Wasserstrahlen aus. Die Vernichtung der „Möwe“ war vom Feinde teuer erkauft worden.

Während vor dem Gouvernementsgebäude das vor zwei Tagen gebildete ca. 160 Mann starke Freiwilligenkorps unter Gewehr antrat, stieß gegen ½11 Uhr von der „Tauranga“ ein Boot unter der Parlamentärsflagge ab. Der erste Offizier des Schiffes überbrachte die Forderung, der Gouverneur sollte die deutsche Flagge niederholen und Apia den fremden Schiffskommandanten übergeben.

Dr. Solf antwortete kühl: Wer die deutsche Flagge haben wolle, möge sie sich nur holen.

Punkt 11 Uhr eröffnete die „Tauranga“ ein zwar heftiges, in seinen Wirkungen aber ziemlich harmloses Bombardement auf Apia. Der Erfolg war gleich Null; mehrere Samoaner wurden getötet und verwundet, ein paar Gebäude verwüstet; das war alles.

Um 12 Uhr nahm die Dampfpinasse der „Tauranga“ drei stark besetzte Boote in Schlepp und näherte sich unter dem Feuer der Schiffsgeschütze dem Lande. Als man Gefahr lief, die eigenen Leute zu treffen, verstummte das Bombardement, und nun begann das Kleingewehrfeuer, unterstützt von dem Bootsgeschütz in der englischen Pinasse. Wacker griff das deutsche Freikorps in den Kampf ein, und die 30 Marinesoldaten, in guter Deckung liegend, machten dem Feinde arg zu schaffen. Schon hatten die Bootsmannschaften mehrere Tote verloren, aber trotzdem mußte der Feind in ein paar Minuten den Strand erreichen; einige Seesoldaten sprangen bereits über Bord und wateten, bis an den Hals im Wasser stehend, ans Land. Die letzte Entscheidung nahte …

Da stieß plötzlich die Dampfsirene der „Tauranga“ heulende Warnungsrufe aus, die Vorwärtsbewegung der Landungstruppen stockte, und zu gleicher Zeit scholl von der See her ein dumpfer Knall, und zwei Sekunden später platzte auf dem Achterdeck der „Tauranga“ eine Granate.

Es war dies einer jener Momente, die später allen Beteiligten bei ruhigem Nachdenken einfach unbegreiflich erscheinen. Das Interesse des Feindes war so sehr auf die Vorgänge am Lande konzentriert gewesen, und andererseits hatte man dort nur Augen für die angreifenden Boote, mußte sich auch vor den einschlagenden Granaten in Deckung halten, so daß fast niemand das Näherkommen zweier Schiffe von der See her bemerkt hatte.

Wie plötzlich aus dem Meer emporgetaucht lagen die vor einer Woche schon angekündigten deutschen Kreuzer „Thetis“ und „Cormoran“, zwei Seemeilen vom Feinde entfernt und eröffneten ein energisches und gut geleitetes Feuer. Nur Dr. Solf hatte das Erscheinen der Retter in der Not seit zwei Stunden beobachtet, und nur in seiner Umgebung war man unterrichtet. Freudig atmete man auf, als man mit scharfen Gläsern ½12 Uhr die deutsche Kriegsflagge am Heck beider Schiffe erkannt hatte. Und doch hing die schließliche Entscheidung an einigen Minuten.

Der Feind war in übler Lage. Die Hälfte der intakten Mannschaften befand sich in den Booten, andere waren mit Reparaturarbeiten – auf der „Wallaroo“ schon mehr Rettungsarbeiten – beschäftigt, so konnten die Geschütze einstweilen nur ungenügend bemannt werden. Die Boote wurden schleunigst zurückgerufen. Nichtsdestoweniger nahm der Feind mit anerkennenswerter Fixigkeit das neue Gefecht auf. Schlimm stand es nur um die „Wallaroo“, die wie ein gestrandeter Pottwal auf dem Korallenriff hing.

Ungefähr stand die Partie gleich. „Tauranga“ und „Thetis“ waren gleichwertig und der kleinere „Cormoran“ konnte es mit der havarierten „Wallaroo“ aufnehmen. Nun kam der starke Mannschaftsverlust auf seiten des Feindes hinzu.

Ein glücklicher Schuß traf die zurückkehrende Dampfpinasse, durchschlug den Kessel, der explodierte, und in einer halben Minute war das Fahrzeug von den Wogen verschlungen; auch ein anderes Boot ward von einer Granate getroffen. Das voreilige Landungsmanöver kostete dem Feinde in 5 Minuten über 60 Mann, da die rasch näher kommenden Deutschen das Feuer der leichten Geschütze auf die Boote konzentrierten. Die Einzelheiten des Gefechtes ließen sich infolge des Pulverdampfes, – „Thetis“ und „Cormoran“ waren mit ihrer rauchschwachen Munition sehr im Vorteil – den die englischen Geschütze entwickelten, nicht genau verfolgen.

„Wallaroo“ litt furchtbar. Die Geschosse vom „Cormoran“ fegten das Deck, die ohnehin spärliche Bedienungsmannschaft der Geschütze wurde niedergemäht. Deckaufbauten und Schornstein wurden heruntergeschossen. Doch die Engländer zeigten, daß man unter dem Union Jack noch zu sterben wisse. Gegen ½2 Uhr ward es still auf der „Wallaroo“, die wie ein totes Werk, eine qualmende Ruine auf dem Riff lag. Der Wind drückte den Pulverdampf nieder, rastlos klapperten die Maschinengeschütze, in kaum sekundenlangen Pausen entsandten die 10 cm Geschütze ihre heulenden Projektile. Aber schon wurden die Zwischenräume zwischen den feindlichen Schüssen größer. Die „Tauranga“ hatte nur noch einen Schornstein; vom „Cormoran“, der mehrere Volltreffer aufwies, war ein Mast über Bord gegangen. Scheinwerfer und Peilkompaß glichen einem wüsten Gewirr von Eisenstäben. Weiter tobte der Kampf. Jetzt verließ die „Tauranga“ ihre Position, sie machte eine brillante Wendung nach Steuerbord und schrammte in fliegender Fahrt mit dem Heck fast den „Cormoran“. Dieser Augenblick wurde mit scharfem Blick von einem englischen Kanonier erfaßt. Ein Geschoß traf die Mündung des Backbordtorpedorohres des „Cormoran“. Ein weißer Blitz, eine betäubende Detonation – hoch stob der Gischt empor, in der Breitseite des „Cormoran“ klaffte bis unter die Wasserlinie ein meterbreiter Riß, durch den gurgelnd und brandend das Wasser in das Innere stürzte. Außerdem war einer der Backbordkessel zertrümmert, und weißer Dampf brach aus allen Decksöffnungen.

Das Schiff lag gefährlich nach Backbord über; die Situation war kritisch. Kurz entschlossen gab daher der Kommandant das Kommando in die Maschine: „Volldampf voraus“. In voller Fahrt passierte der „Cormoran“ die drohenden Korallenbänke, erreichte die innere Bucht von Apia und lief sicher gesteuert auf dem weichen Schlickgrund des Hafens auf, just an derselben Stelle, wo 1889 die „Olga“ durch ein ähnliches Manöver einer anderen Gefahr entging. Sowie der Schiffsboden so einen Stützpunkt gefunden hatte, pendelte der Kreuzer wieder in die horizontale Lage zurück und lag jetzt ruhig wie ein Block in der leichten Brandung. Der Choc warf eine mächtige Welle auf den Strand.

Freilich schied der „Cormoran“ so aus dem Gefechte aus, aber Schiff und Besatzung waren gerettet, und die „Thetis“ hatte ja auch nur noch mit der arg zusammengeschossenen „Tauranga“ zu tun, deren Maschinenleistung durch Versagen eines Kessels und durch Zerstörung eines anderen durch eine deutsche Granate, die das schwache Panzerdeck durchschlagen hatte, erheblich reduziert war. In dem Moment der Explosion auf dem „Cormoran“ hatte die „Tauranga“ einen kurzen Vorsprung vor der „Thetis“ gewonnen. Diese folgte ihr jetzt und es entspann sich ein laufendes Feuergefecht, das aber nicht lange dauern konnte, da die „Thetis“ noch ziemlich intakt war.

Die Absicht des englischen Kommandanten war klar; er wollte das aussichtslose Gefecht mit Ehren zu Ende führen. Er hielt den Kurs eine Seemeile vom Lande parallel der Küste.

Die „Thetis“ folgte unter voller Maschinenkraft und lief der „Tauranga“ schnell auf. Deren zwei Heckgeschützen gegenüber hatte die „Thetis“ sechs 10 cm-Geschütze im Gefecht und dieser Umstand entschied bereits nach 20 Minuten, zumal die Bedienung der beiden englischen Geschütze (dreimal abgelöst) unter dem Schloßenhagel der Maschinengeschütze schnell zusammenschmolz. Kurz nach 2 Uhr schor die „Tauranga“ nach Steuerbord aus und lief auf dem Korallenriff auf. Das Vorschiff bäumte sich hoch auf, das Heck fast unter Wasser drückend. Der furchtbare Anprall warf alle zu Boden.

Der Kampf war zu Ende. Die „Thetis“ stoppte 100 m von der „Tauranga“, die den Union Jack herunterholte. Im selben Moment gingen zwei Boote der „Thetis“, die einzigen noch verwendbaren, zu Wasser, um die Überlebenden der „Tauranga“, der sämtliche Boote zerschossen waren, herüberzuholen.

Als der englische Kommandant das Fallreep der „Thetis“ betrat, schlug der Tambour den Ehrensalut, die Mannschaft präsentierte. Kapitänleutnant Hartmann begrüßte den geschlagenen Gegner mit einem Händedruck und wies dessen Degen mit stummer Gebärde zurück. Als die „Thetis“ dann drehte und den Kurs wieder auf Apia nahm, rutschte das Wrack der „Tauranga“ von dem Riff herunter und versank in den Fluten, ein ungeheurer Sarg für die an Bord zurückgelassenen Toten.

Brausender Jubel empfing die Sieger am Lande. Ernst und würdig war aber der Ton der Begrüßung. Dr. Solf ließ sich sofort an Bord der „Thetis“ rudern. In stummer Ergriffenheit schüttelte er Kptlt. Hartmann immer wieder die Hände. Apia war gerettet, aber unter welchen Opfern! und auf wie lange! denn das war jetzt der Krieg. In diesem Augenblicke loderten vielleicht schon überall auf dem ganzen Erdenrund die Flammen empor.

Es ist nur noch wenig über die Ereignisse in Apia nachzutragen: Am folgenden Tage wurden die Toten, Freund und Feind, soweit sie nicht auf dem Grunde des Meeres ruhten, nebeneinander bestattet. Aus den Berichten der 5 Geretteten von der „Möwe“ ging hervor, daß das Schiff gleich in den ersten Minuten von den feindlichen Geschossen furchtbar zerfetzt worden war. Sonderbarerweise blieb die Maschine intakt. Da faßte der Kommandant den verzweifelten Entschluß, die „Wallaroo“ zu rammen. Als die „Möwe“ ungefähr noch 50 m von der „Wallaroo“ entfernt war, ließ der Engländer die Maschine rückwärts schlagen und rannte so mit voller Kraft auf das dicht hinter ihm liegende Korallenriff auf. So war die Strandung zu erklären.

 

Die „Wallaroo“ aus dem die deutschen Seeleute mit eigener Lebensgefahr mehrere Verwundete geborgen hatten, brannte in der Nacht gänzlich aus, eine gigantische Todesfackel über dem Grabe der Gefallenen.

In den nächsten Tagen ging es an das Ausflicken der „Thetis“, bei der es nur einige Schußlöcher im Rumpf und in den Schornsteinen und die Boote zu reparieren gab. Zwei stark beschädigte Maschinenkanonen wurden an Land geschafft. So war der Kreuzer schon nach zwei Tagen wieder fertig. Schlimmer sah es mit dem „Cormoran“ aus. Auf die Reparatur des Dampfkessels mußte verzichtet werden. In die zerschmetterte Bordwand fügte man einige Stahlplatten vom Wrack der „Wallaroo“ ein, die leidlich passend gemacht wurden und so war der „Cormoran“ nach einer Woche einigermaßen wieder zurechtkalfatert. Schön sah das Pflaster zwar nicht aus, aber mit Farbe läßt sich dem Auge manches verdecken. Dann wurde der „Cormoran“ geleichtert und von der „Thetis“ abgeschleppt. Nirgends zeigte sich ein Leck. Mit den Kohlenvorräten am Lande füllte man die Bunker wieder auf, und am 26. März lagen beide Schiffe vollkommen gefechtsbereit wieder auf der Reede.

Was war inzwischen aber in der Welt vorgegangen!

Im deutschen Reichstag

Der Abgeordnete Stadthagen redete bereits zwei Stunden. Die meisten der spärlich erschienenen Volksvertreter hatten sich vor der alten Phrasengießkanne in die Restaurationsräume geflüchtet, denn nach dem durch jahrelange Gewohnheit geheiligten Brauch benutzte der grauhaarige Genosse die Beratung des Etatskapitels: Gehalt des Reichskanzlers, um alles das, was die sozialdemokratische Presse im Laufe des letzten Halbjahres ihren gläubigen Lesern an wirklichen und erlogenen Skandalgeschichten aufgetischt hatte, noch einmal wiederzukäuen. Unter lebhaften Gestikulationen und bei den hinausgeschrieenen Kraftstellen mit der Stimme umkippend redete der zappelige Volkstribun allbereits zwei volle Stunden über die tausend Kleinigkeiten, die die kochende Volksseele angeblich zum Überschäumen gebracht haben sollten. Jede Backpfeife, die einem renitenten Rekruten auf dem sandigen Kasernenhofe verabfolgt war, jeder freundschaftliche Rippenstoß ward hier zu einer „unerhörten Beleidigung des geknechteten rechtlosen Volkes“. Und weiter plätscherte der Strom der geschwätzigen Rede, wie ein Wasserhahn den man vergessen hat zuzudrehen, weiter und weiter in ermüdendem Tonfall.

Der Vizepräsident des hohen Hauses starrte wie geistesabwesend vor sich hin; in dem allgemeinen Stumpfsinn ward es ihm schwer, die Präsidialgewalt irgendwie imponierend zu markieren.

Bleierne Müdigkeit lag über dem Hause. Selbst aus dem Häuflein der Roten, die als Ehrengarde für ihren schlimmsten Dauerredner ausharrten, erklang nur selten ein schläfriges Bravo. Und weiter plätscherte der Worte Bächlein. Wie ein Schachbrett am Ende der Partie sahen die Sitzreihen der anderen Parteien aus. Hie und da ein Abgeordneter, der Briefe schrieb oder Schnörkel und geometrische Figuren aufs Papier malte um der Müdigkeit Herr zu werden. Ein dicker Domherr gerade vor Herrn Stadthagen hatte bereits kapituliert, die derbe Faust vor sich auf der Tischplatte schnarchte er wie ein dicker Kater in heißer Mittagsstunde. Dicht am Eingang des Saales ein paar plaudernde Gruppen. Die Tribünen waren fast leer. Und weiter ging der Rede surrender Gleichstrom.

Am Bundesratstische zwei Uniformen. Dem hohen Hause den Rücken kehrend und sich an die Kante des Tisches lehnend sprach Fürst Bülow leise und eindringlich mit einem Herrn in Generalsuniform. Der wandte den Kopf, als Herr Stadthagen die Worte hervorkreischte:

… wenn der Soldat in dieser Weise der Willkür seiner Vorgesetzten schutzlos preisgegeben ist, wenn die schreiendste Ungerechtigkeit zum Prinzip erhoben wird, so kann doch von einer Begeisterung für den Heeresdienst, von der Sie bei festlichen Anlässen immer so viel zu rühmen wissen, keine Rede mehr sein. Erfüllt mit diesen Gefühlen von Haß und Erbitterung, angesammelt in zwei Jahren rohester und brutalster Behandlung, versagt die Armee überhaupt als Waffe. Ein Heer, in dem das Ehrgefühl systematisch ertötet wird, kann wohl in die Schlacht als willenlose Masse getrieben aber nicht geführt werden. Wenn heute ein Krieg …

In diesem Augenblicke erwachte der dicke Domherr mit den Worten: Sehr richtig, die von der andern Seite des Hauses mit einem fröhlichen Guten Morgen beantwortet wurden. In der allgemeinen Heiterkeit, die diesen Zwischenfall begleitete, bemerkte man nicht, daß ein Saaldiener an den Fürsten Bülow herantrat und ihm etwas zuflüsterte, worauf dieser sich hastig von dem General verabschiedete. Und Herr Stadthagen redete weiter.

Die Uhr ging stark auf drei. Graf Ballestrem übernahm wieder das Präsidium und sein Stellvertreter verließ die Tribüne, um von seinem ermüdenden Dienst Erholung zu suchen in der Restauration.

In der Tür prallte er heftig mit dem Grafen Reventlow zusammen, der den Saal betrat, ein Blatt Papier in der hocherhobenen Rechten schwenkend. Ihm folgten einige Dutzende von Abgeordneten, die laut und erregt miteinander sprachen. Alle Augen wandten sich nach der Eingangstür. Dem Abgeordneten Stadthagen riß der Faden der Rede ab; Graf Reventlow eilte auf den Präsidenten zu und überreichte ihm das Blatt. Graf Ballestrem überflog den Inhalt, während sich die Schar der Volksvertreter um den Präsidentensitz drängte. Summendes Stimmengewirr erfüllte plötzlich den Saal. Graf Ballestrem schob seinen Stuhl zurück, sein Auge suchte den Platz, wo vorher der Reichskanzler gestanden. Er war leer. Dann fuhr er mit einer hastigen Bewegung nach der Glocke, setzte sie wieder auf den Tisch, rückte an seiner goldenen Brille und begann:

„Meine Herren! Es wird mir soeben ein Extrablatt überreicht, das vom ‚Berliner Tageblatt‘ ausgegeben worden ist. Ich will es hiermit zur Kenntnis des hohen Hauses bringen. Es lautet:

Washington, 18. März. (Privattelegramm.) Wie aus Pago-Pago gemeldet wird, sind am 16. März in der Abendstunde einige amerikanische Matrosen von samoanischen Eingeborenen in Apia überfallen worden. 4 Matrosen wurden getötet und einige schwer verwundet. Hierauf kündigten die Konsulen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens am 18. frühmorgens dem deutschen Gouverneur an, es sei unumgänglich notwendig, daß amerikanische und englische Marinemannschaften zum Schutze der Konsulate und der betreffenden Staatsuntertanen gelandet würden. Obgleich dieses Ersuchen in der verbindlichsten Form gestellt war und das Ansehen der deutschen Behörden in keiner Weise beeinträchtigte, verweigerte der Gouverneur Dr. Solf die Landung solcher Schutzwachen und erklärte, daß er einer Landung mit Waffengewalt entgegentreten würde. Er verbürge den Schutz aller fremden Staatsangehörigen. Im Vertrauen auf diese Zusage verließ dann der amerikanische Kreuzer „Wilmington“ den Hafen von Apia. Die Kommandanten der beiden englischen Kreuzer „Tauranga“ und „Wallaroo“ beharrten jedoch auf ihrer Forderung. Als dann um 9 Uhr eine englische Matrosenabteilung die Boote bestieg, um an Land zu gehen, eröffnete der deutsche Kreuzer „Möwe“ ohne weiteres das Feuer auf die Boote und die englischen Schiffe auf der Reede. Dieses provokatorische Vorgehen des deutschen Kreuzers fand damit ein Ende, daß nach einem Gefecht von nur wenigen Minuten der Kreuzer „Möwe“ zum Sinken gebracht wurde, worauf die Schutzwachen gelandet wurden. Die Kabelverbindung nach Pago-Pago scheint gestört zu sein. Der amerikanische Kreuzer „Wilmington“, der in Pago-Pago auf Tutuila eingetroffen ist, hat den Verlauf des Gefechtes von der See aus beobachtet.

Meine Herren! Diese Meldung kommt so überraschend und sie ist so schwerwiegend, daß ich mich einstweilen lediglich auf diese Mitteilung beschränke. Ich werde mich sofort mit dem Herrn Reichskanzler in Verbindung setzen, um zu erfahren, ob diese Nachricht auf Tatsachen beruht. Ich bitte Sie das Resultat meiner Anfrage beim Herrn Reichskanzler einstweilen abwarten zu wollen. Ich vertage hiermit die Sitzung auf eine Stunde.“

Schnell leerte sich der Sitzungssaal. Die Abgeordneten fluteten in die Restaurationsräume zurück, wo der Inhalt des Extrablattes mit großer Erregung besprochen wurde. Auf dem so heiß umstrittenen Boden von Samoa war deutsches Blut geflossen. Die Geschütze waren gewissermaßen von selber losgegangen und die mit elektrischem Fluidum übersättigte Luft hatte eine Entladung gefunden. War das der Krieg, oder war es noch möglich, unter Anspannung aller diplomatischen Künste, die Flut, die den Deich durchbrochen, in ihre Ufer zurückzudämmen? Und zwar so zurückzudämmen, daß kein Flecken auf dem nationalen Ehrenschilde zurückblieb? So, wie diese Depesche gefaßt war, stammte sie aus amerikanischer Quelle und man wußte aus Erfahrung, wie trübe diese Quelle in Zeiten nationaler Erregung floß. Vielleicht war, wenn anders in London der ehrliche Wille vorhanden war, diesen Konflikt als ein „untoward event“ zu betrachten und zu behandeln, eine Möglichkeit gegeben, noch einen modus vivendi zu finden. Das war der Strohhalm, an den sich die Erwägungen derer anklammerten, die sich der furchtbaren Verantwortung bewußt waren, einen Krieg zu entfesseln, der ohne weiteres die abendländische Welt in Flammen setzen mußte. Vielleicht hatte man in der Wilhelmstraße schon andere Nachrichten, obwohl die Schwierigkeit auf der Hand lag, den Schleier zu zerreißen, den das angelsächsische Kabelmonopol vor den Augen Europas zu weben im stande war.

Im allgemeinen hatte man aber das Gefühl, hier machtlos am Ufer eines Stromes zu stehen, dessen Wogen von einer höheren Gewalt emporgepeitscht wurden. Man saß hier mit gebundenen Händen, während die Weltenuhr draußen mit hartem Pendelschlag die Stunden maß und die Weltgeschichte ihren Gang ruhig weiterging, ohne daß schwache Menschenhände imstande waren, in die Speichen des Rades hineinzugreifen.

Einige Abgeordnete trieb es hinaus aus dem engen Raum des Gebäudes. Draußen auf dem Königsplatz fegte ein mürrischer Märzwind die kahlen Bäume des Tiergartens und ein unfreundlicher Regentag hatte die Straßen und Wege verödet. Nur schwach dröhnte das Brausen der Volksmenge und des Wagenverkehrs vom Brandenburger Tor herüber. Eine dichte Menschenmasse wogte unter den Linden auf und ab, nichts von der Hastigkeit des Berliner Lebens sonst. Man sah sich plötzlich einem Ungeheueren, Unerwarteten gegenüber, man fühlte, daß diese Stunden eine scharfe Scheide bildeten zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Um ½5 Uhr eröffnete Graf Ballestrem den Reichstag von neuem wieder, machte aber nur die Mitteilung, der Reichskanzler sehe sich außerstande, heute bereits weitere Erklärungen abzugeben, sei jedoch bereit, morgen bei Eröffnung der Sitzung Aufschluß über die politische Lage zu geben. Hierauf wurde die Sitzung geschlossen.

Die Abendblätter enthielten keine weiteren Nachrichten, überhaupt schien der gewohnte Strom der Reuterschen Depeschen plötzlich versiegt zu sein. Die Leitartikel forderten ein festes Auftreten der Regierung gegenüber diesem englischen Übergriff, forderten strenge Sühne für das vergossene deutsche Blut, und doch mischte sich ein Ton der Unsicherheit in diese Betrachtungen, das Gefühl, England gegenüber zur See fast hilflos dazustehen mit den geringen eigenen maritimen Kräften, und vielleicht noch ohne Verbündete. Auch die Bündnisfrage wurde mit einer gewissen Zaghaftigkeit erörtert, es war unmöglich, die Tragweite des Dreibundes ohne weiteres unter solchen Umständen richtig einzuschätzen, und man fand nur darin schließlich einen zuversichtlichen Ton wieder, daß man versicherte, in einem solchen Konflikt sei das deutsche Volk, auch allein, entschlossen, den letzten Mann an die Verteidigung der nationalen Ehre zu setzen.

So verging der Abend. Bis tief in die Nacht hinein waren die Straßen von erregten Menschenmassen belebt. Man konnte sich nicht entschließen, zur Ruhe zu gehen, in fieberhafter Spannung weiteren Meldungen über die Ereignisse von Samoa entgegenharrend.

* *
*

Fürst Bülow schloß: „… und so haben wir denn von unserm diplomatischen Vertreter in London die Mitteilung erhalten, daß die englische Regierung zwar bereit sei, ihr Bedauern über den Zwischenfall auszusprechen, daß sie aber keineswegs in der Lage sei, ihrem Vorgehen irgendwelche Schuld beizumessen, diese trage vielmehr lediglich der deutsche Gouverneur von Samoa, der sich geweigert habe, den fremden Staatsangehörigen in ausreichender Weise seinen Schutz angedeihen zu lassen. Der englische Standpunkt ist in diesem Fall ein solcher, daß wir ihn unter keinen Umständen teilen können. Wir haben Herrn Dr. Solf angewiesen, jeden feindlichen Übergriff mit aller Entschiedenheit zurückzuweisen, das ist eine Auffassung, wie sie allein mit unserer nationalen Ehre vereinbar ist. Wie Sie bereits aus den Morgenblättern erfahren haben werden, sind die beiden englischen Schiffe später durch unsere Kreuzer „Thetis“ und „Cormoran“ nach einem längeren Gefechte vernichtet worden. Die diplomatischen Verhandlungen gehen weiter und ich kann dem hohen Hause die Zusicherung geben, daß von meiner Seite alles geschehen wird, was eine friedliche Beilegung dieses Konfliktes herbeiführen kann, doch wäre es töricht, zu verschweigen, daß unsere Hoffnungen in dieser Beziehung sehr gering sind. Nach den Nachrichten, die wir besitzen, scheint es im Gegenteil fast so, als ob dieser Zwischenfall nur eine Episode ist in einem Plane, der mit einer freundschaftlichen Politik dem Deutschen Reiche gegenüber in keiner Weise in Einklang gebracht werden kann. Sollten unsere Vorstellungen in London keinen Erfolg haben, so sind die Konsequenzen, die wir daraus zu ziehen haben, selbstverständlich. Ich bin natürlich außerstande, mich darüber auszusprechen, welche Maßnahmen in einem solchen Falle von uns zu treffen wären, noch auch darüber, welche Nachrichten über beunruhigende Maßregeln in England wir bereits besitzen. Ich bitte deshalb das hohe Haus, sich für heute mit diesen Mitteilungen zu begnügen und gebe meinerseits die Versicherung, daß ich bei einer ernsteren Wendung der Dinge keinen Moment zögern werde, dem hohen Hause entsprechende Mitteilungen zu machen. Sollten wir aber jetzt vor die große Entscheidung um unsere nationale Zukunft gestellt werden und sollten wir gezwungen werden, das Schwert zu unserer Verteidigung zu ziehen, so wird das geschehen unter dem Wahlspruch, den die deutsche Hansa zu ihrer Devise gemacht: Das Fähnlein ist wohl leicht an die Stange gebunden, doch es ist schwer, es mit Ehren wieder herunterzuholen.“

 

Brausender Beifall folgte diesen Worten des Reichskanzlers, in den Jubelrufen nationaler Begeisterung schaffte sich die gepreßte Brust Erleichterung. Als die Hochrufe langsam verhallten, erhob sich Graf Ballestrem und machte dem Hause die Mitteilung, daß zwei Anträge bei ihm eingebracht seien. Der Antrag Kardorff, von sämtlichen Parteien, bis auf die Sozialdemokraten, unterschrieben, forderte das Haus auf, dem Fürsten Bülow für seine Worte uneingeschränktes Vertrauen auszusprechen und eine weitere Erörterung einstweilen nicht eintreten zu lassen. Hingegen, fuhr er fort, verlangt ein Antrag Bebel und Genossen, das hohe Haus möge die Regierung auffordern, die Erledigung des Zwischenfalles von Samoa dem Haager Schiedsgericht zu überweisen.

Lebhafte Unruhe und stürmische Protestrufe folgten dieser Ankündigung. Kaum vernahm man noch, daß der Abgeordnete Bebel zu seinem Antrag das Wort zu ergreifen wünschte, so stand der ehemalige Drechslermeister bereits auf der Tribüne, aber es dauerte Minuten, bevor aus der pantomimischen Vorstellung, die der lebhaft gestikulierende Abgeordnete dort oben gab, hin und wieder ein Wort vernehmbar wurde. Er zog alle Register seiner Beredsamkeit. „Wir haben Sie immer gewarnt“, schrie er, „wir haben vergebens versucht die Verschleuderung des Volksvermögens für eine maritime Politik zu hintertreiben, die das ganze Ausland gegen unsere sogenannte Weltpolitik mobil gemacht hat, die uns bei allen Völkern verdächtigt hat und die dazu geführt hat, daß unsere Politik überall mit Mißtrauen verfolgt wird. Jetzt sehen Sie, wohin Sie mit dieser Weltpolitik gekommen sind. Ihr Staatsschiff, Herr Reichskanzler, hängt jetzt auf der kolonialen Korallenklippe, die Sie sich erst auf einer Konkursversteigerung mit vielen Millionen teuer genug gekauft haben. Hinter mir und meinen Genossen stehen drei Millionen deutscher Staatsbürger, die verlangen, daß dieser Zwischenfall isoliert bleibt, und daß seine Erledigung dem Haager Schiedsgericht überantwortet wird. Wir werden kein Mittel scheuen, selbst kein Mittel, welches Sie mißbilligen werden, um zu verhindern, daß Ihre unsinnige Politik uns in das furchtbare Unglück eines europäischen Krieges hineinführt. Es ist Ihre Sache, Herr Reichskanzler, das wieder auszugleichen, was Sie gesündigt, denn die Achiver, das sind wir, das steuerzahlende Volk, hat keine Lust, das auszubaden, was die Könige gesündigt. Wir haben keine Neigung, uns für das Phantom einer angeblichen nationalen Ehre auf dem Schlachtfelde hinmorden zu lassen. Was drüben in Australien geschehen ist, geht uns in der Heimat recht wenig an, sehen Sie zu, wie Sie mit den fremden Kabinetten fertig werden, denn das ist Ihr Geschäft, mit den fremden Völkern wollen wir, das arbeitende Volk, uns schon vertragen. Zwischen uns und den Reden und Telegrammen eines Herrn, der die Welt in stete Unruhe versetzt hat, besteht kein Zusammenhang. Wir mißbilligen seine Politik …“

Ein Sturm der Entrüstung durchtoste das Haus, die Abgeordneten der rechten Seite und auch die Massen der Zentrumsabgeordneten, in denen der Funke nationaler Begeisterung zu glimmen begann, scharten sich um die Tribüne und manche derben Flüche und Verwünschungen schollen dem kreischenden Redner entgegen, dessen weitere Worte in dem allgemeinen Tumult untergingen. Auch auf den Tribünen machte sich laute Empörung geltend, und in dem brausenden Lärm verschwand auch der Schall der Präsidentenglocke, die Graf Ballestrem über dem wogenden Meer erhobener Arme lautlos schwang.

Langsam verhallte der Lärm, Herr Bebel wollte von neuem zu reden beginnen, aber der Präsident schnitt ihm den Faden ab mit den Worten: „Ich entziehe hiermit dem Abgeordneten Bebel das Wort“. Der Antrag Kardorff wurde mit 310 Stimmen angenommen, für ihres Genossen Antrag stimmten 48 Unentwegte. Die Sitzung wurde vertagt und schnell verließen die Abgeordneten das Reichstagsgebäude, das von einer nach Zehntausenden zählenden Menschenmasse umlagert wurde. Man hielt die einzelnen Herren auf der Straße an, um von ihnen zu erfahren, was Fürst Bülow gesagt. Fremde Menschen schüttelten sich die Hände, sprachen auf einander ein und die gemeinsame Not und Gefahr ließ alle Standesunterschiede vergessen, man war Mensch zu Mensch. Man sprach laut und erregt, war empört über das, was in Samoa geschehen, und suchte dadurch, daß man immer wieder versicherte, für des Volkes Sicherheit keine Opfer scheuen zu wollen, tapfer der drohenden Gefahr ins Auge zu sehen, die dumpfe innere Angst zu übertäuben, die Angst vor einer ungekannten, furchtbaren Gefahr, die jetzt vielleicht schon über des Weltmeeres Wogen gegen die Heimatküste herankam. Man zog wieder durch die Linden, umjubelte des Fürsten Bülow Wagen, stand stundenlang, aller Tagesarbeit vergessend, vor den grauen Mauern des Kaiserschlosses und zog wieder in die Wilhelmstraße, dort vor des ersten Kanzlers Heimstätte, geduldig ausharrend und schon erhob eine neue Gefahr drohend ihr Haupt.

In den schwarzen Strom der Menschen, der in gleichmäßigen Wellen zwischen den hohen Häuserreihen der Linden auf und nieder wogte, ergoß sich plötzlich von rechts her aus einer Zeitungsdruckerei ein schäumender Gießbach weißer Papierblätter, zerfloß in ihm, zerteilte sich, weiße Schaumköpfe auf die schwarzen Wellen spritzend, in weißen Strudeln das schwarze Wasser herumquirlend und wieder stockte der Strom. Mauergleich stand er, Totenstille herrschte und gierigen Blickes durchflog man die tanzenden Zeilen auf dem knitternden Papier und „Extrablatt“ – „Extrablatt“ gellte der Ruf der Verkäufer über der stummen Menge.