Träumen

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2.
Exkurs in die Schlafforschung und Neurobiologie der Träume

Die menschliche Fähigkeit zu träumen ist psychophysisch hochkomplex. Es ist ebenso interessant wie hilfreich, sich einige grundlegende Zusammenhänge dieses Geschehens klarzumachen. Ich bin kein Spezialist in neurologischen Fragen. Deshalb werde ich mich mit den neurobiologischen Zusammenhängen nur so weit befassen, wie es mir für den Zusammenhang dieses Buches relevant erscheint.9

2.1 Ein Blick auf die Schlafforschung

In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts hat die Traum- und Schlafforschung entdeckt, dass der nächtliche Schlaf sich in Rhythmen vollzieht. In regelmäßigen Abständen treten Schlafphasen mit raschen Augenbewegungen, die sogenannten REM-Phasen (Abkürzung für rapid eye movement) auf. Im REM-Schlaf zeigt sich im Gehirn eine hochfrequente Aktivität, die der im Wachzustand ähnelt. Deshalb bezeichnet man diese Schlafphase auch als „paradoxen Schlaf“. Während des REM-Schlafs ist eine vollkommene Entspannung der Muskulatur festzustellen mit Ausnahme der Atem- und Augenmuskulatur. Auf diese Weise kann die hohe Aktivität im Traumgeschehen nicht unbeabsichtigt in Körperbewegungen umgesetzt werden.

Die REM-Phasen, die zehn bis 60 Minuten dauern können, werden von den sogenannten Non-REM-Schlafphasen unterschieden. Ein gesamter Schlafzyklus, der beide Phasen umfasst, dauert ca. 90 Minuten. In der ersten Nachthälfte dominieren der Tiefschlaf-, gegen Ende der Nacht die REM-Phasen. Die Non-REM-Schlafphasen sind von unterschiedlich tiefem Schlaf gekennzeichnet. Mit zunehmender Schlaftiefe sinkt in der Non-REM-Phase die Herzfrequenz ab. Die Schlafforschung hat inzwischen festgestellt, dass wir sowohl in REM-Phasen als auch in Non-REM-Phasen träumen, dass die Träume in den beiden Phasen jedoch eine deutlich andere Qualität haben: Während Träume in der REM-Phase lebendig, bildhaft, emotional und häufig mit dem Vorherrschen des Visuellen verbunden sind, erscheinen Träume in der Non-REM-Phase kürzer, rationaler und logischer aufgebaut. Letztere sind dem Wachdenken ähnlicher.

Zu Testzwecken wurden Schläfer über mehrere Nächte hinweg konsequent geweckt, wenn das EEG (Elektroenzephalogramm) den Beginn eines Traumes anzeigte. Dabei zeigte sich: Wird eine Person über längere Zeit am Träumen gehindert – wohl gemerkt am Träumen und nicht am Schlafen –, treten bei Tage zunächst Ängste, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, bei längerer Traumverhinderung dann Bewusstseinsstörungen und Halluzinationen auf. Die Testpersonen wurden mehr und mehr depressiv. Die Gefahr, bei einem Verkehrs- oder Arbeitsunfall zu verunglücken, stieg um das 2,5-Fache. Nach etwa spätestens sieben Nächten mit andauerndem Traumentzug erfolgte ein totaler seelischer Zusammenbruch, dem Zustand einer Psychose vergleichbar. Ohne eine lebensbedrohliche Gefährdung der Versuchspersonen zu riskieren, ließ sich das Experiment nicht fortsetzen.

Weiter konnte festgestellt werden, dass diese Personen nach Beendigung der Testphase in den Nächten nach dem Traumentzug eine vermehrte Traumaktivität aufwiesen; in den ersten Nächten stiegen die Traumphasen von vorher 19 auf 28 Prozent. Die Versuchspersonen verschafften sich also, vereinfacht formuliert, so etwas wie einen Ersatz für die in der Nacht zuvor gestohlenen Träume.

Diese Versuche machen auf eindrückliche Weise deutlich, dass die Traumtätigkeit einen Sinn haben muss. Sie ist eine psychische Notwendigkeit für eine Bewusstseinsklarheit im Wachzustand. Allgemeiner gefasst: Körperliches Ausruhen im Schlaf und Träumen sind nicht dasselbe. Das Träumen ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung des seelischen Gleichgewichts. Das gilt selbst dann, wenn die Träume nicht erinnert werden können.

2.2 Der neurobiologische Hintergrund von Träumen

Machen wir uns nun noch einige neurobiologische Zusammenhänge klar, die die Traumforschung herausgefunden hat:

Wir wissen heute, dass der Wach- und der Schlafzustand von zwei verschiedenen Gehirnzentren gesteuert werden, die beide im Hirnstamm, dem ältesten Teil des Gehirns, lokalisiert sind. Im Wachzustand ist das Wachzentrum aktiv. Es bewahrt uns, solange es aktiv ist, vor dem Einschlafen. Solange dies geschieht, haben wir auch Zugang zu unserer Motorik. Im Schlafzustand dominiert das Schlafzentrum. Im Schlaf bestehen andere neuronale Verbindungen zwischen einzelnen Hirnregionen und -funktionen als im Wachzustand. Dies möchte ich jetzt skizzieren, weil diese neurobiologischen Einsichten helfen können, ein vertieftes Verständnis für die Bedeutung von Träumen zu erschließen. Am Träumen sind nach Michael Ermann10 verschiedene Regionen des Gehirns beteiligt:

– Das Frontalhirn, also das Stirnhirn: Hier befindet sich in der weißen Substanz oberhalb der Augenhöhlen ein Bündel von Nervenfasern, von dem aus die Traumtätigkeit durch Ausschüttung der Überträgersubstanz Dopamin in den übergeordneten Hirnregionen ausgelöst wird. Diese Substanz motiviert das, was ganz allgemein als Begehren, also die Libido, bezeichnet werden kann. Die Region des Frontalhirns kann man als Motivationssystem bezeichnen.

– Die beiden seitlichen Partien des Gehirns oberhalb der Ohren, die Temporallappen: Hier befindet sich die Region, in der Wahrnehmungen zu Gedanken und Erinnerungen weiterverarbeitet und wieder abgerufen werden können. Sie gelten als das Gedächtnis- und Wahrnehmungssystem.

– Das Zwischenhirn im Innern, das den Hirnstamm mit dem Neuhirn (der Hirnrinde) verknüpft: In dieser Region sind vornehmlich der Hippocampus, der die Form eines Seepferdchens hat, und die Amygdala, der Mandelkern, an der Gestaltung von Träumen beteiligt, die zum Beispiel für die Affektivität in Träumen zuständig sind. Man kann auch von einem Emotionssystem sprechen.

Es zeigt sich also, dass die psychologisch bedeutenden Gehirnregionen des Begehrens, der (emotionalen) Verarbeitung von Informationen und der Verwaltung der Erinnerungen an Erfahrungen an der Traumentstehung maßgeblich beteiligt sind und hoch differenziert zusammenwirken. Parallel dazu sind die für die motorische Aktivierung zuständigen Regionen beim Träumen deaktiviert.

Neurophysiologisch betrachtet kann man das Gedächtnis als einen dynamischen Zustand von elektrisch messbarer Aktivität verstehen. Träumen führt zu Veränderungen dieses Zustandes, indem funktionelle Verknüpfungen aktiviert oder neu geschaffen werden. Die biologische Basis ist der Transfer von elektrischer Aktivität zwischen den Nervenzellen. Träumen (und Entsprechendes gilt auch für das Lernen) bewirkt eine Veränderung der elektrischen Potenziale des Gehirns. Diese Änderungen können von langer Dauer sein, sind aber zugleich auch veränderbar. Das Gehirn befindet sich demnach – und das gilt auch für die Gehirnaktivität beim Träumen – auf der einen Seite in einem Zustand von relativ hoher Konstanz, auf der anderen Seite kommt es kontinuierlich zu Neuverschaltungen in den Synapsen. Darin ist begründet, dass es bis ins hohe Alter möglich ist, zu lernen.

Veränderung ist einerseits Zuwachs an Neuverschaltungen in den Synapsen, andererseits bedeutet sie Umbau vorhandener Verschaltungen. Durch neue neuronale Verknüpfungen findet im Gehirn während des Schlafs eine sukzessive Umorganisierung statt. Das Träumen verändert also das Gehirn, und diese Veränderung hat wiederum Auswirkungen auf das Träumen. Solche Veränderungen geschehen das ganze Leben lang. Allerdings geschehen sie sehr langsam. Aus diesen Einsichten ergibt sich für das Verständnis der Funktion von Träumen, dass sie als eine besondere Form des Lernens zu sehen sind, die das Gedächtnis sukzessiv modifiziert.

Für das Verstehen der Bedeutung unserer Traumfähigkeit ist die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Gedächtnisaktivitäten wichtig:

– das prozedurale (auch „implizite“) oder „Prozessgedächtnis“

– das deklarative (auch „explizite“) oder „Inhaltsgedächtnis“.

Das prozedurale Gedächtnis enthält Wissen über das Wie von Informationen, das deklarative über das Was. Beim Träumen werden zwar beide Arten von Informationen aufgerufen, es überwiegen jedoch diejenigen des impliziten Prozessgedächtnisses. Der Traum interessiert sich sozusagen mehr für die Informationen über das Wie, also den Modus von Erfahrungen, Handlungen und Beziehungen. Diese Informationen sagen uns, „wie etwas geht“ oder wie man etwas macht, zum Beispiel wie man lernt, spricht oder sich in Beziehung setzt. Dieses „selbstverständliche“ Wissen haben wir uns irgendwann zum Teil in frühester Kindheit angeeignet und wissen doch nicht, wo und wie. Das implizite Gedächtnis arbeitet nicht begrifflich, sondern es ist in somatisch-affektiven Zuständen strukturiert. In ihm lagert auch der wesentliche Teil des Beziehungswissens, das durch frühe Entwicklungsprozesse und Bindungserfahrungen mit den Eltern angelegt ist. Beim Träumen ist das gesamte limbische System mit der Amygdala hoch aktiv. Darin liegt, neurologisch betrachtet, der grundlegende Bezug des Traumes zur Emotionalität begründet. Diese Regionen sind unter anderem für die Basisemotionen wie zum Beispiel Lust, Wut, Furcht, Panik verantwortlich.

Was sagen diese Einsichten über die Bedeutung unserer Fähigkeit zu träumen? Die neurobiologische Funktion der Träume ist in zweifacher Hinsicht zu bestimmen:

Zum einen besteht der wesentliche Nutzen der Träume in der Steigerung der Lern- und Gedächtnisleistung. Schlaf und Traum haben Bedeutung für die Lernfähigkeit und die Gedächtnisbildung. Während des Tages Gelerntes wird nur im Schlaf sicher ins Langzeitgedächtnis überführt und damit wirklich dort integriert. Der Hippocampus, der vielfältig mit dem unser Denken ermöglichenden Kortex verknüpft ist, aktiviert im Schlaf die tagsüber gelernten Inhalte und leitet sie an die Hirnrinde weiter. In dieser internen Nachverarbeitung werden die im Hippocampus nur temporär bewahrten Engramme in den Langzeitspeicher des Kortex überführt. Zugleich werden dabei nicht mehr benötigte Daten gelöscht, was zur Entlastung des Gedächtnisspeichers führt. Spitzer drückt es bildhaft aus: „Der Hippocampus fungiert im Schlaf als Lehrer des Kortex.“11

 

Zum andern besteht der Nutzen des Traumes in der emotionalen Neubewertung und Bearbeitung von bereits bestehenden Inhalten. Im Traum können Informationen aus ganz verschiedenen Wahrnehmungs- und Erinnerungsbereichen miteinander neu verknüpft werden. Im Schlaf und Traum herrscht daher eine andere Logik und eine andere Affektivität als im Wachen, die uns nach dem Aufwachen häufig fremd erscheinen. Weil im Traumzustand andere Informationen zugänglich sind, die im Wachzustand nicht zur Verfügung stehen, entwickelt das Gehirn im Traum andere Verarbeitungsstrategien als im Wachzustand. Alte und neuere negative affektgeladene Erfahrungen werden auf diese Weise zur „Wiedervorlage“ gebracht, verarbeitet und gespeichert. Dabei werden neue Zusammenhänge innerhalb des vorhandenen Wissens und Sinngebungen von Erfahrungen möglich und zugänglich. In solchen Prozessen können Kindheitserinnerungen mit gegenwärtigen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden. Der Schlafende kann auf diese Weise über einen längeren Zeitraum seine Biografie mehrmals durchgehen. Diese Einsicht ist für die Verarbeitung von psychischen Verletzungen und traumatischen Erfahrungen bedeutsam: Träume sind dafür heilsam und lebensnotwendig. Außerdem können so zukünftige Handlungsmuster und -varianten, Entwicklungsrichtungen der Persönlichkeit und schöpferische Ideen entstehen. Neues kann in diesem Prozess zum Vertrauten werden. Von daher kann man das Träumen mit gutem Grund als Gedächtnisarbeit im Schlaf bezeichnen, in dem wichtige Lernprozesse ablaufen. So trägt der Traum dazu bei, die Anpassung an neue Situationen zu verbessern, psychisches Wachstum zu fördern und weitergehende Entwicklungsschritte zu ermöglichen.

Das eine oder andere Ergebnis, das das nächtliche Kopfkino in den vielschichtigen neuronalen Prozessen im Traum hervorbringt, kann und will im Wachzustand fruchtbar werden, indem es vom Bewusstsein aufgegriffen wird. Das soll in den kommenden Abschnitten entfaltet werden.

3.
Verschiedene Wege der Traumdeutung

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Träumen hat vor über hundert Jahren begonnen. Das heißt jedoch nicht, dass die Jahrhunderte davor Träume nicht beachtet worden wären – ganz im Gegenteil. Was all den älteren Traumlehren gemeinsam war, ist ihr zumeist überindividueller Ansatz; das wird uns noch in Abschnitt 6.1 beschäftigen. Sie alle betrachten Träume als Ausdruck transzendenter, schicksalhafter oder mystischer Kräfte. Man sah die Träumenden als Sprachrohr jenseitiger oder überzeitlicher Botschaften. Mögliche individuelle Motive wurden selten in den Blick genommen, weil sie als nicht relevant angesehen wurden. Das Gemeinsame der überindividuellen Traumtheorien ist, vereinfacht formuliert, dass die Träume gleichsam ohne den Träumer gedeutet wurden.

Unter Punkt 1.2 wurde dargelegt, dass ein seelsorglicher Umgang mit Träumen in psychologischer und theologischer Hinsicht sachgerecht sein soll. Soll er in psychologischer Hinsicht sachgerecht sein, muss er die psychologischen Ansätze im Umgang mit Träumen in den Blick nehmen. Dies soll in den folgenden Abschnitten geschehen, indem eine kurze Darstellung der prägenden Schulen gegeben wird. Es kann dabei nur um eher skizzenhafte Einblicke in die Kernanliegen einiger prägender Ansätze gehen, um beispielhaft mitvollziehbar zu machen, welche Ansätze hinter dem hier vorgestellten Umgang mit Träumen stehen.

3.1 Sigmund Freud (1856–1939)

Freud steht für die älteste und damit längste Tradition der modernen professionellen Beschäftigung mit Träumen.12 Er blickte als Arzt auf den Traum und nahm ihn vorwiegend in seinen Bezügen zur seelischen Krankheit wahr. Das Verständnis der Träume ist bei Freud Teil des von ihm entwickelten Gesamtkonzeptes der Psychoanalyse. In diesem Gesamtrahmen stellte er die Entstehung, Funktion und Bedeutung von Träumen auf eine theoretische Grundlage.

Freud war der Ansicht, dass der Ursprung der Träume die halluzinatorische Erfüllung unbewusster sexueller Wünsche wäre. Der Traum würde dafür Symbole verwenden, die den Träumenden die ganze Unerfreulichkeit all ihrer primitiven sexuellen und aggressiven Triebe verbergen wollten. Um die Träumenden vor der Dynamik der verbotenen andrängenden sexuellen Triebe zu schützen, fungiert, Freud zufolge, der Traum, der im Vorbewussten zwischen den triebhaften Teilen des Unbewussten und dem Bewusstsein liegt, als „Hüter des Schlafes“. So bietet der Traum die von Scham besetzten Wünsche nur verschlüsselt dar. Dabei kommt es im Traum zu Symbolbildung, Dramatisierung, Verschiebung (eine Person in der Realität kann durch eine andere ersetzt werden), Verdichtung (zwei getrennte Situationen/Personen können durch eine einzige repräsentiert werden), Umkehrung (ein Mann kann z. B. durch eine Frau dargestellt werden oder umgekehrt) und zur Umwertung von psychischen Werten. Ein Symbol kann also für etwas ganz anderes, ja sogar Gegenteiliges stehen und so den Träumer täuschen. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Freud zwischen dem manifesten, also offenkundigen, und dem latenten, also verborgenen Trauminhalt, wobei für ihn der latente Trauminhalt das eigentliche Traumthema enthält, das jedoch unbewusst bleibt. Im manifesten Traum erscheint der latente Trauminhalt zensiert, also von der unbewussten Traumzensur unkenntlich gemacht.

Kennzeichnend für die psychoanalytische Traumdeutung ist die freie Assoziation: Der Träumer soll spontane Einfälle zum Thema und zu den Gestalten des Traums äußern. Auf diese Weise vermag Freud auch Details der Träume in der Deutung zu erfassen. Er leitet so zur Begegnung der Träumenden mit ihrem Traum von innen her an. In der Assoziation und ihrer Deutung durch den Therapeuten ereignet sich die Spurensuche vom manifesten zum latenten Trauminhalt; das ist für Freud die eigentliche Traumarbeit als „Via Regia“ (Königsweg) zum Unbewussten.

Was ist nun zum psychoanalytischen Umgang mit Träumen zu sagen?

Der auf den einzelnen Träumer zentrierte Ansatz hat in jedem Fall seine volle Berechtigung; er ermöglichte einen grundlegend neuen Umgang mit Träumen. Das Verständnis des menschlichen Seelenlebens wurde dadurch enorm vertieft. Freud hat das Verständnis für das Unbewusste angestoßen.

Nehmen wir die Grenzen dieses Ansatzes in den Blick, so sind fünf zu nennen:

– Für Freud bleibt der Träumer auf den Fachmann angewiesen. Ohne die „detektivische“ Arbeit des Psychoanalytikers ist das tiefere Anliegen des Traums kaum zu erkennen. Dabei kann ein heikles Machtgefälle entstehen: Der Träumer ist dem deutenden Fachmann in gewisser Weise ausgeliefert und es entsteht eine Abhängigkeit zum Experten, wenn der Träumende die „richtige“ Deutung seines Traumes erfahren will.

– Der sogenannte manifeste Traum hat nach Freuds Lehre zumeist eine andere Bedeutung als der sogenannte latente Trauminhalt: Dagegen zeigt es sich in der Praxis der Traumdeutung, dass der von Freud als manifest bezeichnete Trauminhalt gerade der eigentliche Inhalt ist. Die Theorie der Verhüllung in Traumbildern hatte geradezu einen schädlichen Einfluss auf den Umgang mit Träumen, weil sie die Vorstellung verbreitete, Träume seien darauf aus, uns zu täuschen. Wie starr das psychoanalytische Verständnis des Traumes werden kann, zeigt die Äußerung Fritz Morgenthalers: „Das, was im manifesten Traum erinnert wird, kann niemals der Ausdruck des Unbewussten sein.“13 Mit einer solchen starren Theorie tut man den Träumen Gewalt an. Der Traum verbirgt nicht das, was er sagt, sondern er „entbirgt“ es in seinen Symbolen und Szenen; er täuscht nicht, sondern offenbart Wahrheit. Verschleierung ist eher eine Funktion der wachen Psyche, nicht die des Traumes.

– Fragen ergeben sich auch im Hinblick auf eine von Freud intendierte einseitige sexuelle Auslegung der Träume: Sicher kommen sexuelle Symbole immer wieder zur Sprache. Aber die Traumdeutung einseitig auf die Verdrängung sexueller Wünsche hin auszurichten, ist für viele Träume unangemessen.

– Freud hat die kausale Annäherung an Träume ins Zentrum seines Interesses gerückt, weil seine ganze psychologische Theorie sich auf das Es konzentriert. Das führt leicht dazu, den möglichen prospektiven, den auf das Zukünftige gerichteten Aspekt in den Träumen zu übersehen. Dieser ist häufig im Hinblick auf Entwicklungsmöglichkeiten der Träumenden sehr fruchtbar.

– Zu den Grenzen des freudschen Umgangs mit Träumen gehört schließlich seine Einstellung zur Religion. Diese Grenze ist gerade vor dem Hintergrund der seelsorglichen Fragestellung dieses Buches zu erwähnen. Es ist, wie weiter unten dargelegt werden wird, sehr angemessen, für religiöse Aspekte in den Träumen bewusst offen zu sein.

3.2 Alfred Adler (1870–1937)

Blickte Freud in seiner Traumdeutung überwiegend in die biografische Vergangenheit des Träumers, interessierte sich Alfred Adler14 für die zukünftigen Ziele, die sich im Traum zeigen. Adler sieht im Traum eine Bewegung vom Heute zum Morgen und sieht die Beziehungsgestaltung der Träumer als fundamental. Der Begründer der Individualpsychologie befasste sich in diesem Zusammenhang schwerpunktmäßig mit dem Streben nach Macht, der Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls und der Bewältigung von Lebensaufgaben. Die Mischung dieser drei grundsätzlichen Lebensabsichten bildet das „Gemeinschaftsgefühl“ des Menschen; dieser Begriff ist für die Individualpsychologie grundlegend. Er ist individuell geprägt und wird in dieser Psychologie als der persönliche Lebensstil bezeichnet.

In diesem Rahmen interpretiert Adler die Träume: In seinem Umgang mit Träumen rückte Adler von Freuds Gedanken eines latenten Traumwunsches ab und verstand den manifesten Traum als Ausdruck des Lebensstils. Der Traum setzt den Lebensstil des Träumers in Szene. Man kann sagen, dass der Traum so etwas wie ein bildhafter Kommentar zur aktuellen Lebenssituation des Träumers darstellt. Entsprechend hat die Traumdeutung die Aufgabe, den Lebensstil der Träumenden, gleichsam das Bewegungsgesetz mit seinen in der Kindheit entwickelten Grundmustern, zu erschließen. So sagt der Traum für Adler zentral etwas über unser Denken, Fühlen und Handeln aus. Dabei kommen die Lebens-Grundüberzeugungen und die Ziele ans Licht, die etwas über die Ansichten des Träumers sagen, wie er sein Leben führt und Verantwortung wahrnimmt. Diese Lebens-Grundüberzeugungen können lebensfördernd oder – leider weitaus häufiger – lebensbehindernd wirken. Der Traum kann auf unbewusste neurotische und irrige Ziele hinweisen. Dazu kann die immer wieder auftauchende Strategie gehören, aus einem Empfinden von Minderwertigkeit oder Unvollkommenheit heraus unbewusst überwertige Lösungen anzustreben, um doch noch eine Überlegenheit oder die ersehnte Übervollkommenheit zu erreichen.

Zwei Fragen prägen das individualpsychologisch geführte Traumgespräch:

– In welcher Weise lässt der Traum den Lebensstil des Träumenden erkennen? Was sind seine Lebensziele und Absichten?

– Was sagt der Traum über das Verhältnis des Träumers zur Gemeinschaft?

Mit der Hilfe dieser beiden Fragestellungen sollen die Träumenden dazu geführt werden, neurotische Ziele zu erkennen und einen dysfunktionalen Lebensstil zu verändern.

Was ist zum individualpsychologischen Umgang mit Träumen zu sagen?

– Auf der positiven Seite hat Adler dazu beigetragen, die Engführung, die mit der Traumdeutung Freuds gegeben war, zu überwinden. Viele Träume lassen sich nicht auf ein sexuelles Problem hin deuten. Da erweist es sich als eine hilfreiche Blickerweiterung, in den Träumen den Lebensstil der Träumenden herauszuarbeiten.

– Adler hat ferner mit seiner Traumdeutung die soziale Verfasstheit des Menschen zentral in den Blick genommen. Mangel, Minderwertigkeit und Macht sind Faktoren, die stark emotional besetzt sind und in Träumen auf vielfältige Weise ihren Ausdruck finden.

 

Blicken wir auf die Grenze der individualpsychologischen Traumdeutung:

– Adlers Deutung der Träume hat eine erneute Einengung mit sich gebracht: Träume alleine unter dem Blickwinkel des Lebensstils und des Gemeinschaftsgefühls zu betrachten, schließt wichtige Bedeutungsgehalte der Träume aus. In Träumen können z. B. Emotionen betreffende Symbole erscheinen, die nicht auf die Hauptthemen der Individualpsychologie zu „trimmen“ sind. Gerade Träumen, in denen sich das Elend des Lebens unmaskiert zeigt, kann mit der einengenden Frage nach dem sich zeigenden Lebensstil eine Form von Gewalt angetan werden.