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«1906». Der Zusammenbruch der alten Welt

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Und noch immer hielt der Kaiser, von seiner Umgebung durch die Breite der Chaussee getrennt, zwischen den Pappeln. Da mischte sich in diese Elegie des Herbstabends ein rauher, schnaufender, polternder Lärm, ein Automobil klapperte heran, machte kurz vor dem Standpunkte des Kaisers Halt; ihm entstieg der Reichskanzler. Fürst Bülow trug ein weißes Blatt in der Hand und überreichte es dem Kaiser, während dessen Umgebung nur die Worte verstand: „Majestät, soeben trifft aus Rom diese chiffrierte Depesche ein, in der uns unser Botschafter eine Mitteilung macht, die offenbar …“, das Weitere war nicht vernehmbar, da sich der Kaiser über den Hals seines Pferdes gebeugt, zum Kanzler herniederneigte und jetzt vom Pferde stieg, das von einem Reitknechte beiseite geführt wurde. Die Generäle zogen sich, ein paar Schritte dem Walde zureitend, diskret zurück, und der Kaiser und der Kanzler blieben mitten auf der Chaussee allein, sich eifrig unterhaltend, wobei der Kaiser stets von neuem in die Depesche hineinblickte.

Drüben vom Walde her schollen noch immer die wehmütigen Akkorde von La Paloma herüber, doch der Zauber des Herbstabends war gestört. Irgend etwas Entscheidendes mußte vorgefallen sein, denn nachdem sich der Kaiser von seiner Umgebung mit kurzem Gruß verabschiedet, bestieg er mit dem Fürsten Bülow das Automobil, welches ihn schnell zum Hauptquartier zurückführte.

Noch an demselben Abend erfuhr man in der engeren Umgebung des Kaisers den Inhalt jener Depesche: Der deutsche Botschafter in Rom hatte dem Reichskanzler mitgeteilt, daß nach einer Meldung aus Barcelona die letzten Nachrichten über eine Bewegung unter den mohammedanischen Stämmen an der Nordküste Afrikas doch eine größere Bedeutung haben müßten, als man zunächst annehmen konnte. Die Ermordung mehrerer Franzosen und Italiener in Tripolis mußte offenbar mit der Revolte in Tunis im Zusammenhange stehen, die die europäischen Einwohner veranlaßt hatte, in Besorgnis um ihr Leben und Eigentum die Stadt auf französischen und englischen Schiffen zu verlassen. Dazu kamen Gerüchte, die ebenfalls aus Barcelona übermittelt wurden, daß sich in Marokko eine tiefgehende europäerfeindliche Bewegung bemerkbar mache. Ja man wollte sogar wissen, daß alle Europäer in Mogador und Casablanca ermordet worden seien. Eine aus dem Lager vor Marseille übermittelte Meldung besagte schließlich, daß die europäische Kolonie in Tanger die Entsendung eines französischen Kriegsschiffes dorthin erbeten habe, da die Kabylen die Stadt bedrohten.

Das Wichtigste aber, was Fürst Bülow dem Kaiser zu melden hatte, war eine Mitteilung des deutschen Botschafters in Petersburg, der eine über Sibirien eingetroffene Meldung weitergab, wonach in Kanton und Hankau ein chinesischer Aufstand ausgebrochen sei, dem sämtliche europäische Kaufleute in beiden Städten zum Opfer gefallen seien. Auch wollte man an der russisch-chinesischen Grenze von einer Bewegung unter den Chinesen gehört haben. Ja ein Gerücht wollte wissen, daß ein neuer Aufstand in Peking das dortige Gesandtschaftsviertel bedrohe, so daß sich die Gesandten entschlossen hätten, die in Tientsin stationierten europäischen Truppen an Peking heranzuziehen.

Nur in der engeren Umgebung des Kaisers erfuhr man von diesen Nachrichten. Im Hauptquartier wurden sie lebhaft besprochen. Zur See völlig machtlos sah sich Deutschland außer stande seinen bedrohten Landeskindern jenseits des Meeres irgendwelche Hilfe zu leisten und außerdem war man dank des englisch-französischen Kabelmonopols nicht einmal im Besitz von sicheren Nachrichten über das Schicksal der Deutschen in Marokko und im fernen China.

Das dumpfe Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber solchen Ereignissen ließ einen außergewöhnlichen Entschluß reifen. Am anderen Morgen um 6 Uhr verließ ein Stabsoffizier im Automobil das deutsche Hauptquartier und war bald darauf an der äußersten Vorpostenlinie angelangt. Hier bestieg Oberst von Gersdorf das Pferd eines Ulanenoffiziers und ritt, begleitet von seinem Trompeter und einer Ordonnanz, die eine mächtige weiße Fahne trug, auf der Chaussee, die auf die französischen Vorposten zuführte, in raschem Trabe vorwärts. Um 9 Uhr wurden die drei Reiter von den französischen Posten angerufen. Der Oberst bat in französischer Sprache zu dem nächsten Kommandoführenden gebracht zu werden. Es wurden ihm die Augen verbunden, um 12 Uhr stand er vor General Turner und befand sich eine Stunde darauf in einem Bahnzuge, der ihn nach Bordeaux führte.

Kaiser Wilhelm hatte sich entschlossen, an die Ritterlichkeit der feindlichen Heerführer zu appellieren, und hatte die französische Regierung durch den Parlamentär ersuchen lassen, ihm, wenn möglich, genaue Auskunft zu geben über die gemeldeten europäerfeindlichen Bewegungen in Marokko und China. Die Sorge um das Schicksal deutscher Landeskinder, die vielleicht einem erbarmungslosen Feind ausgeliefert, des Schutzes des Reiches entbehren mußten, rechtfertigte diesen Schritt vollauf, denn gegenüber einem solchen Gegner waren doch europäische Interessen trotz des Krieges solidarisch.

Keiner von denen, die in der Nacht die stille Dorfstraße, an der das deutsche Hauptquartier lag, passierte, wußte, welche neuen Sorgen den siegreichen Heerkönig des deutschen Volkes bedrückten. Wer aber hinaufschaute zu den erleuchteten Fenstern des einfachen Dorfwirtshauses, die des Reiches Herrscher in dem kleinen französischen Orte bewohnte, dessen Name seit vier Tagen der Weltgeschichte angehörte, der sah bis in die frühe Morgenstunde an den Fenstervorhängen unablässig einen gleitenden Schatten, der an dem einen Fenster auftauchte und verschwand, am nächsten erschien, wieder verschwand und dann wieder rückwärts denselben Weg durchmaß. Rastlos, unaufhörlich, bis des Morgens Dämmerschein die Schatten verblassen ließ und unten das Leben erwachte und Rosseschnauben den frischen Morgenwind grüßte. Dort oben hielt des Reiches Kaiser mit seinem Kanzler ernsten Rat über die nächste Zukunft.

Der Sturm bricht los

Die Nachrichten, die Oberst von Gersdorf drei Tage darauf aus Bordeaux zurückbrachte, ließen die schlimmsten Befürchtungen weit hinter sich zurück. Die Ereignisse an der afrikanischen Küste hatten sich sehr viel schneller entwickelt, als man im deutschen Hauptquartier ahnte. Die arabische Gefahr war nicht nur eine drohende, sondern war bereits vorhanden.

An der Küste zwischen Alexandrien und Tunis lebte kein Europäer mehr. Die auf den Ruinen von Karthago errichtete französische Kathedrale war in Flammen aufgegangen. Mehrere Tausend Europäer hatten sich in Tunis noch an Bord englischer und französischer Schiffe retten können. In Algier hatte man sämtliche Außenposten nach der Wüste zu zurücknehmen müssen. Was sich nicht rechtzeitig gerettet hatte, war von den aufständischen Arabern niedergemacht worden. Nur mit Mühe widerstanden die kleinen spanischen Presidios an der marokkanischen Küste dem Ansturm der Kabylen.

Tanger wurde noch gehalten durch ein französisches Marinekommando. Was aus den Europäern an der atlantischen Küste des Sultanates geworden, darüber fehlten alle Nachrichten. Die Masse der marokkanischen Heerscharen, die in den Vorstädten von Tanger bereits täglich der schwachen französischen Besatzungstruppe Gefechte lieferte, wurde nach Zehntausenden geschätzt; ganz Marokko befand sich im Aufstande. Der schwache Sultan war in Fez auf dem Marktplatze hingerichtet und der siegreiche Prätendent kämpfte an der Spitze seiner fanatischen Krieger in den Vorstädten von Tanger.

Dazu trafen Nachrichten aus Ägypten ein, die bereits wissen wollten, daß die ägyptisch-englischen Truppenteile südlich von Chartum geschlagen seien, und die bis ins ungemessen Phantastische wachsenden Gerüchte erzählten, daß ganz Zentral-Afrika sich unter dem Mullah der mit unendlichen Heeresmassen nilabwärts vordrang, erhoben habe. Die Meldungen, die von der Ermordung von Europäern im ägyptischen Sudan und einer gefährlichen Bewegung selbst in der Umgegend von Kairo berichteten, nahmen täglich an Zahl zu, sodaß es kaum noch einem Zweifel unterliegen konnte, das sich tatsächlich die gesamte Welt des Islam in einer gewaltigen Aufstandsbewegung befand.

Dieses Auflodern eines unerwarteten Fanatismus war gekommen, wie der Dieb über Nacht. Von Tanger bis nach der ostafrikanischen Küste hin mußte alles nach einem gemeinsamen Plan organisiert worden sein, andernfalls wäre das gleichzeitige Losbrechen des Aufstandes auf dem ganzen afrikanischen Kontinent unerklärlich gewesen, und, wie man später erfuhr, war das in der Tat der Fall. Das Hauptquartier der Propaganda des Islam, gewissermaßen der mohammedanische Jesuitenorden, die Sekte der Senussi, südlich und östlich von Tripolis, hielt die Fäden dieser wie ein Steppenbrand sich ausbreitenden Bewegung in der Hand. Der Mahdi, der Kalif, der Mullah und Bu Hamara sind stets nur Werkzeuge des Führers der Senussi gewesen. Von dort aus waren auch jetzt die Befehle an alle Korangläubigen versandt worden und an einem Tage, gegen Mitte Oktober, ward überall die grüne Fahne des Propheten entrollt. Der Dschechad, der Glaubenskrieg, hatte begonnen.

Auch in Konstantinopel rührte es sich, mußte es sich rühren, wollte der Padischah das Erbe der Kalifen nicht widerstandslos aus der Hand geben. Wer die Bekenner des Islam als Völker in Schlafrock und Pantoffeln verspottet hatte, wer die stumpfe Ergebenheit der Muslim in ihr Schicksal, von den Drohnen an der Staatskrippe ausgewuchert zu werden, als ihr wahres Gesicht genommen hatte, sah sich jetzt bitter getäuscht. Der Fanatismus der Muslim konnte wohl schlummern, konnte Jahrzehnte, Jahrhunderte schlummern, erstorben war er nicht. Jetzt da die Waffen der Giaur sich gegen einander kehrten, jetzt war die Stunde, da die Energie aller Völker, die ihre Gebetsteppiche nach Osten, nach Mekka zuwandten, zu ungeahntem, furchtbaren Leben wieder erwachte.

Die uns Europäern in ihrem Wesen ewig verschlossene und rätselhafte Welt des Orients, sie wallte auf, wie in einem scheinbar erloschenen Vulkane wieder neue Lavaquellen aufbrechen.

 

Wie Heuschreckenschwärme ergossen sich die ungezählten Massen fanatischer Glaubenskämpfer über die von Europäern einer Halbkultur geöffneten Länder Afrikas, aus ihrem dunklen Schoße im Innern immer neue Kräfte gebärend und gewaltige Menschenwogen nach den Küstenländern zutreibend. Vergebens mähten die englischen Maschinengeschütze in einer Schlacht bei Chartum Tausende von Derwischen nieder. Die Zahl der Feinde minderte sich zwar, ergänzte sich aber stets, und mit der letzten Patrone, die man in die glutheißen Rohre schob, war auch der letzte Widerstand der kleinen Scharen von Europäern gebrochen, die nach dem Abfall der eingeborenen Elemente, statt aus Regimentern nur noch aus derem Skelett, nur noch aus Offizieren und wenigen weißen Freiwilligen bestanden, denen man die geretteten Gewehre in die Hand gedrückt hatte. Keiner von den Kämpfern bei Chartum konnte von dem Ausgang der Schlacht berichten, längst war ihnen der Rückweg abgeschnitten, die Nildampfer waren in die Hände der Fellachin gefallen, die als Heizer und Maschinisten auf ihnen ein scheinbar harmloses Dasein führten, bis der Ruf des neuen Kalifen auch sie erreichte und ihre Hände gegen ihre weißen Herren waffnete.

In wilder Hast und wahnsinniger Verzweiflung retteten sich die englischen Beamten und die englischen Touristen aus Kairo nach Suez und Alexandrien. Die Schreckensszenen dieser Flucht aus Ägypten berichteten von unerhörten Grausamkeiten eines bis zur vollen Raserei aufgestachelten Fanatismus, daß sie das Blut derer, die sie mit erlebten, erstatten machten. Alexandrien wurde von der englischen Garnison so lange gehalten, bis der letzte Europäer an Bord der Schiffe im Hafen gebracht war. Nur mit Mühe konnte ein Bombardement der Stadt den Rückzug und die Einschiffung der englischen Garnison decken. Auch Suez und die Kanalstrecke bis Port Said wurde noch von englischen Marine-Mannschaften gehalten, die sich bei Ismailia in schnell befestigten Feldbefestigungen gegen die fortgesetzten Angriffe der einst von englischen Offizieren gedrillten ägyptischen Armee verteidigten, der die gesamten Munitions- und Waffenvorräte in die Hände gefallen waren.

La illaha ill allah!

Der allgewaltige Schech ul Islam war von der Oase Siwah, der alten Heimstätte des Jupiter Ammon, kommend, an einem Oktobernachmittage über die große Nilbrücke in Kairo eingezogen. Sein Weg glich einem Triumphzuge; überall warfen sich ihm begeisterte Fellachin in den Weg, um von den Hufen seines Pferdes berührt zu werden und dadurch unverwundbar zu werden in dem heiligen Kriege. Im vizeköniglichen Palais, wo der Schech Wohnung genommen hatte, war er vom Khediven mit allem Pomp des Orients empfangen worden. Auf dem Dache des Schlosses wehte das alte Sturmpanier des Islam, der Sandschak-Scherif, die grüne Fahne des Propheten. Ganz Kairo befand sich auf den Beinen; von allen Seiten aus Oberägypten und aus den Küstenprovinzen, aus Syrien und Arabien strömten ungezählte Scharen von Glaubenskämpfern unablässig in die Stadt, die das Hauptquartier und die Operationsbasis für den Feldzug gegen die Giaurs war.

Als die sinkende Sonne mit ihren Strahlen die Felsabhänge des Mokattam in rötliches Licht tauchte und die Umrisse der Zitadelle in Kairo und der dahinterliegende stille Windmühlenhügel in der Abendbeleuchtung seltsam scharf und nahe erschienen, traten auf allen Minarets der Stadt, hoch oben über der alle Straßen durchwogenden Volksmenge, die Mueddins heraus, um die Gläubigen mit näselnder Stimme zum Gebet zu rufen. Ein Wille, ein Gedanke, ein Gott beseelte diese wimmelnden Massen, die die Wüste geboren und die in endlosen Zügen jetzt herbeieilten, um der Stimme des neuen Propheten zu folgen und ihre Leiber in leidenschaftlichem Fanatismus den Maschinengeschützen und dem Kleinkaliber der Ungläubigen entgegenzuwerfen.

Der weite Platz vor dem vizeköniglichen Palais und alle dorthin einmündenden Straßen glichen einem wirbelnden Meere bunter Farben. Als sich die abendliche Dämmerung verdichtete, flammten überall an den Kandelabern die Gaslichter und die elektrischen Monde auf, und auf den hohen schlanken Minarets erschienen Laternen und qualmende Pechfackeln. In das Rauschen und Brausen der durcheinander flutenden Menschenmenge mischte sich das dumpfe Schlagen riesengroßer Trommeln und von fern her klangen die wilden Musikweisen aus der Kaserne an der anderen Seite des Abdin-Platzes. Neue Bewegung kam in die sich hin und her schiebenden Massen, als von den Minarets der Gebetsruf der Mueddins ertönte und die alte Kampfparole des Islam: La illaha ill allah (Es gibt keinen Gott außer Gott) drunten ein tausendfaches Echo weckte.

Mitten auf dem Abdin-Platze bildete sich jetzt ein Ring um einen großen Mann im grünen Turban und eine Stille entstand, die ihre Wellen allmählich bis an die Mauern des Schlosses, bis an die Kaserne und die den Platz umgrenzenden Häuser vortrieb. Ein dumpfes Schweigen brütete in der heißen, stauberfüllten, schwülen Luft, die in den Strahlen der scheidenden Sonne wie ein blutiger Nebel erschien. Aller Blicke hafteten am Balkon des vizeköniglichen Palastes, auf dem eine hohe, weiße Gestalt erschien: der Schech ul Islam. Ein tausendstimmiger Schrei erschütterte die Luft und erstarb dann auf einen Wink des Schechs hin allmählich wieder in den Gassen und Straßen, in den Höfen und Winkeln der hohen Steinpaläste langsam nachdonnernd. El Futa! klang es scharf und gebieterisch oben vom Balkon herab, und von neuem erbrauste die Brandung in tosendem, rhythmischem Tonfall, als die Tausende die erste Sure des Korans dem Schech nachsprachen.

„Im Namen des Allbarmherzigen! Lob und Preis Gott, dem Herrn der Welt, dem Allerbarmer, der da herrscht am Tage des Gebets. Dir wollen wir dienen und zu Dir wollen wir flehen, auf daß Du uns führest den rechten Weg: Den Weg derer, die Deiner Gnade sich freuen und nicht den Weg derer, über welche Du zürnest und nicht den der Irrenden.“

Es war die Riesenorgel des Meeres, das alle Dämme zersprengte, das die Arbeit eines Jahrhunderts, das mühsame Werk einer fremden Kultur niederriß, es war der Erlösungsruf eines Volkes, das sich aus einem Zeitalter trostloser Knechtung aufzuraffen versuchte, das die Hand wieder ausstreckte nach der Herrschaft über den Orient. Dieses Volk, das sich aus dem Dämmerzustande eines mühseligen Dahinvegetierens erhob, war begeistert von dem trügerischen Glauben an einen neuen goldenen Tag, und als die Worte des Koran erklangen, als neben den Schech ul Islam der Khedive oben auf den Balkon trat, eine Schattengestalt neben dem kraftvollen Bannerträger des Fanatismus, brach es mit elementarer Gewalt wieder hervor: La illaha ill allah, – es ist kein Gott außer Gott.

Unter steten Unruhen verfloß die Nacht des Tages, an dem der Schech ul Islam die grüne Fahne entrollt und in der Stadt der Kalifen mit kraftvoller Hand die Zügel der Regierung ergriffen hatte. Einsam schwebte oben von dem kleinen Fort auf der Höhe des Mokattam das gelbe Licht einer Laterne. Ein Hoffnungsstern für alle diese bunten Völker, die ein begeisterndes Wort aufgeschreckt hatte aus ihrem tatenlosen Traumleben.

Als dann die Morgensonne die Spitzen der Pyramiden von Gizeh grüßte, diese riesigen Denksteine einer versunkenen Zeit, die jetzt einsam im Wüstensande ruhten, nicht mehr beschmutzt von dem wimmelnden Ameisenschwarm europäischer Touristen, zog der Schech ul Islam an der Spitze der ägyptischen Regimenter und der unübersehbaren Reiterscharen der Beduinen der Wüste nach Osten aus, gen Ismailia, dem letzten Bollwerk, das noch die Söhne der Hunde mit ihren Maschinengeschützen hielten. Zwei Tage darauf waren die englischen Verteidiger Port Saids und Ismailias von der Brandungswelle, die der Schech ul Islam heranführte, hinweggeschwemmt. Lesseps’ Kanal war an zwei Stellen durch Dynamitsprengungen verschüttet und die in ihm abgeschnittenen beiden englischen Kreuzer wurden, nachdem sie ihre Munition gänzlich verschossen, von ihren Kommandanten mit den wenigen Überlebenden der Besatzung in die Luft gesprengt. Dann ging der Siegeszug des Schechs weiter nach Norden durch die Wüste, in der einst die Kinder Israels 40 Jahre geschmachtet. In Jerusalem und den anderen Städten Palästinas gaben furchtbare Judenmassakres Zeugnis von der Wut des alten Glaubenshasses. Anfang November öffneten Damaskus und Beirut ihre Tore dem ägyptischen Heere, welches dann Mitte des Monats in den Gebirgspässen Kleinasiens zunächst Halt machte, aus den Bauerndörfern überall reichlichen Zuzug erhaltend. Die Truppen des Vilajet Konia traten alsbald zum Schech ul Islam über; die von Tag zu Tag erwartete türkische Armee blieb jedoch aus.

Bereits im Oktober, kurz nachdem die ersten Nachrichten von der Erhebung Ägyptens und Nordafrikas nach Europa gedrungen waren, machte sich eine ähnliche Bewegung in der europäischen Türkei bemerkbar. Die Ermordung der europäischen Konsuln in Saloniki und Adrianopel erhellte wie ein Fanal auch hier plötzlich die Szene. Es war kein Zweifel, daß der Sultan der afrikanischen Aufstandsbewegung gegenüber eine freundliche, nur durch die Rücksicht auf Rußland, welches die Garantie für die Ruhe in der Türkei übernommen hatte, gemilderte Haltung einnahm. Das Erscheinen der russischen Schwarzenmeer-Flotte vor Konstantinopel wirkte zunächst als ein Dämpfer. Aber die Lage war so drohend und barg für die Zukunft solche Gefahren, daß die europäischen Kaufleute in der Türkei es vorzogen, sich und die Ihrigen schleunigst zu Wasser und zu Land in Sicherheit zu bringen. Der Beginn der Kämpfe an der russisch-türkischen Grenze, in Armenien, ließ denn auch erkennen, daß hier kein Halten war, wenn man nicht durch einen kraftvollen Feldzug dem Siegeszuge des Schech ul Islam entgegentrat.

Die ersten Erfolge in Nordafrika setzten sofort den ganzen Kontinent in Brand. Mit einer Schnelligkeit, die den elektrischen Telegraphen fast überholte, durch ein geheimnisvolles, uns Europäern ewig unverständliches System der Nachrichtenübermittelung war die Empörung Ägyptens in wenigen Tagen bis hinunter nach Lorenzo-Marques und bis nach der Senegalmündung bekannt, jedenfalls viel eher, als daß es noch möglich gewesen wäre, den europäischen Besatzungen in den einzelnen Kolonien eine Warnung zukommen zu lassen. Die arabische Aufstandsbewegung, der sich auch die heidnische, nicht dem Islam angehörige Negerbevölkerung instinktiv anschloß, wallte allerorten so plötzlich auf, daß in den englischen, französischen und portugiesischen Besitzungen und im Kongostaate die kleinen Garnisonen, soweit sie nicht überhaupt von der Kriegsfurie im ersten Ansturm hinweggefegt wurden, nur mit Mühe sich der Belagerer erwehren konnten. An der ganzen Guineaküste hielten sich Ende Oktober außer Dakar und St. Louis in Senegambien nur noch ein paar englische Küstenplätze. Die ganze Westküste des Kontinentes war bis auf Loanda, Swakopmund und Lüderitzbucht, wo die deutschen Besatzungen die ziemlich zaghaften Angriffe der Hereros und Hottentotten siegreich abschlugen, in den Händen der Eingeborenen, die alle Europäer erschlugen oder unter gräßlichen Martern zu Tode quälten. Eine eigenartige Illustration zu dem früher viel verspotteten Worte: „In Afrika wird immer nur der Neger herrschen“. Daß man die Neger militärisch ausgebildet und auch die Unteroffiziersstellen mit Farbigen besetzt hatte, rächte sich hier in verhängnisvoller Weise. Die europäischen Kolonialmächte wurden überall mit ihren eigenen Mitteln und was noch schlimmer war, mit ihren eigenen Waffen, die sie den Eingeborenen in die Hände gegeben hatten, bekämpft. An der ostafrikanischen Küste hielt sich außer Sansibar nur noch das britische Mombas. Die englischen Garnisonen, die die deutschen Kolonien besetzt hatten, verbluteten in Kamerun und Dar-es-Salam und Tanga bald unter den täglich wiederholten Sturmangriffen der Schwarzen. Taten eines schweigenden Heldentums, wie sie auf diesen verlorenen Außenposten europäischer Kultur nutzlos vollbracht wurden, blieben in Europa monatelang unbekannt; erst jetzt erfahren wir näheres aus den Erzählungen der Eingeborenen, die sich an jenen Kämpfen beteiligt hatten. Auch die Besatzungen in Britisch-Nigeria, in Dakar, St. Louis und Mombas lagen in den entfesselten Fluten dieses Völkeraufruhrs wie einsame Felsblöcke, an denen die Wogen unablässig nagten und bröckelten.