Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug

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Der unerbittliche Husten stellte sich wieder ein. „Das ist das Leben“, sagte Scherrer, „ein ständiger Kampf gegen den Tod, den wir nur verlieren können.“ Er sagte es wie eine Frage, aber die Bücher und Statuen gaben keine Antwort, die er nicht schon Hunderte Male gelesen hatte. Er kannte das ägyptische Totenbuch. Die Reise durch die Zwischenwelt, vorbei an den Gottheiten, die das Herz wogen. „Was habe ich in die Waagschale zu legen?“ Diese Frage stand plötzlich im Raum. Habe ich stets nur genommen? Habe ich immer nur genossen oder auch gegeben? „Ich habe gesucht“, sagte Scherrer, „und ich suche noch immer nach einer Antwort.“ Ob das zählen würde? Er wusste es nicht.

Zaghaft klopfte es an der Tür. „Herein“, rief Scherrer. Das musste das Hausmädchen sein. Dagmar würde nicht anklopfen. Es war das Mädchen. „Möchte der Herr frühstücken?“, fragte Irmgard.

Er wollte fragen, woher sie wusste, wo er zu finden war. Aber das Hauspersonal hatte auch so seine Geheimnisse. „Ist meine Frau schon auf?“, fragte er und wusste gleichzeitig, dass er sie nicht sehen wollte.

„Die gnädige Frau erwartet Sie um 8.00 Uhr im Esszimmer. Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte sie.

„Ja, gerne“, antwortete Scherrer, „ein Kaffee wäre schön. Bitte stellen Sie ihn hier ins Arbeitszimmer. Ich habe noch zu tun und möchte mich eben frisch machen.“

Mit keiner Miene zeigte das Hausmädchen, dass sie sich wunderte. Gutes Personal ist viel wert, dachte Scherrer unwillkürlich und ging aus dem Raum, um sich im Bad fertig zu machen.

Im Bad lagen saubere Wäsche zum Wechseln, ein frisches Hemd und auf dem Bügel hinter der Tür hing ein anderer Anzug. Ein Gruß von Dagmar, meiner Frau, dachte Scherrer in einem Anflug von Zärtlichkeit. Sie kennt mich seit vielen Jahren. Einen Augenblick überkam ihn ein melancholisches Gefühl von Einsamkeit. Wir haben uns verloren. Vielleicht schon vor langer Zeit.

Er schaute in den Spiegel und erschrak vor seinem eigenen Spiegelbild. Die sonst so gepflegten Locken hingen wirr in seine Stirn. Er hatte es gar nicht bemerkt. Die Augen waren ein bisschen blutunterlaufen. Die Lider hingen schlaff herunter. Der Mund war schmal und zusammengekniffen. Ein Gesicht nach einer Nacht voller Unruhe und wenig Schlaf.

Scherrer zog sich langsam aus und duschte ausgiebig. Dann rasierte er sich sorgfältig. Ganz in Gedanken griff er zu dem Schalter unter dem Waschbecken und drückte ihn. „Morgendlicher Befund“, sagte seine Stimme vom Tonband. „Augen klar, Zahnfleisch gut durchblutet, Zunge ohne Belag.“ Lächelnd sah er sich an, griff erneut nach dem Schalter und stellte das Tonband ab. Eine endlose Reihe von Tagen, an denen alles immer gleich war.

„Gesund und ohne Befund“, sagte er. „Ich habe geglaubt, es müsse immer so sein.“

Langsam kleidete er sich an. Ein Kratzen im Hals mahnte ihn erneut an den längst fälligen Arztbesuch. Scherrer nahm ein Papiertuch aus dem Spender und hielt es vor den Mund Ein neuer Husten schüttelte ihn. Als der Anfall endlich vorbei war, war das Taschentuch leicht gerötet. Scherrer sah die Blutspuren betroffen an und warf das Tuch in den Mülleimer. Er kämmte seine grauen Haare, kniff den Sitz der Locken mit zwei Fingern nach und zog sich sorgfältig an. Bevor er hinunterging, kontrollierte er den Sitz der Krawatte und des Anzugs. Er war zufrieden. Die heiße Dusche hatte die Spuren der Nacht beseitigt. Scherrer griff nach einem Becher, ließ Wasser einlaufen, gab einige Tropfen Mundwasser hinzu und gurgelte mit dem Wasser, um den Blutgeschmack im Munde zu beseitigen. Vorsichtig spuckte er aus, um seinen Anzug auf keinen Fall zu beschmutzen. Dann warf er sich einen letzten Blick zu, freute sich daran, dass sein Mund wieder überlegen lächelte, und begab sich zurück in seinen Arbeitsraum.

Der Kaffee stand bereit. Scherrer trank einen Schluck und spürte, wie das heiße Getränk in den Magen rann, wie sich die Wärme in seinem Körper ausbreitete. Dann ging er an seinen Schreibtisch, stellte den Computer an und wartete geduldig, bis das Programm hochgefahren war. Flink eilten seine Finger über die Tasten und schienen sie kaum zu berühren.

„Interview mit Professor Scherrer“, schrieb er und stellte die wichtigsten Gedanken des Gesprächs mit Sybille zusammen.

Dann nahm er das Telefon, wählte die Nummer seines Büros und bat seine Sekretärin um einen Gefallen. „Ich überspiele Ihnen einen Text über das Internet“, erklärte er, „bitte drucken Sie ihn aus und schicken ihn per Boten in die Redaktion der Welt der Wissenschaften.

„Selbstverständlich“, sagte Anneliese. „Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“

„Auf meinem Schreibtisch liegt ein Umschlag für Frau Sybille Walter. Bitte legen Sie ihn zu dem Bericht.“

Sie ging in sein Büro und fand dort schnell, was er meinte. „Ich habe ihn gefunden, Herr Professor“, sagte sie. „Wann werden Sie heute hier sein? Es liegen einige Termine an.“

„Ich komme später“, sagte er. „Der lästige Husten. Ich muss endlich zum Arzt. Sie wissen doch …“

„In Ordnung, Herr Professor“, sagte Anneliese und dachte: Männer und Arzt!

Scherrer lehnte sich entspannt zurück, als es an der Tür klopfte. „Ja, bitte“, rief er.

Irmgard öffnete und sagte: „Die gnädige Frau lässt bitten!“

„Danke“, sagte Scherrer und erhob sich. „Ich bin gleich bei ihr.“

Dagmar Scherrer saß mit dem Rücken zur Tür. Das war ihr Platz, aber heute hatte Scherrer das Gefühl, als säße sie absichtlich so, um ihm noch einen winzigen Moment Zeit zu geben, und er war ihr dankbar dafür. Er sah ihren schlanken Rücken, die gerade Haltung, mit der sie am Tisch saß, die stets korrekten, hochgesteckten, blonden Haare. Ja, sie war seine Frau, die seine Karriere sehr gefördert hatte, die es verstand, auf Empfängen die richtigen Leute im rechten Ton anzusprechen. Sie hörte ihn und drehte sich zu ihm um. „Danke, dass du dir Zeit nimmst. Sicher hast du sehr viel zu tun“, sagte sie. Es war eine Feststellung, aber sie legte ihm damit auch alle Worte zur Entschuldigung hin.

„Ich habe die Nacht im Arbeitszimmer verbracht“, sagte er und beugte sich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. „Es ist sehr spät geworden und die Gedanken haben mich dann nicht mehr losgelassen.“

„Setz dich“, sagte Dagmar. „Möchtest du auch etwas frühstücken?“

Scherrer nickte und nahm ihr gegenüber Platz. Irmgard schenkte ihm Kaffee ein, aber Dagmar bat sie mit einer Handbewegung, sich zurückzuziehen. Jetzt kommt es, dachte Scherrer, aber Dagmar lächelte ihn an.

„Waren es neue Erkenntnisse zu den Experimenten, die dich nicht schlafen ließen?“, fragte sie.

Scherrer griff ihre Worte gerne auf. „Es geht um sehr viel. Endlich nehme ich wieder an der Forschung teil.“ Aber dann merkte er, dass Dagmar gar nicht zuhörte. Erneut versuchte er ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Wir arbeiten im Institut ganz wunderbar zusammen“, erzählte er.

„Ich weiß“, bestätigte Dagmar abwesend. „Aber darum geht es nicht. Wovor hast du eigentlich Angst?“, fragte sie ihn direkt und sah ihm forschend in die Augen.

Scherrer zuckte zusammen. Eine solche Frage hatte er nicht erwartet. „Angst?“, fragte er und seine Stimme klang heiser.

„Edwin“, sagte Dagmar leise, „wir sind seit so vielen Jahren verheiratet. Du bist oft spät heimgekommen oder die Nacht über fortgeblieben, aber noch niemals hast du angezogen im Arbeitsraum übernachtet. Irgendetwas muss dich ungeheuer beschäftigt haben. Hast du kein Vertrauen zu mir?“ Liebevoll sah sie ihn mit ihren blauen Augen an.

Scherrer dachte nach. Was kann, was will ich ihr sagen?, fragte er sich. Was weiß sie? Sybille? Rasch verwarf er den Gedanken. Nein, Dagmar ging es nicht um Eifersucht wegen eines kleinen Abenteuers, es ging ihr um ihn, um ihn ganz persönlich.

„Wir haben im Institut eine neue Forschung begonnen“, sagte er. Dagmar schaute ihn konzentriert an. „Es geht um Todesgene.“

„Ja“, sagte Dagmar, als er zögerte. „Gene, die den Tod auslösen. Ist das richtig?“

„Korrekt“, antwortete Scherrer und fühlte sich wieder auf sicherem Boden. „Wir haben bei Arabidopsis ein Todesgen festgestellt. Beziehungsweise, Frau Neidhardt vermutet es. Als sie hier war, hat sie mir genau erklärt, was sie sucht. Wenn sie es gefunden hat, möchte sie das Gen auf Baumwolle übertragen und so die gefährlichen Spritzmittel überflüssig machen.“

„Das ist ihre Forschung“, stellte Dagmar fest. „Was ist deine?“

„Meine?“, fragte Scherrer. „Meine Aufgabe ist es, die Mittel dafür durch Sponsoren bereitzustellen.“

„Es geht um dich“, sagte Dagmar. „Um dich und uns! Ist der Husten so schlimm? Hast du Angst, dass mehr dahinter steckt?“

Scherrer sah sie unsicher an. „Ich gehe nicht gern zum Arzt“, gestand er.

„Welcher Mann kann damit schon umgehen?“, fragte Dagmar. „Konsultierst du einen Spezialisten?“

„Zunächst Robert in Remchingen.“

„Ich kenne ihn“, sagte Dagmar. „Er ist seit Jahren mein Hausarzt.“

„Dein Hausarzt?“, fragte Scherrer, und plötzlich klang Besorgnis in seiner Stimme.

Dagmar lachte. „Nein, mir fehlt nichts. Jetzt nicht. Aber hin und wieder braucht man auch einen Arzt und sei es nur zu Vorsorgeuntersuchungen. Viele Dinge erkennt man nicht selber, auch wenn man sich gut beobachtet.“

„Du meinst das Tonband?“, fragte Scherrer und ärgerte sich über seine heisere Stimme.

„Das ist deine Sache“, antwortete Dagmar und trank einen Schluck Kaffee. „Hast du Zeit?“

„Ich habe Zeit“, antwortete Scherrer. „Danke für das offene Gespräch. Wir haben seit Jahren nicht mehr so miteinander gesprochen.“

„Leider“, sagte Dagmar. „Ich möchte nur wissen, wie es weitergeht.“

Scherrer stand auf und trat hinter sie. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und sagte. „Dagmar, ich weiß es wirklich nicht.“

 

„Das Todesgen interessiert dich nicht nur wegen der Arabidopsis, richtig?“, fragte Dagmar.

„Ja“, bestätigte Scherrer.

„Du hast die Ägyptologie auch betrieben, weil dich das Problem der Unsterblichkeit reizt?“, fragte sie weiter.

„Ja, Überlegungen dazu beschäftigen mich seit vielen Jahren. Weniger die Suche nach der Unsterblichkeit, auch nicht die Frage nach einem Leben nach dem Tode. Ich möchte die Uhr anhalten können, die alles Leben vorantreibt!“, sagte Scherrer.

„Und dann?“, fragte Dagmar. „Dann ist Zeit nicht mehr, Vergänglichkeit nicht mehr. Dann gibt es auch keine Bewegung und kein Leben. Was ist dann?“

„Das fragte sie mich gestern auch“, sagte Scherrer.

„Wer?“, erkundigte sich Dagmar. „Die Kleine aus der Redaktion?“

Scherrer zuckte zusammen. Sie wusste also Bescheid. „Nein, eine ägyptische Göttin im Traum“, erklärte er. „Es war ein eigenartiger Traum zwischen Wachen und tiefem Schlaf.“

„Ihr arbeitet in einem Grenzgebiet“, mahnte Dagmar, „da verschwimmen die Grenzen zwischen Forschung und Mystik. Ihr habt euch weit vorgewagt.“

„Aber es geht doch nur um unsere Forschung“, meinte Scherrer, ließ sie los und ging zu seinem Platz zurück. Er setzte sich, nahm einen Toast und bestrich ihn mit Butter.

„Nein, Edwin!“, erwiderte Dagmar ernst. „Und das weißt du auch. Dir geht es um Leben und Tod, um Zeit und Ewigkeit. Wirst du mir Bescheid geben, wenn du gefunden hast, was du suchst?“

„Wie meinst du das?“, fragte Scherrer und ließ das Messer sinken, mit dem er gerade seinen Tost bestrich.

„Du weißt, was ich meine“, sagte Dagmar. „Wir haben keine Kinder. Wir beide sind ganz allein. Ich möchte nur wissen, wann du mich verlässt.“

„Ich suche nur einen Arzt auf“, sagte Scherrer und legte Messer und Toast zur Seite.

„Du hast Post aus Ägypten“, wechselte Dagmar das Thema und wies auf einen Brief, der neben seinem Teller lag.

Scherrer nahm den Brief und öffnete ihn. Interessiert las er ihn durch. „Eine Einladung zu einer besonderen Ausstellung. Das Grab eines ägyptischen Heilers wurde gefunden. Man lädt mich zur Öffnung des Grabes ein. Nubi sprach bereits am Telefon mit mir darüber.“

„Es beginnt“, sagte Dagmar.

„Was beginnt?“

„Ihr seid dabei, Türen zu öffnen, die besser geschlossen blieben. Irgendwie sind wir beide in das Geschehen mit einbezogen. Aber ich weiß nicht wie und warum. Gestern habe ich in deinem Arbeitszimmer auf dich gewartet.“

„Entschuldige, dass ich dich warten ließ“, bat Scherrer und trank einen Schluck Kaffee. „Ich habe den Rauch deiner Zigarette gerochen.“ Er verschwieg, dass er vom Garten aus gesehen hatte, wie lange sie gewartet hatte.

Dagmar lächelte ihn an. „Als ich gestern auf dich wartete, hatte ich das Gefühl, nicht die Einzige zu sein. Auch andere tun das. Es wundert mich nicht, dass du gerade jetzt nach Ägypten eingeladen wurdest. Wirst du fliegen?“

„Ich will das Ergebnis des Arztbesuches abwarten“, antwortete Scherrer.

Schweigend aßen beide ihren Toast und vermieden es dabei, sich anzusehen.

„Du wirst fliegen“, unterbrach Dagmar das Schweigen und fügte hinzu: „Ich weiß es.“

8. KAPITEL

Sybille wachte erst auf, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Aber wo war sie? Wie war sie in ihr Schlafzimmer gekommen? Was war geschehen? Sie lag in ihrem Bett, sorgfältig zugedeckt.

Sie sprang aus dem Bett. „Bin ich das?“, fragte sie sich unwillkürlich, als der große Spiegel an der Wand eine schöne, junge, unbekleidete Frau zeigte. Es hat sich nichts verändert und ich weiß nicht, was geschehen ist. Hatte sie ihn geliebt? War sie gut im Bett? Wie war er nun als Liebhaber? Sie wollte ihn doch auf die Probe stellen. Er sollte zeigen, wer er war, wenn er sich auf ein Bettabenteuer einlassen wollte. Aber er hatte genossen, sich entzogen und die Fäden in der Hand behalten. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass sie ihn geküsst hatte, aber dann … Dann war alles ein Traum, der ein wunderbares Gefühl hinterlassen hatte, aber nicht mehr.

„Alle Achtung, Professor, du bist ein Meister“, sagte sie, „und du, Sybille, warst eingebildet genug, zu glauben, ihm gewachsen zu sein. Hoffentlich hast du ihm wenigstens gefallen.“

Sie prüfte ihre Figur vor dem Spiegel. Am besten würde sie nichts essen. Das Telefon läutete. Sie nahm ab und hörte die Stimme ihres Chefs. „Frau Walter, wie weit sind Sie mit Scherrers Interview? Gab es neue Erkenntnisse, eventuell eine Sensation?“

Sybille sah den Hörer an, als sei er eine giftige Schlange, und legte einfach auf. Dann ging sie unter die Dusche und als die warmen Wasserstrahlen an ihrem Körper hinunterrannen, fühlte sie eine zärtliche Berührung, aber nicht mehr, keine Einzelheiten … nur die zarte Berührung. Sie stellte die Dusche auf kalt und die Kälte rief sie in den Tag zurück. Rasch kleidete sie sich an und fuhr ins Büro.

Dort erwartete man sie bereits. „Eben war ein Bote vom Institut hier. Sie haben Ihre Unterlagen liegen lassen“, sagte die Sekretärin und gab ihr einen dicken Briefumschlag.

Beim Öffnen fiel ein kleiner Zettel heraus. „Vielen Dank für einen schönen Abend und eine einmalige Nacht!“ Keine Unterschrift, aber mit der Hand fein gestochen geschrieben. Natürlich war die Nacht einmalig. Es würde keine Wiederholung geben, das hatte sie von Anfang an gewusst. Es war auch nicht als Beziehung gemeint, und trotzdem tat es weh, das so zu lesen.

Sie nahm die Blätter heraus. „Interview Professor Scherrer durch Sybille Walter“ stand in dicker Überschrift über dem Computerausdruck. Mit wachsendem Staunen las sie das Protokoll der Gespräche, die sie geführt hatten. Alle Fragen und Themen waren bereits fertig ausgearbeitet! Wie hatte der Professor das gemacht? Mit einem Tonband, das er seiner Sekretärin gab? Sogar ein Bild war beigelegt: Scherrer in seinem Arbeitszimmer. Ein sehr privates Bild, das noch nie veröffentlicht worden war. Sie drehte es um. „Für Sybille Walter“ stand dort in seiner schönen Handschrift.

„So nicht, Professor Scherrer, so nicht!“, sagte Sybille ärgerlich zu sich und setzte sich an ihren Schreibtisch. „Sie sind ein Zauberer und ein großer Mann, aber ich werde meinen eigenen Weg gehen!“

Zuerst wollte sie alles zerreißen, doch dann gab sie die Seiten über den Scanner in den Computer ein und arbeitete den ganzen Tag an Sätzen und Formulierungen. Am Abend überspielte sie das Ergebnis auf den Redaktionscomputer. Es mochte nun gut sein oder nicht. Das war alles, was sie konnte. Langsam gingen die Lichter an, als sie auf die Straße trat. Ziellos wanderte sie durch die Stadt und stand plötzlich vor dem alten Botanischen Institut.

Halt, Sybille, das darf dir nicht passieren! Sie fuhr wie aus einem Traum auf. Aber ich vermisse ihn, gestand sie sich.

„Das wird jetzt immer so sein“, sagte eine leise Stimme in ihr. „Der Preis war nicht die eine Nacht, der Preis war ein Stück von deinem Leben, das du nie vergessen wirst. Jetzt tut es weh, aber der Schmerz wird leiser, nur vergessen wirst du ihn nie.“

Sie wandte sich ab, bestieg die Bahn und fuhr zu ihrer Wohnung. Über ihre Wangen liefen Tränen. Scherrer stand oben am Fenster des Institutes und schaute in die Nacht. Er hatte darauf gewartet, dass sie kommen würde, vielleicht auch damit, dass sie ihm eine Szene machen würde. Vielleicht hatte er das sogar gehofft. So sah er, wie sie in die Bahn stieg und aus seinem Leben davonfuhr.

„Wir werden uns nicht wiedersehen, Sybille, und wenn doch, dann wird alles anders sein. Ich danke dir.“ Seine Worte prallten an den Fenstern ab. Sein Institut war seine Welt, aber auch sein Gefängnis. Hier wurde Großes gedacht und vollbracht, aber gegen Alter und Tod gab es noch kein Mittel, und er spürte, wie sehr er sich gerade danach sehnte. „Dafür würde ich jeden Preis zahlen“, flüsterte er in die Nacht. „Auch den Preis des Verzichtes auf das Leben, wie ich es bisher geführt habe, der Verzicht auf Liebe inbegriffen.“ Er fröstelte und trat vom Fenster zurück. Die Arbeit wartete.

9. KAPITEL

An der Wand hingen die Genkarten von Arabidopsis. Die bisherigen Ergebnisse der Forschung waren eingezeichnet. Im Lichtkegel des Mikroskops lagen einige grüne Arabidopsiszellen. Noch war ihnen nichts anzusehen. Anne befestigte die Videokamera auf dem Mikroskop und stellte sie genau ein. „Das wird kein spannender Film“, sagte sie zu Dr. Meyer, „aber ich möchte wissen, wie sich die Zellen ändern, wenn sie die Todesbotschaft bekommen.

„Im Schnelldurchlauf erkennen wir vielleicht etwas“, sagte Meyer. „Ich habe im Internet einen Hinweis auf Alterungsenzyme gefunden und sie besorgt. Es sollen Stoffe sein, die Zellen ganz unspezifisch altern lassen. Ob das die Botenstoffe sind, die den Tod der Pflanzen einleiten?“

„Ich werde einige Gewebeabschnitte damit behandeln und dann wissen wir mehr“, sagte Anne und bestrich Gewebeproben mit der neuen Flüssigkeit, kontrollierte noch einmal die gesamte Versuchsanordnung und ließ die Kamera anlaufen. „So muss es klappen. In drei Stunden wechseln wir die Kassette.“ Sie ging an ihren Arbeitsplatz zurück. „Die Beobachtung wird noch nicht ausreichen. Wir müssen wissen, was sich in der Zelle ändert“, sagte sie. „In zerkleinertem Zellgewebe müssten sich auch chemische Änderungen nachweisen lassen. Was meinen Sie, Dr. Meyer? Änderungen im pH-Wert oder in der Sauerstoffkonzentration? Das könnten Hinweise auf die chemischen Prozesse in der Zelle sein. Erst wenn wir das verstanden haben, können wir die vermuteten Gene suchen.“

Sie wartete Meyers Bestätigung nicht ab, sondern nahm von den vielen Arabidopsispflanzen, die auf der Fensterbank standen, gezielt Blätter, die bereits deutlich abstarben. Ein kleiner Mixer zerrieb die Pflanzen zu einem grünen Brei. Anne verteilte das Mus auf zwei kleine Kolben. In den einen hängte sie eine pH-Messanlage, in den zweiten eine Elektrode zur Sauerstoffmessung. Beide Geräte schaltete sie an ihren Computer.

„Wie weit sind Sie, Dr. Meyer?“, fragte sie, während sie auf dem Bildschirm die Funktion und die Speicherung überprüfte.

Meyer sah von seiner Arbeit auf. „Noch ist makroskopisch nichts zu sehen“, sagte er. „Ich bereite gerade Feinschnitte vor, in denen man vielleicht schon etwas erkennen kann.“

Mit dem Mikrotom schnitt er feine Streifen von Blättern und legte sie unter das Mikroskop. Die Blattzellen waren deutlich zu erkennen. In der Epidermis färbten sich einige Zellen braun. „Frau Neidhardt, kommen Sie doch bitte mal“, rief Meyer erfreut, „ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Die Epidermis verfärbt sich. In diese Bereiche ist das Enzym zuerst eingedrungen.“

„Moment“, sagte Anne, „hier bei mir tut sich auch etwas.“ Auf dem Computer begannen Zahlenreihen zu laufen. „Der pH-Wert der Lösung ändert sich rapide! Parallel dazu verändert sich auch der Sauerstoffgehalt der Probe.“ Staunend verfolgte Anne die Anzeige auf ihrem Bildschirm. „Ich dachte, die Sauerstoffkonzentration in den Zellen würde abnehmen und damit zu einem Erstickungstod führen“, sagte sie, „aber die Konzentration nimmt zu! Wie ist das zu erklären?“

Meyer verfolgte mit ihr die Zahlenreihen auf dem Bildschirm. „Erstaunlich“, sagte er. „Jetzt sinkt die Sauerstoffkonzentration, wie wir es erwartet haben, wieder ab!“

„Wir müssen das Experiment mehrfach wiederholen“, sagte Anne, „aus einem Versuch kann man noch keine Theorie ableiten. Wir wissen nicht, welche besonderen Versuchsbedingungen vorlagen.“

Aber es blieb dabei. Auch der fünfzigste Ansatz zeigte vergleichbare Werte. Die Sauerstoffkonzentration stieg beim Absterben in den Zellen rapide an und fiel erst nach einiger Zeit, wie sie es erwartet hatten. Anne versuchte, die Ergebnisse zu verstehen.

„Ich stelle die Daten mal als Kurve dar“, sagte sie. Auf dem Bildschirm erschien eine rote Linie in einem Koordinatensystem. In dieser Darstellung wurde der Verlauf deutlicher. Zuerst stieg der Sauerstoffgehalt plötzlich an, hielt sich eine Zeit auf hohem Niveau und erst dann sank der Sauerstoffgehalt wie erwartet rapide ab.

„Ich glaube, ich verstehe den Vorgang“, meinte Meyer nachdenklich. „So viel freier Sauerstoff muss in der Zelle alles zerstören. Das verträgt keine Zelle.“

„Wenn das so vorgesehen ist“, sagte Anne und stützte den Kopf auf beide Hände. „Was ist der Tod anders? Das geordnete Gefüge der Zelle wird zerstört und sie kann nicht mehr arbeiten. Leben verläuft in geordneten Vorgängen, Nicht-Leben bedeutet chemische Prozesse, wie sie überall in der Natur ablaufen. Sie ähneln den Lebensprozessen, laufen aber unkontrolliert ab.“

 

„Da haben wir wahrscheinlich schon des Rätsels Lösung“, sagte Meyer. „Die Änderung des pH-Wertes geht in gleiche Richtung. Die Zellflüssigkeit hat einen pH-Wert, bei dem die Enzyme ideal arbeiten können, aber er kann auch nur durch komplexe Vorgänge so gehalten werden. Um das zu erreichen, sind Steuerungen notwendig. So etwas leisten nicht einmal Pufferlösungen. Wenn das vermutete Todesgen nun eben diese Steuerung abschaltet?“

„Dann laufen normale chemische Prozesse ab. Die Abbauprodukte in der Zelle werden nicht mehr entfernt und sie zerstören die Zelle.“

„Wie in einer chemischen Fabrik, in welcher der Zentralcomputer ausfällt. Dann wird die Wärme nicht mehr abgeführt und die Abfallprodukte können nicht entsorgt werden. Eine solche Fabrik muss sich früher oder später selbst zerstören.“

„Damit haben wir eine Theorie aufgestellt“, sagte Anne. „Wir fanden bei früheren Versuchen heraus, dass die Katalase den freien Sauerstoff aufarbeitet. Die Änderung der Katalasekonzentration müsste auch nachweisbar sein.“

„Überprüfen wir das“, schlug Meyer vor.

Die Ergebnisse waren eindeutig. Die Konzentration der Katalase fiel in der Lösung plötzlich stark ab, um kurze Zeit darauf wieder auf einen annähernd normalen Wert anzusteigen.

„Nun haben wir den Mechanismus verstanden, mit dem das Todesgen die Zelle zum Absterben bringt“, sagte Anne. „Wie ein Terrorist schaltet sie kurzzeitig die Katalaseproduktion auf null. Damit wird der Sauerstoff frei und kann sein Zerstörungswerk beginnen. Die nun ablaufenden chemischen Prozesse zerstören die Zelle.“

„Tod vollzieht sich sowohl in einem Augenblick als auch in einem Prozess“, sagte Meyer. „Jemand legt den Schalter kurz um und dann ist es geschehen. Wir müssen nun das Gen suchen, das wie dieser vermutete Schalter wirkt.“

An der Wand hingen die Genkarten von Arabidopsis. Lange Streifen mit schwarz-weißem Muster, eng beschrieben mit schwarzen und weißen Feldern. An vielen Bereichen waren Klammern mit Bezeichnungen: Gene für die Blattfarbe, Blattgröße, die Behaarung der Blätter, die Ausprägung der Wurzeln, Blütenfarbe …

„So viele Bereiche kennen wir schon“, sagte Anne und betrachtete die Genkarten. „Aber wo versteckt sich das Todesgen?“

„Morgen ist auch noch ein Tag“, meinte Meyer.

Die Tür ging und Anne war allein. Die Sonne sank über der hohen Häuserfront der Kaiserstraße. Anne ergriff eine seltsame Traurigkeit. Wofür arbeite ich eigentlich?, dachte sie. Was suche ich? Ein Todesgen? Oder Erfüllung? Ist nicht alles so sinnlos? Deutlich hob sich die St. Bernhardkirche vom hellen Hintergrund des Himmels ab. Die Gedanken erdrückten Anne. Sie setzte sich ans Fenster und sah einfach hinaus. Überall gingen die Lichter an. Die Straßenbahnen ratterten vorbei, der Lärm des Verkehrs brandete zu ihr hoch. Die Turmuhr von St. Bernhard begann zu schlagen und dann fiel das Geläut der anderen Kirchen ein. Anne blieb am Fenster sitzen und überließ sich ihren Gedanken.

„Sie sind noch an der Arbeit?“, fragte jemand.

Erschrocken drehte sich Anne um. Scherrer stand in der Tür. Er trug noch seinen weißen Labormantel. Sie stand verwirrt auf.

„Frau Neidhardt“, sagte Scherrer. „Ich mache nur meinen abendlichen Kontrollrundgang. Aber da Sie noch hier sind, darf ich sicher neugierig sein. Wie weit sind Sie mit den Forschungen gekommen?“

„Ach, Herr Professor, Sie wissen doch, wie mühsam das ist“, sagte Anne. „Hier habe ich die Genkarten aufgehängt und alles eingetragen, was wir bisher gefunden haben. Es sind Bereiche dabei, die etwas mit einer inneren Uhr zu tun haben. In diesen Abschnitten suche ich das Todesgen.“

Scherrer hüstelte. Er ging an die Karten und sah sich die Eintragungen an. „Das sind die Bereiche, welche die Lebenszeiten bestimmen?“, fragte er.

„Ja“, bestätigte Anne. „Das sind die Gene, welche für die Blatt- und Blütenentwicklung verantwortlich sind. Diese hier sind für die Fruchtbildung zuständig.“ Anne zeigte auf die entsprechenden schwarzen Bereiche in den Genkarten.

„Ich glaube, Sie sind auf der richtigen Spur“, sagte Scherrer. „Hier habe ich einen besonderen Schatz für Sie.“ Seine blauen Augen leuchteten vor Stolz. „Natürlich arbeiten nicht nur wir an Arabidopsis. Amerikanische Institute forschen genauso an dieser Pflanze und sind uns in vielen Bereichen voraus.“ Anne nickte zustimmend. „Heute kam ein Bericht.“ Scherrer zog mehrere Seiten eines Computerausdrucks aus seinem Kittel. „In dieser Arbeit geht es um das Problem, welche Steuerungsmechanismen die Schoten von Raps öffnen. Selbst das ist genetisch festgelegt.“

„Dieser Vorgang ist ganz eng mit dem Absterben der Pflanze verbunden“, sagte Anne aufgeregt. „Wo liegt der genetische Bereich?“

„Geduld, Geduld“, mahnte Scherrer. „Hier steht es: Die vorzeitige Öffnung der Schoten beim Raps führt zu 20 % Ernteverlusten. Zur genetischen Regulation der Fruchtöffnung liegen erste Befunde vor. Es wurden nun zwei Gene identifiziert, die für die Öffnung der Schoten verantwortlich sind. Die Wirkung der Gene ist redundant, eine Mutation in nur einem führt also nicht zu einem veränderten Phänotyp. Solche Redundanzen findet man nicht selten bei Genen, die wichtige Entwicklungsvorgänge kontrollieren; hierdurch wird der richtige Ablauf des Vorgangs besonders gesichert. Wenn beide Gene mutiert sind, unterbleibt die Verholzung der Fruchtblattwandung und es wird kein Trenngewebe ausgebildet, sodass sich die Schote nicht öffnen kann. Durch Ausschaltung der SHP-Gene könnte eine vorzeitige Schotenöffnung vermieden werden. Dies könnte rasch über transgene Pflanzen oder langsamer durch klassische Züchtung erreicht werden.“

Scherrer ließ das Blatt sinken. „Denken Sie an die großen Kulturpflanzen“, sagte er leise, „an Mais, Baumwolle, Raps, Weizen, an die Pflanzen, welche die Menschen ernähren und kleiden.“ Anne sah ihn verwundert an. Scherrer spürte ihren Blick. „Ich dachte an ein Gespräch mit einem Kollegen“, erklärte er. „Man wies mich darauf hin, dass wir an den wichtigen Pflanzen arbeiten sollen.“

„Aber das tun wir doch“, meinte Anne. „Sehen Sie, so weit sind wir auch. In diesen Bereichen sind die MADs-box-Gene. Hier müssen auch die neu identifizierten Gene liegen. Waren auch Genkarten im Internet veröffentlicht?“

„Natürlich“, erklärte Scherrer. „Ich habe Ihnen alles mitgebracht. Schauen Sie es morgen durch. Die gleichen Abzüge liegen bei mir im Labor. Wenn Sie Ergebnisse oder neue Interpretationen haben, kommen Sie zu mir. Die Ausschaltung der Gene erscheint mir interessant und auch die Doppelfunktion gerade bei Entwicklungsgenen. Wir müssen also die jeweiligen Genbereiche auf den homologen Chromosomen suchen. Die Todesgene müssen auf beiden Genen in gleicher Weise vorhanden sein, denn Gene sind redundant. Sie werden nur dann wirksam, wenn sie auf beiden Chromosen vorhanden sind. So kann immer eins wirksam werden. Das ist nicht neu, aber bei diesen Genen ist gerade die Redundanz so entscheidend. Vielleicht könnte auch eine Veränderung an nur einem Gen die Aus- und Anschaltung der Todesgene möglich machen.“

Scherrer musste erneut in ein weißes Taschentuch husten. „Haben Sie einmal mit Dr. Meyer darüber gesprochen? Er scheint mir in diesen Bereichen besonders kompetent zu sein“, fragte er, als er wieder Luft bekam.

„Noch nicht“, erwiderte Anne viel abweisender, als sie es wollte, „aber danke für den Internetausdruck. Das wird uns erheblich weiterbringen.“

Scherrer gab ihr die Blätter und wünschte „Gute Nacht“. Sie ging mit ihm zur Tür und sah ihm nach, wie er durch die langen Gänge des Institutes ging. Unwirklich blau leuchteten rechts und links die Pflanzenkästen.

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