Schwarzwalddavos

Tekst
Z serii: Lindemanns #214
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

„Ja“, flüsterte ich, „ich will es ja glauben!“ Schweißnass wachte ich auf. Der Himmel wurde schon blau und es war Zeit aufzustehen und die Kühe zu versorgen.

Den ganzen Tag hatte ich hart zu arbeiten. Es galt Wildheu aus dem Wald zu holen, Holz zu sammeln und dann noch Besorgungen zu machen.

Als ich endlich todmüde in die Stube trat, wurde es langsam dunkel. Zu meinem Erstaunen saß Vater am Tisch und rauchte eine Zigarre, was er sonst nur am Wochenende tat. „Da staunst du, mein Bub“, sagte er und blies den Rauch in die Luft. „Eine Zigarre aus Lahr. So etwas bekommt man selten. Die hier hat mir der Vogt gegeben, weil ich bei ihm war. Auf dem Brandeck wohnen sie, die Sozialisten, sagt er. Sind gute Leute, sagt er. Geck heißt einer. Kommt aus Offenburg. Sind Unternehmer und Kaufleute. Solltest dir mal die Sache ansehen.“

„Sagt er“, ergänzte ich lachend. „Und die Polizei?“

„Musst halt vorsichtig sein, aber es lohnt sich. Vielleicht lässt sich ein Geschäft mit diesen Leuten machen. Wir sind hier am Ende der Welt. Warum sollen wir nicht auch einmal Glück haben? Weißt du noch, was Dr. Walther gesagt hat?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Luft und Wasser sucht er, um seine Kranken zu heilen. Davon haben wir genug. Es ist reine Luft, nicht wie die in Zell. Deine Geschwister klagen oft genug, dass man kaum atmen kann bei dem vielen Rauch und Staub. Morgen gehst du zum Brandeck und schaust dir einmal an, wer dort wohnt. Man kann ja nie wissen.“

Ich setzte mich verwundert hin.

„Mutter gib dem Buben einen Schnaps. Er kann ihn jetzt gut gebrauchen.“ Dabei lachte er herzhaft. „Am Ende meint der Frieder, ich würde die Polizei fürchten. Nein, es ist nur nicht gut, wenn sie ein Auge auf uns haben, aber andererseits freue ich mich, wenn jemand uns Kolonisten besucht.“

Mutter stellte mir den Schnaps hin und meinte: „Ich weiß gar nicht, was Vater hat. Seit er vom Vogt zurückkam, ist er so vergnügt. Polizei auf unserem Hof. Das hat es noch nie gegeben!“ Sie war ganz entrüstet.

„Du hast heute gute Arbeit geleistet, Bub“, lobte Vater mich. „Nun trink auch!“ Der Schnaps rann mir heiß durch die Kehle und ich musste husten.

„Musst noch viel lernen, Bub“, schmunzelte Vater, „trinken und rauchen und Fäden spinnen!“

Erschöpft sank ich auf meinen Strohsack, als ich endlich in meine Kammer gehen konnte.

In der Nacht träumte ich vom Moospfaff, aber diesmal verfolgte er mich nicht. Er stand am Waldrand und beobachtete mich, wie ich durch den Tann irrte. Ich fand den Weg nicht und lief und lief. Da zeigte er mir die Richtung und ich fand ein Haus. Voller Furcht suchte ich den Eingang, aber es gab weder Türen noch Fenster. Erstaunt erwachte ich. Sollte ich heute tatsächlich zum Brandeck nach Hinterohlsbach gehen oder hatte ich nur geträumt?

Ein bisschen verwirrt, erhob ich mich von meinem Strohsack und legte die Decke zusammen.

Ich hörte Vater und Mutter sprechen. „Du kannst den Frieder nicht dahin schicken“, schimpfte Mutter. „Du hast gehört, dass die Leute dort von der Polizei beobachtet werden. Denk an deinen Buben und an uns.“

„Aber Maria“, antwortete Vater in aller Ruhe. „Es gibt Wege, uns zu helfen. Die Kolonie braucht neue Möglichkeiten. Das sagt der Vogt auch. Die Höhenhöfe haben keine Zukunft. Hier oben gedeiht zu wenig. Du weißt doch selber, wie knapp alles ist. Soll es denn immer so weitergehen?“

„Gott hat uns bisher immer geholfen. Wir müssen nur glauben und vertrauen. Wir können die Welt nicht ändern“, klagte Mutter. So kannte ich sie. Immer war sie bereit zu verzichten und zu beten. Ihr ganzes Leben lang hatte sie immer alles gegeben.

„Maria, vertrau mir einfach“, sagte Vater und ich konnte mir vorstellen, wie er sie in den Arm nahm und tröstete.

Da trat ich aus der Kammer und die beiden schraken zusammen, als hätte ich ein Liebespaar erwischt. Mutter trocknete die Tränen ab und ging in die Küche. Vater sah mich an und meinte: „Wir riskieren eine ganze Menge, aber nur so kann es besser werden. Es ist wichtig, dass du die Leute kennst, mit denen wir zusammenarbeiten wollen. Der Vogt sagt ,Ja‘, mein Verstand sagt ,Ja‘, aber ich habe auch etwas Angst vor dem, auf was wir uns da einlassen. Das sollst du wissen, mein Bub. Recht und Ordnung müssen eingehalten werden. Die Brandeck ist der Berg hinter dem Mooskopf. Du wirst dich schon nicht verirren. Hinterohlsbach! Merk dir das, wenn du doch einmal fragen musst. Villa Strehlen, bei der Gerichtslinde in Ohlsbach. Du wirst das schon finden. Geh nach Westen. Moos wächst an den Bäumen meist an der Westseite, danach kannst du dich richten. Nun lass dir das Frühstück geben und dann geh mit Gott!“ Er nickte mir zu und ging hinaus um zu arbeiten.

Frieder auf dem Brandeck

Nach einiger Zeit hatte ich den Mooskopf erreicht und schaute mich um. Brandeck hieß mein Ziel. Das musste ein kahler Berg sein, wo einst der Wald abgebrannt worden war. Richtung Westen hatte Vater gesagt, aber nun war ich doch im Zweifel. Weiter unten am Hang sah ich einen Bauernhof und beschloss dort zu fragen. Mit langen Schritten eilte ich den Hang hinunter. Der Hofhund bellte und meldete mich an. Ein alter Mann schlurfte über den Hof. Er sah mich, sagte aber nichts. Ich grüßte und er brummte etwas, was wohl ein Gruß sein sollte, und wollte weitergehen. „Wie komme ich zur Villa Strehlen?“, fragte ich.

Er erschrak und sah mich mit großen Augen an. „Ist er von der Polizei?“, fragte er. „Wir wissen nichts und wir sagen nichts.“ Dann wollte er weitergehen. Ich wunderte mich sehr, war ich doch nur um eine Auskunft verlegen. Bevor ich ihn noch einmal ansprechen konnte, hörte ich eine Frauenstimme rufen: „Vater, ist alles in Ordnung?“

„Ein Fremder“, brummte der Alte wohl gerade laut genug, dass sie ihn verstehen konnte.

Kurz darauf stand eine Frau vor mir. Sie war rasch gelaufen und atmete schnell. „Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wir sind ordentliche Leute!“

„Ich möchte zum Brandeck“, erklärte ich. „Ich komme aus Nordrach. Mein Vater schickt mich zu Dr. Walther.“

„Kenne ich nicht“, sagte sie, aber ich sah ihr an, dass sie log. „Sind Sie krank?“

„Nein“, antwortete ich.

„Sind Sie ein Wanderer? Hier kommen hin und wieder Menschen, die einfach nur durch den Wald laufen und sich dabei verirren. Sind Sie so einer?“

Ich lachte. „Das könnte man sagen.“

„Klaus, komm“, rief sie. „Hier ist wieder so ein Wanderer, der sich verlaufen hat. Bring ihn zum Brandeck.“

Ein kleiner Bub mit hellen Haaren kam angelaufen, sah mich an und grinste. „Kommen Sie!“

Ich musste mich beeilen, mit dem Jungen Schritt zu halten, denn er kannte den Weg. Es ging den Hang hoch und in ein anderes Tal hinab. Plötzlich sah ich einen alten Bildstock am Weg und der Bub blieb genau da stehen. „Dort“, meinte er und zeigte auf ein großes Haus am Hang des nächsten Berges. Er sah mich an und wartete auf einen Lohn.

„Ich kann dir nichts geben“, sagte ich. „Ich bin von einem Höhenhof, wir sind sehr arm.“

„Ist schon gut“, sagte er und war schnell zwischen den Bäumen verschwunden.

Ich stieg den Hang hoch, betrachtete das stattliche Gebäude und verglich es mit meinen Träumen. Ein schmiedeeisernes Tor mit der Inschrift „Villa Strehlen“ verschloss den Garten. Ein großer schwarzer Hund riss bellend an seiner Kette und bleckte mit seinen weißen Zähnen.

Ein Mann in Lederkleidung, wie sie die Indianer trugen, kam bis an das Tor, sah mich von oben bis unten an und fragte dann: „Was will er denn hier?“

„Ich bin vom Höhenhof in Nordrach“, erklärte ich. „Frieder ist mein Name. Ich suche Herrn Dr. Walther.“

„Was willst du denn von ihm?“

„Mein Vater schickt mich. Dr. Walther will unsere alte Fabrik kaufen.“

Da lachte er hell auf, dass es vom Wald widerklang und der Hund heftiger bellte. „Caesar, still!“, rief er dem Hund zu und das Tier verstummte sofort. „Komm rein! Wir wissen Bescheid.“ Er öffnete das Tor und ließ mich eintreten. „Du kommst ungeschickt, wir wollen gleich eine Ausfahrt machen.“

Neugierig trat ich ein. War dies das Haus, das ich in meinen Träumen gesehen hatte? Vieles war ähnlich, aber dieses hier hatte Fenster und offene Türen. In der Tür stand ein Mann mit schulterlangen, braunen Locken und einem gut geschnittenen Anzug. Man sah ihm den feinen Herrn an. „Lederstrumpf, wen hast du denn da im Walde aufgelesen? Einen Bauernbuben?“, fragte er.

„Genosse Geck“, antwortete mein Begleiter, „der Bub kommt vom Höhenhof in Nordrach. Dr. Walther will doch die alte Fabrik kaufen und ich denke, dass er eine Abordnung aus Nordrach ist um zu erkunden, wer wir sind.“

„Ist es nicht so?“, fragte mich Lederstrumpf. Ich nickte und beide lachten. „Da kommt nicht der Bürgermeister von Nordrach, sondern ein Bauernbursche.“

„Wir gehören nicht zu Nordrach“, verteidigte ich mich. „Wir leben in der Kolonie Nordrach und die ist selbständig.“

„Dann ist er gar der Bürgermeister?“, fragte Geck. „So etwas habe ich ja noch nie gehört.“ Beide lachten wieder und ich wurde ganz ärgerlich.

„Mein Vater schickt mich her, weil ich mich umschauen soll. Wir müssen doch wissen, mit wem wir es zu tun haben. Die Polizei war bei uns und Mutter hat geweint. Ich will doch nur mit Dr. Walther sprechen und wissen, ob er tatsächlich die Fabrik kaufen möchte. Ob nun alles besser wird.“ Ich redete mich in Aufregung und sprach sicherlich viel zu laut diesen Herren gegenüber. „Verzeihen Sie“, ergänzte ich ganz leise und senkte den Kopf.

„Der junge Mann hat Mut und die Kraft, etwas zu verändern“, sagte Lederstrumpf. „Das sind Eigenschaften, die ich bisher bei den Bauersleuten vermisst habe. Sie ließen alles laufen und gaben sich ganz in ihres Gottes Hand. Manchmal meinte ich, sie wollten gar nichts verändern.“

 

„Sie haben keine Ahnung vom Leben auf den Höhenhöfen“, erwiderte ich. „Das Leben ist hart und die Arbeit schwer. Da bleibt keine Zeit um nachzudenken. Da schafft man von Tag zu Tag und weiß, dass man trotzdem nur mit Glück und Gottes Segen den nächsten Winter überstehen kann. Sie kommen bestimmt nicht von einem Hof.“

„Ei, ei“, lobte Geck, „mit dem jungen Mann kann man diskutieren und das tun wir doch so gerne, nicht wahr, Lehmann.“ Ich schaute Lederstrumpf an und sah, wie Röte in seinem Gesicht hochstieg. Lehmann hieß er also. Warum nannte Geck ihn Lederstrumpf? Was hieß diskutieren? Ich hatte so viele Fragen.

„Dann komm mal herein“, sagte Geck freundlich. „Ich denke, du bist hier am richtigen Ort und deinen Dr. Walther siehst du auch gleich.“ Er ging vor und ich folgte ihm. Lehmann blieb an der Tür stehen und holte eine Zigarre aus seiner Lederjacke.

Drinnen sah es ganz anders aus als bei uns. Geck führte mich eine Treppe hoch in ein geräumiges Zimmer. Gepolsterte Stühle standen in Gruppen in dem Raum. Vor einem Kamin lag ordentlich gestapeltes Feuerholz. An den Wänden hingen Bilder. In einer Ecke standen Männer neben Frauen, die auf den Stühlen saßen. Es waren Herrschaften, das sah man gleich. Die Frauen trugen lange Kleider und einige hatten eine ganz betonte Figur mit enger Taille und hoher Brust. Die langen Haare waren hochgesteckt, wie sie die feinen Damen der Jagdgesellschaften trugen. Eine Frau aber trug kurzgeschnittene Haare, wie ich es noch nie gesehen hatte, aber sie war recht hübsch frisiert mit einer Haarwelle über der Stirn. Sie trug ein einfach geschnittenes graues Kleid und ein kleiner Bub hielt sich an ihrem Rock fest. Ich kam aus dem Staunen gar nicht heraus und verbeugte mich, wie ich das bei hohen Herrschaften kannte.

„Das ist doch der Frieder aus der Kolonie“, erlöste mich die Stimme von Dr. Walther aus meiner schwierigen Lage. Er streckte mir die Hand entgegen und ich ergriff sie erleichtert. Dann stellte er mich den Herrschaften vor: „Liebe Hope, Genossinnen und Genossen, das ist der Frieder vom Höhenhof, vom dem ich euch erzählt habe. Diesen jungen Mann fand ich an der alten Fabrik in der Kolonie. Er träumt davon, einmal Kutscher zu werden und hofft, dass jemand kommt und seine alte Fabrik aus dem Dämmerschlaf erlöst.“

„Das klingt ja wie ein Märchen“, sagte die junge Frau mit den kurzen Haaren.

„Ja, Hope“, bestätigte Dr. Walther, „das klingt wie im Märchen. Aber haben wir nicht schon ein Märchen erlebt? So frei wie wir uns hier in Hinterohlsbach bewegen und treffen können, ist das nicht schon wie im Märchen?“

Ich hörte Schritte auf der Treppe und sah mich um. Lehmann blieb in der Tür stehen und schaute spöttisch in die Runde.

„Nein, wir sind hier nicht im Märchen“, sagte er bitter. „Die Wirklichkeit hat uns doch lange eingeholt. Die Polizei beobachtet uns. Der junge Mann hat schon Besuch von der Polizei bekommen. Erzähl doch mal!“ Dr. Walther erschrak sichtlich und auch die anderen Herrschaften sahen mich fragend an.

„Polizei?“, fragte Hope. Ich nickte. „Nachdem Dr. Walther uns besucht hatte, kam ein Polizist auf unseren Hof und hat meinen Vater und meine Mutter ausgefragt.“

„Was wollte er denn wissen?“, fragte Dr. Walther. Ich zögerte, aber er drängte mich. „Nun sag schon!“

„Er fragte, ob wir in die Kirche gehen, ob wir den Kaiser in Berlin kennen, ob wir oft am Brandeck sind und was Sie in der alten Fabrik wollten.“

„Gesinnungsschnüffler“, schimpfte Lehmann. „Selbst hier im Schwarzwald schnüffeln sie und schreiben alles auf. Wie ich das verabscheue!“

„Nur ruhig, Lederstrumpf“, beruhigte ihn Geck. „Wir sind hier bei Offenburg und da wird alles nicht ganz so ernst genommen wie in Berlin. Was hat dein Vater gesagt?“

„Mutter hat geweint“, antwortete ich, „denn die Polizei hatten wir noch nie im Haus. Mein Vater befürchtete, dass sie mich ins Gefängnis werfen würden. Aber heute Morgen hat er gelacht und gemeint, ich solle mir doch einmal ansehen, mit wem wir es zu tun hätten.“

„Und, was wirst du zu Hause erzählen?“, fragte Geck.

„Alles feine Herrschaften, werde ich sagen“, antwortete ich und Geck lachte aus vollem Halse. Die anderen stimmten ein bisschen zögernd ein. „Vielleicht sollten wir die Polizei doch nicht so ganz auf die leichte Schulter nehmen“, sagte eine der fein gekleideten Damen. „Bei uns in Paris ...“

„Aber Klara, wir sind hier auf dem Brandeck. Da sind wir sicher. Der Franz hat sogar Urlaub aus dem Gefängnis in Offenburg bekommen, damit wir gemeinsam seinen Geburtstag feiern können. Gäbe es so etwas in Frankfurt oder Berlin?“

Die junge Frau namens Hope bekam einen schweren Hustenanfall und Dr. Walther nahm sie sofort in die Arme. Sie hielt ein Taschentuch vor den Mund und rang nach Luft. „Hope, reg dich nicht auf. Es wird alles gut. Wir sind in Sicherheit. Du kannst hier gesund werden.“ Er gab sich alle Mühe, sie zu beruhigen. Lehmann stand in der Tür und lächelte.

„Lederstrumpf“, sagte Klara, „das ist kein Grund zu lachen. Es ist so wichtig, das unsere Frau Doktor wieder gesund wird. Du solltest die Dinge ein bisschen gelassener sehen. Man kann die Welt nicht so schnell ändern, wie wir das wollen.“

„Vorsicht, Klara“, mahnte Lehmann. „Da steht jemand und hört mit!“ Er zeigte mit seiner Zigarre auf mich.

„Der Bub wird wohl kaum verstehen, was wir meinen“, erwiderte Klara, „der ist noch ganz weg von all dem, was er sieht. Sicherlich hat er Hunger und wir diskutieren hier über Gott und die Welt.“ Ich war ganz froh, als sie das sagte, denn ich war wirklich sehr hungrig. „Komm mit in die Küche“, schlug Klara vor. „Ihr, liebe Genossen, macht euch fertig für die Kutschfahrt. Ihr habt gehört, dass der junge Mann Kutscher werden möchte. Da soll er uns doch kutschieren. Komm, junger Mann, erst einmal wird etwas gegessen. Du hast sicherlich noch nichts gehabt.“ Sie schob mich aus dem Raum und ich überließ mich gern ihrer Führung.

Wir gingen die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss führte sie mich durch eine Tür, die mir vorher gar nicht aufgefallen war, in eine geräumige Küche. Heiße Luft schlug uns entgegen und ich zögerte einzutreten. „Komm schon“, sagte Klara, „das ist nur die große Küche für die vielen Personen, die wir hier manchmal bewirten. Das wirst du so gar nicht kennen.“ Ich zögerte immer noch, denn da klapperte jemand mit Schüsseln und Tellern. „Das ist Martha“, versuchte mich Klara zu beruhigen, „sie ist unsere Köchin, hatte früher einmal ein eigenes Gasthaus und träumt davon, wieder eins zu führen. Siehst du, jeder hat seine Träume.“

Hinten aus der Küche kam eine kräftige Frau mit einer weißen Schürze und einer weißen Haube im Haar. „Du bringst einen Gast, Klara? War alles recht?“

„Das ist ...“ Klara zögerte.

„Frieder“, stellte ich mich selber vor. „Frieder vom Spitzmüllerhof in Nordrach.“

Sie sah mich erstaunt an. „Vom großen Spitzmüller der Sohn?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, vom Jakob Spitzmüller. Wir bewirtschaften einen der Höhenhöfe.“

„Ein Gast aus der Kolonie?“ Jetzt war die Köchin erst recht misstrauisch.

„Dr. Walther war bei ihnen“, erzählte Klara. „Du weißt doch, dass er davon träumt eine Heilstätte zu gründen.“

„Hier ist nicht genug Wasser, sagt er“, schimpfte Martha. „Als ob man viel Wasser brauchte, um eine Heilstätte zu gründen. Man braucht gutes Essen und gute Luft.“

Klara lachte hell auf. „Ich kenne deine Träume Martha, aber Dr. Walther hat so seine eigenen Vorstellungen und davon bringt ihn keiner ab. Aber jetzt brauchen wir etwas zum Essen. Der junge Mann soll gut gegessen haben. Er wird uns kutschieren.“

Klara schob mich zum Tisch an der Wand und ich setzte mich auf einen der Stühle, ganz gespannt, wie mein Abenteuer weitergehen würde. „Kümmere dich um ihn“, sagte Klara, „ich muss wieder hoch. Die anderen warten, denn wir wollen gleich los. Wir rufen, wenn wir abfahrbereit sind.“

„Kutschfahrten“, brummte Martha. „Wollen sich für die Arbeiter einsetzen und leben wie die Fürsten. Kutschfahrten! Ob man so etwas schon gehört hätte. Fahren ohne Grund mit der Kutsche durch die Landschaft oder laufen gar herum. Wandern nennen Sie das. Soll gesund sein. Wenn man das nötige Geld und die Zeit hat ...“ Sie brummte noch ein wenig, dann wandte sie sich mir zu.

„Willst du einen Schlag Nudelsuppe?“, fragte sie.

Mein Herz machte einen Sprung, denn so etwas gab es bei uns nur an Festtagen. Ich nickte ganz erstaunt.

„Kannst ruhig den Mund aufmachen“, schimpfte sie. „Mit mir redet man ja nicht. Ich bekomme Aufträge und muss sehen, wie ich alles erfüllen kann. Ein Gast in meiner Küche!“

Aber während sie noch brummelte, hatte sie schon einen Teller geholt und schöpfte dampfende Suppe aus einem großen Topf.

So schnell ich konnte, aß ich von der heißen Suppe. Auf der Brühe lag eine dicke Fettschicht und das Brot schmeckte ganz vorzüglich. Dann kam Martha zurück. „Reiche und fette Kost befiehlt Dr. Walther, damit alle gesund bleiben!“, brummte sie. „Willst du noch mehr?“ Ich nickte.

Als ich fertig gegessen hatte, knallte draußen eine Peitsche. „Raus mit dir“, sagte Martha und nahm mich am Arm. „Bist aber mager! Dein Glück, dass du bei den Herrschaften gelandet bist. Nun kutschier sie durch den Wald.“

Ich stand rasch auf und ging zur Tür. „Danke“, sagte ich, „Vergelt’s Gott!“ Sie lachte. „Das sagt hier niemand, aber das wirst du auch noch lernen.“

Ich öffnete die Küchentür, schloss sie sorgfältig hinter mir und ging zur Haustür. Als ich die Tür öffnete, hörte ich schon die Pferde schnauben. Wieder machte mein Herz einen Sprung vor lauter Freude. Pferde! dachte ich. Keine Kühe vor dem Pflug, Pferde vor einer Kutsche! Zwei Warmbluthengste waren vor einen großen Wagen gespannt mit Bänken darauf, wie bei einer Auerhahnjagd!

„Auf den Bock, junger Mann“, rief Dr. Walther, „wir wollen losfahren!“

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und bestieg den Kutschbock. Dort saß bereits ein älterer Mann mit langem grauen Bart. „Kurt, es geht los!“, sagte Geck, der auf der ersten Bank hinter dem Kutscher Platz genommen hatte. Er trug einen großen schwarzen Hut auf seinen langen Locken. Der Kutscher schnalzte mit der Zunge und die Pferde zogen an. Ganz lässig hielt er die Leinen in der Hand, denn die Tiere kannten den Weg. Da entdeckte ich im nahen Gebüsch einen Mann. Er hatte einen Schreibblock auf den Knien und schrieb eifrig etwas auf.

Kurt sah meinen Blick. „Nicht hinschauen, Polizei“, mahnte er und hatte eine richtige Verschwörermiene. Natürlich, dachte ich und konnte doch nicht vermeiden, noch einmal hinzublicken. Da bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie Lederstrumpf aus dem Hause trat. Man sah ihn nur einen winzigen Augenblick, dann war er schon verschwunden. Meine Augen suchten ihn, aber er war nicht mehr zu entdecken. „Schau nach vorn“, mahnte Kurt. „Die Herrschaften sehen es gar nicht gerne, wenn man zu viel beobachtet.“

Er hatte sehr wohl gesehen, was auch mir nicht entgangen war. Die Pferde gingen ruhig den Hang hoch, der Wagen schaukelte auf dem Weg. Ich fühlte mich wie im Paradies. Die Leute hinter uns im Wagen begannen zu sprechen.

„Lehmann ist fort, um die rote Feldpost zu holen?“, fragte Hope und hatte wohl ganz vergessen, dass ich ja dabei war.

„Niemand kann das so wie er“, sagte Geck. „Die Polizei glaubt, wir würden den Vorwärts hier oben drucken!“ Er lachte, dass es von den Bäumen widerhallte. „Lehmann holt die Zeitungen und bringt sie zur Linde. Wir verteilen hier ein wenig und damit lenken wir die Polizei auf eine falsche Spur.“

„Ihr seid leichtsinnig“, meinte Klara, „wir sollten die Polizei nicht bewusst auf uns aufmerksam machen.“

„Besser sie schnüffeln hier, als dass sie nach Offenburg kommen und herausfinden, wie wir von Zürich über Basel unsere Zeitungen ins Land bringen. Die Menschen brauchen Aufklärung. Der Arbeiter wird ausgebeutet und weiß es nicht einmal. Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!“

„So sagt es Engels“, ließ sich Hope vernehmen. „Wie oft denke ich an London und wie frei wir dort leben konnten. Marx und Engels wohnten ganz in unserer Nähe.“

Ich hörte Dr. Walthers ruhigen Bass. „Meine liebe Hope, das ist alles lange her. Wir hatten uns doch entschieden, in Deutschland zu leben und hatten in Frankfurt eine gute Praxis aufgebaut. Nun sind wir hier und doch glücklich. Unser Heinz liebt den Schwarzwald und für die kleine Mara ist es auch besser so. Wir konnten doch nicht in Frankfurt bleiben.“

Hope hustete und ich musste nicht hinsehen um zu wissen, dass sie sich wieder ihr Taschentuch vor den Mund hielt.

 

„In Frankfurt wurde es zu gefährlich für uns, so gern ich dort meine Praxis weitergeführt hätte. Die Sozialistengesetze ließen uns keine Wahl. Bismarck hat damals die Ausweisung aller Sozialisten angeordnet. Sollte ich warten, bis wir verhaftet würden? Ein Gefängnisaufenthalt wäre für dich tödlich gewesen. Ich war lange genug im Gefängnis, um die Freiheit hier zu genießen.“ Seine Stimme hatte einen harten Klang angenommen.

„Otto, niemand will dir etwas. Wir wissen, wie sehr du für die Sache gelitten hast“, sagte eine junge Männerstimme. „Ich bin so froh, heute bei euch zu sein. Redet jetzt nicht vom Gefängnis! Morgen muss ich nach Offenburg zurück. Ich bin glücklich, den Mauern einen Tag lang entkommen zu sein.“

„Lasst uns singen!“, schlug Klara vor und wartete nicht lange auf die anderen. Mit ihrer hellen Stimme begann sie: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten. Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten ...“ Die anderen fielen ein. Wunderschön klang es durch den Wald.

So etwas hatte ich noch nie gehört. Ja, ich sang gern bei der Arbeit, was mir gerade einfiel. Mutter sang, wenn sie im Garten war. Dann erklangen Marienlieder, aber mit dem Älterwerden war sie viel stiller geworden. Doch dass die Gedanken frei sind, darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Es stimmte! In den Kopf konnte niemand hineingucken, auch wenn man das noch so gerne wollen würde. Weshalb war mir das nicht schon früher in den Sinn gekommen? Ich konnte doch denken, was ich wollte, wen ging das was an? „Die Gedanken sind frei“, summte ich vor mich hin und hatte gar nicht bemerkt, dass die anderen alle ganz still geworden waren.

„Der Bursche lernt aber schnell“, meinte Geck und ließ wieder sein helles Lachen ertönen. „Ich bin sicher, daran hat er noch nie gedacht!“ Ich sah mich um und lachte mit ihm.

„Nein, auf solche Gedanken bin ich noch nicht gekommen“, bestätigte ich. „Da seht ihr, wie wichtig es ist, dass wir den Menschen neues Gedankengut bringen“, ereiferte sich der junge Mann, der Urlaub vom Gefängnis hatte, „sie müssen begreifen, dass sie ein Recht auf eigene Gedanken haben. Die Arbeiterschaft kann sich nur befreien, wenn sie international zusammenarbeitet. Nur die Internationale kann die Welt verändern!“

„Aber Wilhelm“, mahnte Dr. Walther, „keine Aufregung und keine politischen Ansprachen. Wir wissen alle, wie du denkst, aber die Bäume kannst du nicht belehren, sie stehen da und rühren sich nicht von der Stelle!“

„Aber wir müssen das Bewusstsein der Menschen verändern. Sie müssen lernen, dass sie eine Stimme haben, dass sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können.“

Wir fuhren einen Teil des Weges zurück, den ich gekommen war. Aber am Mooskopf bogen wir ab, um auf die höchste Stelle zu fahren. „Dort oben hat man eine herrliche Aussicht über das ganze Land!“, sagte Geck. Ich sah ein wenig neidisch auf die kräftigen Hände von Kurt, die mit ganz leichten Bewegungen den Pferden über die Leinen die Richtung angaben. Ein sanfter Zug und beide Pferde bekamen das Signal nach rechts oder links zu fahren. Ließ er die Leinen locker, dann liefen die Pferde schneller, zog er sie an, wurden die Tiere langsamer.

„Ja, schau genau hin, wie ich das mache“, erklärte mir Kurt. „Nur so kannst du etwas lernen. Augen auf, mein Junge!“

Das wusste ich schon, dass man mit offenen Augen durch die Welt gehen musste, um etwas zu lernen. Deshalb war ich doch auch auf das Brandeck gegangen! „Dort an dem dicken Baum halten wir“, rief Geck, „den Rest der Strecke können unsere Damen auch bewältigen.“ Wieder begleitete er seine Ausführungen mit einem Lachen.

„In Sachen Frauen bist du aber ein Konservativer“, sagte Hope und alles lachte. „Wir Frauen können ebensoviel wie ihr Männer. Man nennt uns das schwache Geschlecht, aber wir werden nur daran gehindert, unsere Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Ihr zwängt uns in enge Kleider, damit wir nicht mit euch um die Wette laufen können. Ihr zwingt uns, hohe Schuhe zu tragen, damit wir nur kleine Schritte machen können.“

„Aber Hope“, beschwichtigte Klara, „für die Mode kann Genosse Geck nun wirklich nichts. Wir werden doch nicht gezwungen, jede Modetorheit mitzumachen. Frauen wollen gefallen. Das ist nun einmal so. Deshalb zwängen wir uns in die engen Kleider und lassen uns schnüren, bis wir keine Luft mehr bekommen, um eine schlanke Taille zu haben. Nicht jede von uns mag nun einmal Hosen tragen wie ein Mann oder weite Reformkleider. Wir legen uns das Mieder selber an, aber es kleidet auch, oder?“ Ich musste nicht hinsehen um zu wissen, dass sie sich erhoben hatte und ihre schlanke Taille zeigte. Klara sieht wirklich gut aus, dachte ich. Hope wirkte in manchen Dingen wie ein Mann, aber ich mochte auch sie. Sie war etwas ganz Besonderes. Sie hatte ihren eigenen Kopf und nicht nur ein hübsches Köpfchen mit einem bezaubernden Hut. Ich hätte nicht sagen können, wer mir besser gefiel, so wenig wie ich hätte sagen können, welches von den beiden Pferden, die unseren Wagen zogen, mir mehr zusagte. Mal zog ich das Pferd mit der langen hellen Mähne vor, weil es so starke Muskeln zeigte und sich kräftig ins Geschirr legte, manchmal das schlankere Pferd mit der dunklen Mähne auf der linken Seite, das zwar nicht ganz so kräftig war, aber dafür hin und wieder die Richtung angab.

Kurt bemerkte, wie interessiert ich die Tiere betrachtete, und fragte: „Für welches würdest du dich entscheiden? Für das mit der langen Mähne oder das Kurzgeschorene?“

Ohne groß nachzudenken antwortete ich: „Das eine zieht den Karren, aber das langmähnige gibt den Ton an. Ich glaube, im Gespann bestimmt es die Richtung.“ Natürlich hatten alle meine Ausführungen gehört und bezogen sie auf Klara und Hope.

Geck lachte und schlug sich auf die Schenkel, dass es nur so krachte. „Otto, da hast du uns einen prächtigen Burschen angebracht!“

„Und ihr lacht auf seine Kosten“, schimpfte einer der Männer. „Überall in der Welt lachen die Reichen über die Unwissenheit der Armen und sind doch so sehr auf sie angewiesen. Ich finde es schlimm, dass wir uns genauso benehmen.“ Kurt zog die Bremse an und der Wagen hielt.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte ich unsicher.

„Nein“, antwortete Kurt. „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, junger Mann, deshalb lachen sie. Runter vom Wagen. Man hilft den Damen.“

Ehe wir aber unseren Kutschbock verlassen hatten, war auch schon die ganze Gesellschaft ausgestiegen. Sie gingen in Gruppen an der Eiche vorbei zu einer kahlen Kuppe.

„Geh mit, von da sieht man Offenburg“, schlug Kurt vor, „ich war schon oft genug dort.“ Schnell eilte ich den Leuten nach und schaute mich um. Die Kuppe des Mooskopfes war waldfrei und man hatte eine wunderbare Aussicht über die Rheinebene. Wenn ich allein hergekommen wäre, dann hätte ich die Waldwiese gesehen, die noch niemand gemäht hatte, obwohl wunderbar weiches Gras dort stand, aber nicht die Stadt Offenburg.

Der Mann, der eben so für mich eingetreten war, kam zu mir. „Liebe Genossen“, sagte er, „ich möchte euch zeigen, wie anders ein Bauernbursche denkt als wir und wie sehr die Menschen einer politischen Belehrung bedürfen.“ Dann fragte er mich: „Frieder, darf ich dich etwas fragen?“ Ich nickte und kam mir vor wie bei unserem Heckenlehrer. „Was siehst du, Frieder? Was gefällt dir?“

„Eine Waldwiese, die noch niemand geerntet hat“, antwortete ich, „daraus könnte man prächtiges Heu machen. Ich sehe weiches Gras und die Trespe am Waldrand. In der Wiese blüht der Bärwurz, der für unsere Kühe gut wäre. Wem gehört die Wiese? Kann man das Gras ernten?“

„Ihr geht wildheuen?“, fragte er. „Ihr holt Gras, auf das niemand Anspruch hat, um eure Tiere durch den Winter bringen zu können?“