Im Weihnachtswunderland

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David sang das Liebeslied in 142 Sprachen: in englischer Sprache, in französischer, spanischer, italienischer, japanischer, arabischer, chinesischer, russischer, schwedischer, kroatischer usw.

Ein Jubeln und Jauchzen ging durch die Menge. Glorias Augen funkelten, sie lachte, als sie an der Hand ihres Herzenskönigs zur Trauung schritt. Und das Lachen der jungen Königin und Ehefrau klang heller noch als die Kirchenglocken.

Und die Geschichte der Eltern wiederholte sich. Das Leben wiederholt sich immer. Es ist Weihnachtszeit im Eiskristallwunderschloss Nummer eins, im Eiskristallwunderland, im Stadtteil Sternstaubglitzerhausen. David und Gloria stehen vor der Wiege ihres ersten Kindes. Die kleine Eiskristallprinzessin ist zartgliedrig wie eine Puppe, hat eine Haut wie Samt und Seide und ebensolche Haare. Die Locken fallen wie Wasserwellen bis auf ihre Schultern herab und rotgoldene Lockenkringel umrahmen das liebliche Gesicht mit der kleinen Stupsnase und den übergroßen blauen Augen. Das Mädchen hat lustige Sommersprossen auf der Nase, obwohl sie noch nie die Sonne gesehen hat. Die kleine Eiskristallprinzessin trägt den Namen Tirza. Tirza, die Schöne, das Wunschkind, ist das erste Kind des Königspaares. Die kleine Familie wohnt im Eiskristallwunderschloss Nummer eins im Eiskristallwunderland, im Stadtteil Sternstaubglitzerhausen. Und die Weihnachtszeit ist die schönste Zeit im Eiskristallwunderland. Da laufen die Weihnachtsvorbereitungen auf Hochtouren. Es riecht nach Lebkuchen, Glühwein, Zimt, Nelken, Piment, Anis, Mandarinen, Bratäpfeln, Vanille, Tannenzweigen …

Zauberer reisen an. In Hubschraubern. Auf fliegenden Teppichen, auf Reismatten, in unbekannten Flugobjekten. Und zum Fest der Feste werden Verwandte, Freunde und Bekannte aus allen Ländern der Welt anreisen, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. In Sternstaubglitzerhausen ist das Glück zuhause.

Kerzenschein und Plätzchenduft, Weihnachtsfreude liegt in der Luft.

Die Zwillingsgespensterkinder Minkie und Pinkie

Es war einmal ein bezauberndes, schönes, junges Gespensterehepaar, das wünschte sich von Herzen ein Kind ...

Minka und Jakob Geist wohnten in einem kleinen Holzhaus inmitten eines wunderbaren Mischwaldes. Die Luft war klar und rein und es wuchsen dort viele kräftige, gesunde Ahorn-, Birken-, Buchen-, Erlen-, Linden-, Tannen-, Eiben-, Eichen-, Kiefern-, Lindenund Kastanienbäume. Und von jedem der Bäume wurde mindestens ein Ast zum Bau des Hauses verwendet. Der Rest wurde aus dem Holz der 1001-jährigen Eiche gezimmert, der Königin der Bäume. Das würde Glück bringen, meinte der Bauherr, der gleichzeitig auch der Architekt und Baumeister des kleinen Holzhauses war. Und Jakob Geist sollte recht bekommen.

Der Wald war umgeben von Streuobstwiesen, Feldern und Weinbergen und es gab sogar einen See. Um den See herum standen 22 uralte Pappeln, die waren mindestens 303 Meter hoch, vielleicht sogar noch höher. Sie wiegten sich des Abends leise im Wind und das Rauschen hörte sich wie das Flüstern von Feen an. Aber es gab auch noch viele andere Bäume und Sträucher dort, immergrüne und Laub abwerfende, manche waren schon viele Hunderte Jahre alt, man konnte das Alter an den Jahresringen ablesen. Auf dem See drehten unzählige Enten mit grün schillerndem Gefieder, schneeweiße Schwäne und ein schwarz-braunweiß gefiedertes Wildgänsepaar zogen Bahnen, zwischen knallgelben Dotterblumen, sonnengelben und tiefblauen Wasserlilien und weißen, roten und gelben Seerosen. Das Wildgänsepaar hatte sieben Junge. Und in der untergehenden Abendsonne leuchtete deren Gefieder auf wie flüssiges Gold. Man konnte das Aufblitzen von Fischschwänzen sehen, kurz nur, dann waren die schuppigen Leiber auch schon wieder untergetaucht. Man hörte zärtlichen Schwanengesang, so leise wie das liebliche Singen von Engeln. Die Waldbewohner nannten den See Engelstimmensee.

Und mitten in diesem Paradies stand eine Bank aus Eichenholz. Und auf dieser Holzbank saß der große, schlanke Jakob mit den schwarz gelockten Haaren und den rehbraunen Augen jeden Abend zum Sonnenuntergang, mit seiner großen Liebe Minka, gleich neben den duftenden Holunderbüschen. Sie schauten den Tieren beim Spielen zu, sahen zu, wie diese sich neckten, wie sie Wettschwimmen miteinander veranstalteten, sich mit den Schnäbeln liebkosten, aber auch lautstark ums Essen stritten. Minka und Jakob waren erstaunt darüber, wie schnell die Federtiere sich vom Wasser aus in die Luft erheben können, über den schnellen, kräftigen Flügelschlag. Und das Paar bewunderte ausgiebig die Schönheit der schneeweißen Schwäne, die mit lang ausgestreckten Hälsen der nahe gelegenen Stadt entgegenflogen, eine Wendung machten und ebenso schnell wieder zurückflogen und auf dem Teich landeten.

Jakob und Minka erfreuten sich an der üppigen Pflanzenwelt rings herum. Die Geschwister waren sehr dankbar dafür, dass sie im gesegneten Gespensterwald leben durften. Jakob küsste und herzte seine Frau ausgiebig: auf die Stirn, auf die Nasenspitze, hinter die Ohren, auf den Hals und auf den Mund. Dann schnitzte er mit seinem Taschenmesser ein großes Herz in die Lehne der Bank, verewigte darin die Namen ‚Minka und Jakob’. Danach fragte er seine große Liebe »willst du mich heiraten, Minka?« Und Minka sagte freudestrahlend »ja.«

»In diesem Paradies sollen unsere Kinder aufwachsen«, flüsterte er der zierlichen, blauäugigen Minka mit den langen, blonden Haaren ins Ohr. Er wünschte sich Kinder. Viele. Am liebsten eine ganze Fußballmannschaft. Und alle sollten aussehen wie seine geliebte Braut Minka. Aber es sollte noch lange dauern, bis es endlich soweit war. Die Gebete des Paares wurden erst zweiundzwanzig Jahre nach der Hochzeit erhört. Dann, völlig unerwartet, ging der sehnliche Wunsch in Erfüllung. Am Heiligen Abend, gerade als die Familie das Lied ‚Ihr Kinderlein kommet’, angestimmt hatte, kam urplötzlich Minkie zur Welt. Es war 22:22 Uhr.

Die Eltern und die Großeltern betrachteten voll Staunen und in großer Ehrfurcht das winzige Geschöpf unter dem geschmückten Tannenbaum, seine kleinen Fingerchen, die kleinen Zehen, den zarten, flauschigen, goldenen Flaum auf dem kleinen Köpfchen. Sie bewunderten die himmelblauen Äugelein des zartgliedrigen Mädchens, das kleine Näschen, die kräftige Stimme. Sie dankten Gott von Herzen für dieses große Weihnachtsgeschenk. Und als neun Minuten später der Knabe Pinkie das Licht der Welt erblickte, weinte die Familie Sturzbäche vor Freude. So viel Glück auf einen Schlag konnte die Familie kaum fassen. Sie legten Pinkie zu Minkie unter den Weihnachtsbaum und die Kinder sollten von diesem Augenblick an unzertrennlich sein.

»Und das am Geburtstag von Jesus«, flüsterte die Großmutter ergriffen. Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken von den Wangen und stimmte das Lied ‚Großer Gott wir loben Dich’ an.

Das überglückliche Elternpaar und der stolze Großvater stimmten in das Lied mit ein. Sie sangen aus übervollen Herzen und vollem Hals ‚Großer Gott wir loben Dich’. Danach gab es Tee und Plätzchen. Die Großmutter hatte Lebkuchen und Butterkekse gebacken. Heimlich. Immer dann, wenn Minka und Jakob unterwegs waren. Lebkuchen und Butterkekse waren nämlich die Lieblingsleckereien der Tochter und des Ehemanns. Und Oma Lea wollte Jakob und Minka mit dem Lieblingsgebäck überraschen, versteckte die verbeulte, moosgrüne Blechdose ganz weit unter dem Ehebett, in der äußersten Ecke, gleich neben dem mit alten Stofflappen zugestopften Mauseloch. Oma Lea freute sich über den Streich. »Sie werden die Dose nicht finden«, flüsterte sie verschmitzt lächelnd vor sich hin.

Und auch an die Tiere des Waldes hatte Großmutter Lea gedacht: an die Hasen, Rehe, Füchse, Dachse, Schweine, Eulen, Falken, Kaninchen, Eichhörnchen und die vielen anderen Tiere. Für sie legte sie ein großes Paket mit ‚Woodys Weihnachtsknochen’ vor die Tür des Holzhauses.

Die gebackenen Knochen mit geraspelten Karotten und Ingwer für die Tiere hat uralte Tradition bei der Familie Gespenstermann. Leas Eltern hatten das schon so gemacht und Lea hatte das Rezept von der Mutter übernommen. Ihre Tochter Minka wird es gleichtun. Für Großmutter Lea sind Traditionen sehr wichtig. Für die kleineren Tiere, wie die Vögel, Mäuse, Käfer, Ameisen und andere Krabbeltiere, zerbröselte sie die Plätzchen mit den Händen und streute sie mit einem Segensspruch im Wald aus.

Minkie und Pinkie waren das größte Glück der Eltern und Großeltern. Und die vielen Verwandten und Freunde, die auch im Gespensterwald wohnten, erfreuten sich an dem Zwillingspärchen, das so unterschiedlich in Aussehen und Charakter war, wie es nicht unterschiedlicher hätte sein können.

Minkie war vom ersten Augenblick an ein sehr lebhaftes Baby gewesen, immer hungrig, neugierig, fröhlich und äußerst wachsam. Am dritten Lebenstag, in den frühen Abendstunden, konnte sie schon die Stimmen der Eltern und der Großeltern unterscheiden. Und wenn Pinkie zum Füttern und Windel wechseln aus dem gemeinsamen Bettchen genommen wurde, brüllte sie wie am Spieß. Sie wollte keine einzige Sekunde lang von ihrem geliebten Bruder getrennt sein. Im Alter von sieben Wochen konnte Minkie schon Pinkie sagen, Mama, Papa, Oma und Opa und Wald. Mit sieben Monaten konnte sie laufen, Gebete aufsagen, Flöte spielen und viele Kirchenlieder singen. Und mit acht Monaten sprang sie zum Entsetzen der ganzen Familie in den See, an der Stelle neben dem Holunderbusch, gleich neben der Bank, wo die Namen der Eltern eingeritzt sind, und sie schwamm mit den Fischen, den Enten, den Wildgänsen und den Schwänen um die Wette. Das Wasser war sehr kalt, aber dem kleinen Gespenstermädchen machte das nichts aus. Sie gluckste laut vor Freude.

»Komm doch rein, Pinkie«, rief sie dem fassungslosen Bruder am Ufer zu. Aber Pinkie schüttelte nur den Kopf. Schwimmen wollte er damals noch nicht. Und schon gar nicht im eiskalten Winterwasser.

 

Im Alter von zwei Jahren zwei Monaten und zwei Tagen war Minkie vor Tatendrang nicht mehr zu bändigen. Sie wollte reiten, schwimmen, auf Bäume klettern, auf dem Rücken der Schwäne und Wildgänse mitfliegen. Und das am liebsten alles auf einmal. Die Familie musste sehr viel Geduld aufbringen mit Minkie. Und sie schaffte das nicht immer. Selbst der bedächtige Großvater geriet manchmal aus der Fassung, auch der besonnene, immer geduldige Pinkie. Aber die Großmutter lachte dann nur und brachte alles wieder in Ordnung.

Die Großeltern Aram und Lea Gespenstermann waren fromme Menschen. Immer fröhlich, fleißig, bescheiden und hilfsbereit. Sie wollten noch nie die Menschen erschrecken, so wie es ihre Artgenossen, die gewöhnlichen Geister machen. Deshalb hatte sich das Paar entschieden auszuwandern, in den Gespensterwald, wo es ruhig ist, die Luft noch klar und unverbraucht, und nur Gespenster der gleichen Gesinnung wohnen.

Aram und Lea zogen die Mutter von Pinkie und Minkie in christlichem Glauben auf. Und die Tochter Minka macht es mit den eigenen Kindern ebenso. Sie wird bei der Erziehung von Minkie und Pinkie tatkräftig von Ehemann Jakob unterstützt, was bei Gespensterfamilien damals noch eher unüblich war. Meist sorgten die Mütter allein für die Erziehung der Kinder, während die Väter zur Arbeit gingen und in der Freizeit Fußball und Karten spielten. Jakob Geist ist Schreinermeister, ein gefragter Architekt, Projektleiter für einen Geheimauftrag. Nach Feierabend baut und bastelt er am Blockhaus. Seine Schwiegereltern sollen einen eigenen Wohnbereich bekommen, gleich neben dem Wohnzimmer, mit einer Durchgangstür zum Kinderzimmer.

Minkie entwickelte sich zu einem äußerst temperamentvollen Gespenstermädchen. Dem Gespenstergroßvater Aram blieb so manches Mal schlichtweg der Atem weg über die Einfälle seiner Enkeltochter. So sang sie zum Beispiel am Heiligen Abend statt

‚Großer Gott wir loben Dich,’ das selbst erfundenes Lieblingslied‚Wisst ihr, was die Frösche an Weihnachten machen? Sie ziehen einen Anzug an und fangen dann zu singen an.’ Sie brüllte »quak, quak, quak« und kroch um den Weihnachtsbaum herum. Einmal, zweimal, dreimal.

Der Opa schüttelte den Kopf, raufte sich spielerisch die drei Haare auf seiner Glatze, fragte sich immer wieder: »Von wem wohl unser Mädchen dieses überschäumende Temperament geerbt hat?« Dabei runzelte er die Stirn, rümpfte die Nase kraus, machte eine Schnute und schielte auf seine Ehefrau Lea. Und die Großmutter lachte Tränen über das Opafaxengesicht. »Der liebe Gott versteht auch Spaß,« sagte sie, und als Lea ausgelacht hatte, fing sie an zu beten. »Nun ist die Fülle der Zeit gekommen, da Gott seinen Sohn in die Welt sendet ...«

Minkie wollte unbedingt die Gespenstervorschule besuchen. Und das mit knapp drei Jahren schon, zusammen mit dem Bruder natürlich. Pinkie wäre viel lieber zuhause im gemütlichen Holzhaus geblieben, hätte viel lieber mit dem Großvater Karten oder Brettspiele gespielt, blöde Faxengesichter gemacht, gebastelt, seinem Geigenspiel gelauscht, süßen Lindenblütentee mit ihm getrunken und den vorbeiziehenden Wolken hintergeschaut. Er mochte bei Kälte einfach nicht nach draußen gehen.

Pinkie war ein sehr ruhiges Gespensterkind. Deshalb bekam er als Zweitnamen den Namen seines Großvaters. Der Name Aram steht für Ruhe und Stille, obwohl der Opa gar kein ruhiger, stiller Geist war. In Jugendjahren hatte er es nämlich faustdick hinter den Ohren. Manchmal erzählt er den Kindern von seinen Streichen. Aber nur dann, wenn der Nebel grau und dicht über dem Gespensterwald hängt, ein rauer Wind weht, die Krähen noch heiserer krächzen als an gewöhnlichen Tagen, die Käuze um die Wette schreien und laut wie Donnerschlag das Unken und Rülpsen der alten Riesenunke vom Teich her zu hören ist. Minkie trägt den Zweitnamen Abeni. Die Großmutter hatte auf dem Namen bestanden. Der Name bedeutet ‚Die, um die wir gebetet haben’.

»Wir haben um sie gebetet und wir erhielten sie«, sagte die Großmutter Lea damals, am 24. Dezember um 22:22 Uhr.

Die Taufe der Zwillinge fand in großem Rahmen statt. Alle Verwandten, Bekannte und Freunde der Familie Gespenstermann/Geist waren dazu eingeladen. Und der Gespensterwald wurde an diesem ganz besonderen Tag zu einem wahren Wunderwald. Ab Einbruch der Dunkelheit loderten an jeder Wegbiegung meterhohe Freudenfeuer. In den Baumästen versprühten viele Tausende von Wunderkerzen Funken. Und in allen Büschen und Sträuchern blitzte und glitzerte es. Alle Bäume des Waldes waren mit bunten Kugeln geschmückt, mit Lametta, mit Holzschaukelpferdchen in allen Größen und Farben. Kein Baum wurde vergessen. Bratäpfel und Lebkuchenherzen baumelten zwischen Zuckerweihnachtsmännern an den Ästen. Und in den Tannenspitzen hingen Mandolinen, die wie von Geisterhand Weihnachtslieder spielten, Gitarren, Geigen, Flöten, Trompeten.

Dem Gespenstergroßvater verschlug es die Sprache, als er all das sah und hörte. Und als urplötzlich unter der 1001 Jahre alten Eiche eine Kapelle aus rotem Backstein stand, mit Türmchen und vier Glöckchen aus Messing, erstarrte er. Alle vier Glöckchen läuteten hell. Großvater Aram stammelte: »Das ist doch, das ist doch.« Und als dann auch noch das mit weißen Rosen und roten Lilien geschmückte Taufbecken vor ihm stand, riss er seine Augen so weit auf wie noch nie in seinem Leben. »Aber das ist doch«, stammelte Großvater Aram immer wieder »aber das ist doch.«

Und als dann auch noch der Waldgespenstertierkinderchor unter der Leitung des Großhirsches ‚Fest soll mein Taufbund immer stehn’, sang, da war es um die Fassung von Großvater Aram vollends geschehen. »Das ist doch die Kapelle von Schloss Nebel«, flüsterte er.

»Ich weiß«, strahlte die Großmutter Lea.

»Du kannst noch zaubern?«, fragte der Großvater die Großmutter erstaunt«

»Aber gewiss doch!«, antwortete die Großmutter schelmisch.

»Was denkst du denn, wer den Wald verzaubert hat, mein allerliebstes Ehegespenst?«

Sie lachte fröhlich. »So etwas vergisst man doch nicht, Aram.« Der Opa grinste verlegen.

»Das wäre wohl meine Arbeit gewesen«, sagte er dann leise.

»Überraschung gelungen?«, fragte die Großmutter lächelnd.

»Überraschung gelungen!«, antwortete der Großvater. Er nickte, immer wieder. Dann zog er Lea zu sich, drückte die Großmutter ganz fest an seine Brust. Tränen der Rührung liefen über seine Wangen. Es war nämlich die Kapelle vom Schlossgarten, wo er als zweiter Sohn des ersten Stallburschen aufgewachsen war.

»Nur ausgeliehen«, flüsterte die Großmutter. »Gleich nach der Taufe werde ich sie an ihren Stammplatz zurückzaubern. Es wird nicht auffallen, Aram!«

Das Geweih des Großhirsches war königlich geschmückt: mit roten, weißen, gelben und pfirsichfarbenen Rosen, blauen, gelben, roten und weißen Lilien, dazwischen waren Lorbeerblätter, Schleierkraut, Kornblumen und Efeuranken gebunden. Und auch die Rehe trugen mit Blumen geschmückte Lorbeerkränze um den Hals. Alle Tiere des Waldes trugen Blumenschmuck und Bänder, keines wurde vergessen, selbst um die Schwänzchen der Babymäuse waren weiße Schleifchen gebunden. Die Großmutter hatte auch diese Pracht gezaubert. Und sie war ziemlich stolz auf sich.

Die Gespensterfamilien lauschten andächtig, erst dem wunderbaren Tiergesang, dann dem Dankesgebet des Herrn Waldgespensterpfarrers David. Und die Taufpaten, zwei Onkel väterlicherseits und zwei Tanten mütterlicherseits, beteten innig: »Lieber Gott, du hast uns diese Kinder geschenkt, wir danken dir dafür. Gib uns Kraft und Geduld, sie auf dem Weg durch die Kindheit zu begleiten.«

Die Verwandten hatten Festtagstrachten angelegt, und nach der feierlichen Taufe wurde gegessen, getrunken, gesungen, getanzt und gelacht bis in die frühen Morgenstunden. Es war das größte und schönste Fest, das je stattfand im Gespensterwald, da waren sich alle Bewohner einig. Und es sollte für lange Zeit das letzte Fest bleiben.

Frischer Schnee und leuchtende Sterne, so hätte ich es zur Bescherung gerne.

Viele Jahre später

Die Männer tragen weiße Gewänder, fußbodenlang, aus gewebtem Leinen, liebevoll geschneidert in der Gespensterschneiderei unter den Hainbuchen, genau da, wo die vier Schleiereulen wohnen. Auch die bunten Röcke der Frauen werden dort genäht. Minka, die Schneidermeisterin, hat diese Röcke entworfen. Alle Gespensterfrauen tragen mit Begeisterung diese kurzen Regenbogenröcke. Lange Gewänder würden bei der Feldund Hausarbeit stören. Nur die Großmutter Lea Gespenstermann hält an der Tradition fest, trägt weiterhin mit großem Stolz die Gespenstertracht mit der cremefarbenen Spitze am Saum, die auch ihre Mutter schon trug.

Die Großmutter kümmert sich liebevoll um den Haushalt und Enkelkinder, begleitet sie jeden Morgen zur Vorschule und holt sie dort auch wieder ab. Sie achtet sehr auf gesunde Ernährung, zupft und trocknet selbst die Blätter für den Lindenblüten-, Hagebuttenund Kräutertee. Sie baut Kartoffeln, Rosenkohl, Blumenkohl, Rotund Weißkohl auf den Feldern an. Die Familie liebt Kohlgerichte mit Salzkartoffeln über alles. Und Lea will nur eins. Sie will, dass die Familie gesund, zufrieden und glücklich ist.

Lea Gespenstermann ist aber auch eine tüchtige Geschäftsfrau. Sie tauscht den Überschuss an Obst, Gemüse und Tee mit anderen Gespensterfamilien gegen andere Gegenstände ein, die die Familie gebrauchen kann. So ist ein richtiger Tauschring entstanden und Opa Aram ist vom frühen Morgen an bis zum späten Abend mit einem Leiterwagen aus Eichenholz im Wald zum Tauschhandeln unterwegs. Dabei erfährt er viele Neuigkeiten. Auch Neuigkeiten von weit außerhalb des Waldes. Die Elstern fliegen manchmal über die Grenzen hinweg und sie haben immer viel zu erzählen, wenn sie wieder zurückkommen. Und die Neuigkeiten sind bei Weitem nicht immer schön.

»Die Welt ist durcheinandergeraten«, sagt Oma Lea leise. Sie zupft sich am rechten Ohrläppchen und rührt danach wie wild die Kirschmarmelade im verbeulten, schon an vielen Stellen abgesplitterten, grünen Emailletopf auf dem Herd, den sie von ihrer Mutter vererbt bekommen hatte. Oma Lea zupft immer an den Ohrläppchen, wenn sie mit etwas nicht einverstanden ist.

Minka und Jakob Geist, die stolzen Eltern, sind ein fröhliches Paar, bescheiden, hilfsbereit und fromm. Und sie sind dankbar dafür, dass die Großeltern Aram und Lea zusammen mit ihnen im Holzhaus wohnen. Sie bedauern sehr, dass Jakobs Eltern schon verstorben sind und das Großelternglück nicht erleben durften.

Großvater Aram ist es schon lange leid, den schweren Leiterwagen durch den Wald zu ziehen. Seine Knochen machen ihm immer mehr zu schaffen. Großmutter Lea handelt mittlerweile auch mit Marmeladen, saurem Gemüse in Gläsern, eingelegten Früchten, Nüssen, Trockenfrüchten und Heilkräutern. Sie hat sich, gleich hinter dem Wohnhaus, einen Hexengarten angelegt. Und dort wachsen üppig: Johanniskraut, Melisse, Ringelblumen, Salbei, Spitzwegerich, Herzgespann und Frauenmantel. Lea weiß zu heilen. Ihre beste Freundin aus Kindertagen, Lilli, war eine begnadete Hexe.

Aram würde am liebsten den ganzen Tag in seinem gemütlichen Holzstuhl aus Kiefernholz sitzen, den sein Schwiegersohn für ihn als Geschenk zu Weihnachten geschreinert hat. Darin fühlt er sich wohl. Er hat den Stuhl dicht unter das Fenster gerückt, beobachtet von dort das Geschehen im Wald. Seine fürsorgliche Tochter Minka hat den Stuhl mit weichen Kissen ausstaffiert. Sie hat sie selbst genäht und prall mit weichen Schwanendaunen gefüllt. Ab und zu laufen ein paar Kaninchen am Fenster vorbei, Rehe, Hirsche, rote, weiße und schwarze Schnecken. Schnecken mit und Schnecken ohne Häuschen.

»Der Opa ist wieder einmal eingeschlafen«, lacht Minkie, als sie in das Wohnzimmer stürmt. Der Kopf des Großvaters hängt dicht über seiner Brust und Opa Aram schnarcht, was das Zeug hält. »Der Opa hört sich an wie ein alter Frosch mit Husten«, lästert Minkie. Pinkie lacht. »Du hast doch noch nie einen alten Frosch mit Husten gesehen, Schwesterlein«, kontert er. Minkie grinst: »Dann schau dir doch mal den Opa an.«

Die Gespenstergeschwisterkinder halten sich die Hände vor den Mund. Sie kichern, aber leise. Sie wollen den Opa nicht erschrecken.

Aber der Opa schläft gar nicht, er ist hellwach. Mit einem Satz springt er aus dem Stuhl und schreit: »Huh, huh, huh, jetzt habe ich euch, ihr kleinen Rabauken.«

Er greift mit der rechten Hand nach Pinkie, mit der linken packt er Minkie an der Schulter. Er zieht die Kinder dicht an sich heran und küsst sie auf die Nasenspitze. Er küsst erst die Nasenspitze des überraschten Pinkie, dann die Nasenspitze der prustend lachenden Minkie. »Zeit, um ins Bettchen zu schlüpfen«, scherzt Opa Aram. »Scheiße«, rutscht es Minkie von den Lippen.

 

»Ist es schon so spät?«

»Das Wort will ich aber überhört haben«, sagt die Großmutter, die gerade das Zimmer betritt. Sie gibt Minkie einen spielerischen Klaps auf den Po, sagt: »Und nun aber ganz schnell ab mit dir ins Badezimmer zum Zähne putzen, kleine Prinzessin. Morgen ist auch wieder ein Tag.«

»Und da sollte meine Gespensterprinzessin doch frisch und munter sein«, lacht der Großvater, »vor allen Dingen, wenn die lieben Eltern aus dem Urlaub zurückkommen.«

Minkie und Pinkie haben großes Heimweh nach den Eltern, obwohl diese erst seit zwei Tagen weg sind. Die Kinder sind es gewohnt, vor dem Einschlafen mit den Eltern zu kuscheln und zu beten. »Kommst du zum Beten mit, Oma?«, fragen Minkie und Pinkie zur gleichen Zeit und wie aus einem Mund. »Und du auch, Opa?«

»Selbstverständlich«, antwortet die Großmutter grinsend. »Aber erst waschen, wie immer!« Sie klatscht in die Hände: Zaum und Zaus und Zausewind, Kinder putzt die Zähn’ geschwind.«

Der Großvater ist entsetzt. »Wie kannst du nur«, beginnt er den Satz … »Mitten im Jahr, grundlos. An keinem Zaubertag. Und das auch noch vor dem Beten.«

»Der liebe Gott versteht auch Spaß, Aram!«, sagt die Großmutter und marschiert stolz wie ein General mit erhobenem Haupt aus dem Zimmer.

Der Großvater läuft der Großmutter hinterher und sie sitzen gemeinsam am Bett der Kinder, beten zu viert ‚Abends, wenn ich schlafen geh, vierzehn Englein bei mir stehn, zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken …« Und sie haben kaum das Wort ‚Linken’ ausgesprochen, da sind Minkie und Pinkie auch schon eingeschlafen. Die Großmutter macht mit der rechten Hand das Kreuzzeichen über den Kinderköpfen. »Der Herr behüte und schütze euch.« Lächelnd zupft sie die Bettdecke zurecht, streicht sie glatt, streichelt zum letzten Mal an diesem Tag über die Wangen der Enkelkinder.

Die Großeltern begeben sich ins Kaminzimmer, beenden den schönen Tag mit einer Tasse Lindenblütentee, mit frischem Waldhonig gesüßt, knabbern Halbmondkekse dazu, reden und scherzen miteinander. »Und schon wieder ist ein schöner Tag zu Ende«, stellt Oma Lea mit einem raschen Blick auf die Wanduhr fest. »Zeit zum Schlafen gehen, Aram!«

»Nur noch einmal schlafen«, tröstet die Großmutter am nächsten Morgen beim Frühstücken Minkie und Pinkie. Sie schnalzt mit den Fingern. »Und schwuppdiwupp sind eure Eltern auch schon wieder da.«

»Schwuppdiwupp«, lacht der Opa, »Dann ist ja alles gut, Oma.«

Er drückt die Großmutter ganz fest an sich. »Dann will ich dir doch mal schwuppdiwupp ein Küsschen geben.«

Der blaue Himmel ist übersät mit Zuckerwattewölkchen, als Minkie und Pinkie auf den mit weißem Klee, Pusteblumen, knallroten Mohnblumen, königsblauen Kornblumen, schneeweißen Gänseblümchen und zart grauem Zitterkraut übersäten Wiesen den Eltern entgegenlaufen. Auch die Großeltern sind auf dem Weg zum Bahnhof mit dabei.

»Wie schön die Welt doch ist«, flüstert Oma Lea immer wieder andächtig. Es ist Anfang Juni und an den Kirschbäumen hängen kleine grüne Kugeln. »Sie werden zu süßen Kirschen reifen«, freut sich Oma Lea. »Ich werde Kirschkuchen backen, Marmelade daraus kochen, sie als Kompott in Gläser abfüllen, für den Winter trocknen«, jubelt sie.

»Die Apfelbäume sind teilweise verfroren, hm, hm, hm«, brummt Opa Aram. »Hm, hm, hm«, brummen Minkie und Pinkie in Einklang. »Ebenso die Pfirsichbäume«, stellt der Großvater entsetzt fest, macht wieder: »Hm, hm, hm.«

»Hm, hm, hm«, brummen Minkie und Pinkie wiederum in Einklang. Sie halten die Hände vor den Mund und kichern.

»Und die Walnüsse auf den Bäumen sind viel zu groß für diese Jahreszeit«, seufzt der Großvater. »Es wird ein früher Herbst werden, hm, hm, hm.«

»Das wäre echt Scheiße«, schimpft Minkie. »Dann wird es ja wieder so früh dunkel und wir können nicht ...«

»Das Wort Scheiße will ich aber jetzt mal großzügig überhört haben«, tadelt die Großmutter. Und sie zupft aufgeregt am linken Ohrläppchen.

Und genau zwölf Wochen später ist es soweit. Dichte Nebelschwaden hängen über dem Holzhaus. So dicht, dass man keinen Zentimeter weit schauen kann. Die Luft ist feucht, es weht ein eiskalter Wind, schwarze Krähenscharen flattern in den Lüften auf und nieder, man kann die Flügelschläge durch die geschlossenen Fenster hören. Die Waldkäuze versammeln sich mit den Eulen auf den Tannenspitzen, die Raben krächzen heiser und vom Teich her hört man das laute Unken und Rülpsen der Riesenunke.

Großvater Aram schaukelt wie wild in seinem Holzstuhl hin und her. Minkie und Pinkie sitzen voller Erwartung auf dem Dielenboden. Sie wissen, heute ist es wieder einmal so weit. Der Großvater wird eine Geschichte aus seiner Jugendzeit erzählen. Und tatsächlich. Der Opa räuspert sich. Er räuspert sich immer, bevor er zu singen anfängt. Und er singt immer, bevor er zu erzählen anfängt, obwohl er gar nicht schön singen kann.

»Nebelschwaden, Nebelschwaden, kriechen durch den Fensterladen, kriechen in den Blumentopf, aber nicht in meinen Kopf.«

Minkie und Pinkie kuscheln sich ganz eng aneinander. Der Großvater singt gar zu grausig. Die Großmutter bringt auf einem Tablett heißen Lindenblütentee, ein Glas mit frischem Waldhonig und Gebäck in Halbmondform. Sie stellt die Köstlichkeiten auf dem kleinen, runden Holztischchen ab, setzt sich in den Sessel daneben. Es wird ein langer Abend werden, wie immer, wenn der Großvater erzählt.

»Es ist schon weit über tausend Jahre her, als ich mit meiner Zwillingsschwester Magdalena im Gespensterwald ankam. Es war kein Geld da für die Reise der Eltern und Großeltern, aber das wisst ihr ja schon. Sie kamen erst fünfhundert Jahre später nach Deutschland. Mit den anderen Verwandten. Mit Onkel Paul, Onkel Peter, Tante Hedwig, Tante Hiltrud und den anderen.«

Der Großvater zieht die Luft durch die Nase, seufzt laut, dann nimmt einen großen Schluck Tee, bevor er weiter erzählt.

»Es war ein kalter, ungemütlicher Novembertag. Nebelschwaden hingen in der feuchten Luft, so dicht, dass man keinen Zentimeter weit sehen konnte, die Waldkäuze schrien zum Gotterbarmen, ein Krähenschwarm flatterte aufgeregt durch die Lüfte hoch und nieder, es waren mindestens zweitausend Tiere, wenn nicht noch mehr, man sah nur noch schwarz. Und die Flügelschläge hörten sich wie das Donnern von Kanonenkugeln an. Raben krächzten so schaurig, wie ich nie wieder Raben habe krächzen hören, in meinem ganzen Leben nicht.«

Der Großvater schüttelt sich. »Eulen hingen in den Tannenspitzen, Fledermäuse und …«

»So wie heute«, wirft Minkie aufgeregt ein. Der Opa nickt: »So ungefähr, nur viel, viel schlimmer. Es regnete Sturzbäche und der eiskalte Wind pfiff so laut, dass man seine eigenen Worte nicht mehr verstehen konnte. Magdalena und ich konnten uns tagelang nur noch mit Handzeichen verständigen.«

»Und was war mit dem Onkel Paul, dem Onkel Peter und der Tante Hedwig und all den anderen, Opa?«

»Die kamen doch erst fünfhundert Jahre später nach, Minkie, pass doch erst einmal auf, was der Opa erzählt, bevor du ihm dazwischen plapperst«, rügt Pinkie.« Der Großvater erzählt unbeirrt weiter. »Aber Opa, warum hatte die Tante Magdalena denn keine Brille auf?«, ruft Minkie dazwischen. Pinkie gibt seiner Schwester einen Puff in die Rippen. »Wie wäre es, wenn du endlich einmal deine Klappe halten würdest, Schwesterchen!«