Das Eulenrätsel

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Das Eulenrätsel
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Ghila Pan

Das Eulenrätsel

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Kapitel 1 Ein Strand

Kapitel 2 Ein Wald und eine Heide

Kapitel 3 Ein seltsamer Gruß

Kapitel 4 Eine Gans ist nicht mehr ganz klar

Kapitel 5 Swinging London

Kapitel 6 Im Nichtigen Reich

Kapitel 7 Richtung Norden

Kapitel 8 Zu heiß für viel PS

Kapitel 9 Ein netter Reisegefährte

10 Kapitel Die Grenze schreitet voran

Kapitel 11 Die Sonne hat ein Gesicht

Kapitel 12 Lisa weiß nicht weiter

Kapitel 13 Bedrohung im Nichtigen Reich

Kapitel 14 Haus Swansteen

Kapitel 15 In der rettenden Höhle

Kapitel 16 Unterirdische Begegnung

Kapitel 17 Nachmittag in House Swansteen

Kapitel 18 Die hopsende Zeit

Kapitel 19 Ein ereignisreicher Vormittag

Kapitel 20 Auf steilem Weg nach oben

Kapitel 21 Höhenflüge

Kapitel 22 So ein Kreuz mit dem Kreuz

Kapitel 23 Ein bisschen Igug

Kapitel 24 Ein widerspenstiges Mittagsmenü

Kapitel 25 Ein schwerer Abschied

Kapitel 26 In Kälte und Hitze

Kapitel 27 Am Dach

Kapitel 28 Oben und unten im See

Kapitel 29 Akademisches Intermezzo

Kapitel 30 We all live in a yellow submarine

Kapitel 31 Walla

Kapitel 32 Bekannte aus der Vergangenheit und ein Blick in die Zukunft

Kapitel 33 Ein schöner Empfang

Kapitel 34 Etwas stimmt nicht ganz

Kapitel 35 Unten am Fluss

Kapitel 36 Li Wanse

Kapitel 37 Green Peace

Kapitel 38 Ein nettes Wiedersehen

Kapitel 39 Vollzählig

Kapitel 40 Gymnastikübung einer Göttin und deren Folgen?

Kapitel 41 Naher Abschied

Kapitel 42 Der Schrei

Kapitel 43 Auf der anderen Seite der Grenze

Kapitel 44 Grenzerfahrungen

Kapitel 45 Mister Clawsons Ende

Kapitel 46 Neues von den Blues Brothers

Kapitel 47 Schöne Aussichten!

Kapitel 48 Blues auf Hawaii

Kapitel 49 On the road

Kapitel 50 Der Weg ist das Ziel

Kapitel 51 Unterwegs

Kapitel 52 Neue Perspektiven

Kapitel 53 Es geht aufwärts

Kapitel 54 Das Vermächtnis der Zawosars

Kapitel 55 The final count-down

Kapitel 56 Back to Reality

Kapitel 57 The very last walz

Impressum

Widmung

Für Bernhard,

der mir mit seiner Unterstützung und Liebe geholfen hat,

diese Geschichte zu schreiben

Und für einen inneren Geliebten,

ohne den diese Geschichte nie geschrieben worden wäre.

Ich werde Euch niemals kennen

Euch zu kennen, würde bedeuten, einen Beginn und ein Ende zu sehen

Aber ich sehe keinen Beginn und kein Ende

Wenn ich Euch

In meinem Herzen erkenne

Liebe schenkt die Freiheit

Den anderen in seiner Unendlichkeit anzuerkennen und darin erkannt zu werden

Das Wesen der Liebe

Erkennt die letztendliche Unerreichbarkeit des Geliebten

Liebende sind Menschen

Die ihre Flügel gefunden haben

Ghila Pan, Ostern 2014

Es ist die Zeit ein Wahnbild, voller Düsternis und Leid,

doch unser Sein und Wesen sind außerhalb der Zeit.

Es ist die Zeit ein Käfig, in dessen Jenseits liegt

Berg Kaaf, und Vogel Anka

weit jenseits von ihm fliegt.

Ein großer Strom die Welt ist: doch wir sind nicht darin,

und nur von uns ein Schatten fällt auf die Wogen hin.

Dschalaluddin Rumi (1207-1273)

Kapitel 1 Ein Strand

Sommer 2004

Schmal war der Pfad, der Boden fühlte sich warm an unter ihren Füßen, den einzigen Spuren im Sand. Hibiskusblätter streiften Lisas Schultern, sie stapfte ein paar Meter die Anhöhe hinauf. Vor ihr lag eine Bucht, ganz anders als die Strände zu Hause in New Jersey. Immer schon hatte Lisa geheime Orte gesucht, in der Natur genauso wie in ihrem Inneren. Doch während sie die äußeren Orte von den Zwängen der lärmenden Städte abschirmten, verliehen ihr die inneren manchmal Flügel. Dieser Ort hier schien beides zu versprechen; eine versteckte Bucht, durch Dünen von den anderen Stränden getrennt. Niemand könnte sie hier sehen.

Warmer Wind durchwühlte Lisas Haar, blähte ihr Gewand auf wie eine sanfte Hand. Sie schmunzelte und ging zum Meer hinab. Ob Alwin schon vom Einkauf aus dem Dorf zurückgekommen war? Sie wünschte, er möge sich Zeit lassen, sich keine Sorgen um sie machen. Er machte sich so viele Sorgen. Vor allem seit sie das Buch geschrieben hatte. Sie sah zum Horizont und lauschte der Brandung. Als sie tief einatmete, wehte schwarzes Haar durch ihr Bewusstsein, dann ein lächelndes Kindergesicht: Maracella, das Südseemädchen! Ihre allererste Titelheldin. Lisa tat es heute noch leid, dass sie ihre eigenen Geschichten damals als Achtjährige verbrannt hatte. Die Erinnerung daran war wie ein Stich in die Seele.

 

Doch Maracella war trotzdem hier. Gegenwärtig, in Lisas Geist atmend. Behutsam legte Lisa die Arme um ihre Schultern und sah aufs Meer hinaus. Schließlich setzte sie sich langsam. Maracellas Kinderblick, ihre großen Augen, sahen Lisa an, so erwartungsvoll und forschend. Es war, als wäre Maracella hier neben ihr und musterte sie unverhohlen. Solches Haar in den Farbschattierungen von Eierschalen hatte Maracella wohl noch nie gesehen. Aber es gab viel, was ihre kleine Titelheldin noch nie gesehen hatte, obwohl sie alles andere als jung war. Lisa dachte noch darüber nach, warum diese Figur einer ihrer Kindergeschichten jetzt so präsent war, als sie eine helle Mädchenstimme fragen hörte, „Wer kennt dein Buch?“ Die Frage war so klar, dass Lisa sich umsah, doch nichts als Dünen, Sand und Meer waren um sie. Maracella lächelte sie an.

„Alwin!“, antwortete Lisa der Brandung nach einer Weile. Maracella hatte verstanden und sah ebenfalls zum Meer hinaus. Da saß Lisa nun, ihr Lächeln verband sie mit einem verlorenen Glück aus Kindertagen.

Weit draußen auf dem Ozean fuhren große Schiffe vorbei – aber was war das?

Lisa beobachtete, wie Maracella aufsprang und in die sich brechenden Wellen hüpfte. Als Lisa ebenfalls etwas in der Gischt auftauchen sah, ließ sie sich plötzlich rücklings in den Sand fallen. Mit einem Auge lugte sie auf Maracella. Als hielte das Mädchen einen sakralen Gegenstand in ihren Händen, musterte die Kleine das Treibgut.

„Da steht etwas geschrieben, unter dem Seegras und den Muscheln…!“, flüsterte Maracella geheimnisvoll.

„Ach ja, ein verschimmeltes Holzteil mit irgendwelchen Hyroglyphen, heißt vermutlich ‚Oliventransport’ auf Hawaiianisch, chinesisch oder makrobiotisch!“, sagte Lisa laut und schloss die Augen. Warum sagte sie das so laut und schnell? Doch wohl nicht, um mit der Vision ihrer kleinen Titelheldin zu kommunizieren? Lisa hätte sich am liebsten im warmen Sand vergraben.

Das letzte Jahr war so vielseitig gewesen. Und dann hatte sie diesen Traum. Ein Traum, der sie veranlasste wieder zu schreiben. Nach all den Jahren! Und sie schrieb und schrieb und schrieb… dieses Buch. Nicht für sich selbst oder für Alwin, das war von Anfang an klar. Und es würde sich niemals veröffentlichen lassen. Das war auch von Anfang klar. Aber sie musste es schreiben, sie hatte keine Wahl.

Warum spürte Lisa plötzlich ihr Herz heftig klopfen?

Die Antwort war wie ein sanfter Schlag. Gut, dass Lisa schon im Sand lag.

Sie existierten! Woher sie das wusste, konnte sie nicht sagen. Lisa sah sie nicht, so wie sie Maracella neben sich am Strand sah. Aber sie fühlte, dass sie lebendig waren.

Schweigend legte Maracella ihren Fund neben Lisa in den Sand.

„Und? Was steht da geschrieben?!“, fragte das Südseemädchen schließlich vorsichtig.

Lisa setzte sich auf und sah auf das Treibgut, das sie gut mit beiden Händen umfassen konnte. Salzig schmeckte der Geruch. Für einen kurzen Moment hatte Lisa den Eindruck, sie selbst wäre wie eine der Muscheln, die an dem Gegenstand hafteten: herausgerissen aus ihrem Element und zuhause in der Tiefe des Meeres.

„Ein Korken, er muss schon länger im Wasser geschwommen sein. Wahrscheinlich ist es ein Stück von einem Lebensmittelfass, irgendeine Werbung oder sonstige Beschriftung! Schwer zu lesen, man müsste das Seegras und die Muscheln ablösen...“, sagte Lisa leise zu sich selbst.

„Das ist kein Teil von einem Fass!“, drängte sich Maracellas Stimme in Lisas Gedanken.

Lisa seufzte und schüttelte den Kopf. Warum war sie nur so naiv und ließ sich von ihrer kleinen Titelheldin dazu verleiten, auf ein Stück Treibgut zu starren? Sie wusste die Antwort einen Augenblick später. Weil das Treibgut nicht unbedeutend war, und eine andere Titelheldin fiel ihr ein. Bela Petty.

„Ach, das ist doch bedeutungslos!“ Oh Gott, jetzt sprach Lisa schon zu sich selbst. Ob sie sich überzeugen konnte?

Das Mädchen streckte den Oberkörper. Ihre dunklen Augen blitzten angriffslustig.

„Aber das könnte doch auch eine Botschaft sein...!“ Mit einem lauten Stöhnen ließ sich Lisa wieder in den Sand fallen.

Weiter südlich ging Alwin langsam über den Strand. Sanfter Wellenschaum umspülte seine bloßen Füße. Die Hosen hochgekrempelt und das Hemd aufgeknöpft, genoss er die Einsamkeit dieses Nachmittags, während der Meereswind mit seinen grauen Haaren spielte. Manchmal huschte ein Lächeln über Alwins Gesicht, doch es versteckte sich schnell wieder in einer tiefen Falte zwischen den Augenbrauen. Soeben hatte er sich vorgenommen, nach seiner Pensionierung Schauspielunterricht zu nehmen. Ob er dieses neue Hobby Leonhard zu verdanken hatte? Aber bald wieder nagten seine Gedanken als beständige Sorge um Lisa an seiner Stimmung. Das kannte er schon seit zwanzig Jahren, doch seit seine Frau dieses Buch geschrieben hatte, war etwas an ihr, das ihm völlig neu war. Es machte ihm Angst. Am meisten Angst machte ihm, dass er gar nicht sagen konnte, was sich an Lisa verändert hatte. Irgendetwas war passiert. Ob es mit Leonhard zu tun hatte? War es zuviel für Lisa gewesen? Aber sie war so glücklich gewesen wie selten zuvor im Leben.

Auch Alwin sah die großen Schiffe. Ob er er Lisa jetzt suchen sollte, fragte er sich plötzlich. Sie war doch ganz alleine unterwegs. Er sah die Dünen hinauf, dann schüttelte er den Kopf. Lisa war doch kein Küken mehr!

Nein, Lisa war kein Küken und auch nicht ganz allein. Nachdem Maracella sich verabschiedet hatte, sah sie weit enfernt am Strand zwei Jungs gehen, beide 16 Jahre alt. Interessiert beobachtete sie die beiden mit geschlossenen Augen. Sie wanderten durch ihren Geist, als wäre dieser ein Faltenwurf mit unzähligen Verstecken, in denen all ihre Figuren gegenwärtig und lebendig Platz fänden. Jetzt kamen die beiden daraus hervor. Lisa kannte die Jungs aus ihrem unveröffentlichten Buch. Aber wo waren denn die anderen?

Der eine Junge hieß Lerry Miller und sah fast aus wie der fünfte ‚Beatle’, der andere, Kat Waterrise, hatte einen Krauskopf. Unter seiner Achsel klemmte meistens ein Surfbrett. Als Lisa damals mitten im Schreiben ihres Romans war, war Kat plötzlich aufgetaucht, aus dem Nichts. Sie begann von ihm zu erzählen, ohne zu wissen, was er eigentlich mit ihrer Geschichte zu tun hätte. Aber es passierten öfters eigenartige Sachen, als sie an diesem Buch schrieb. Was genau geschah, wenn ein Stern implodierte, wollte sie einmal wissen. Daraufhin klingelte das Telefon und ein Bekannter erzählte, er hätte begonnen, Astrophysik zu studieren. Oft wunderte sie sich über ihre eigenen Sätze, denn das Spannende an ihrem Buch war, dass sie selbst überhaupt keine Ahnung hatte, wohin die Geschichte führen würde. Doch zu ihrer großen Überraschung verwoben sich die Erzählstränge wie von Zauberhand geführt.

Schon standen die beiden Jungs ganz in ihrer Nähe. Neugierig beobachtete sie Lisa unter ihrem breitkrempigen Sonnenhut.

„... tja, und ich bin riesig froh, die Ferien nicht in England zu verbringen!“ Lerry blickte zu Boden, dann war es wieder Zeit, seine Haare über der Stirn glatt zu streifen. Er unterhielt sich mit Kat, ohne Lisa zu beachten. „Außerdem werde ich mir diesen Sommer von niemandem etwas vorschreiben lassen!“, meinte er bestimmt.

Lisa schmunzelte, setzte sich auf und beschloss, zur Hütte zurück zu gehen.

Kapitel 2 Ein Wald und eine Heide

Es wurde kühler. Nebel legte sich wie milchiger Schleier über die Stämme der Bäume. Sie stapften über Wurzeln ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich zerriss ein Schrei ihr Schweigen.

„Ahhh! Da ist eine Schlange!“ Ein Ruck ging durch die Gruppe. Es floh oder versteckte sich, wer konnte, kletterte auf Bäume oder begann eifrig zu fressen – da der Aufschrei einen wunderbar hohen Frequenzpegel hatte, der nach Sahne und Sauerkirschteig schmeckte. Ein paar Mutige gingen weiter.

„Da vorne am Baumstamm...!“, kreischte Eulalia Birdwitch abermals, tat ein paar unvorsichtige Schritte rückwärts und stolperte über eine Wurzel. Sie wäre fast zu Boden gestürzt, wäre da nicht ein Mann im schwarzen Kapuzenmantel hinter ihr gestanden. Da dieser jedoch anstatt Finger eiserne Krallengerätschaften zu je fünf Metallspitzen besaß, wurde Eulalia nur durch seinen breiten Brustkorb vom Fallen abgehalten. Ein drittes Mal kreischte die einzig normale Erwachsene, als sie die Eisenfinger vor ihren Rippen gegeneinander schlagen hörte. Eulalia konnte den nach verbranntem Holz riechenden Atem in ihrem Nacken spüren. Wieder sicher im Gleichgewicht, stieß sie sich angewidert von dem Mann ab und wagte einen Schritt vorwärts. Suckandpop rülpste.

Ein Mädchen erreichte Eulalia und Elester Claw. Sie blieb aber nicht stehen, sondern ging beherzt auf den Baumstamm zu und hob etwas hoch. Grinsend drehte sie sich zu den anderen um. „Eine lasche Schlange! Der Nebel hat Ihnen einen Streich gespielt, Miss Birdwitch!“

„Siiieht aber wiiehrklichsch ausss wieeeh eine Ssschlannnge!!“ Jim Hicksley sah sogar mehrere Schlangen, doch das war ihm ziemlich egal. In letzter Zeit war ihm überhaupt so ziemlich alles egal, was nicht einfach vor seinen Augen verschwand, so wie damals. Er nahm noch einen Schluck aus seinem Fläschchen.

„Olle Tante!“

„Wer war das?“, brauste Eulalia auf. Alle anderen zuckten mit den Schultern, denn niemand hatte etwas gesagt.

„Ach, dieser nebulose Wald, wie lange sollen wir noch hier herumirren?!“ Eulalia sprach lauter, um sich Mut zu machen, und Suckandpop hatte Speichelfluss.

„Ja, in unserem Buch mussten wir wenigstens nicht ewig laufen ...“, meinte nun ein anderes Mädchen, das auch zu den Herumstehenden trat. Eulalia ließ sie nicht weiter zu Wort kommen und quiekte beinahe, „Ach was, dieses blöde Buch! Ich saß auf alle Fälle in meinem Büro in Los Angeles, ich war in Sicherheit, keine Kälte und kein Nebel!“

„Sicherheit... Sicherheit, wenn nicht einmal die hohe Wissenschaft astronomischer Pendelexperimente vor Kerzenleuchtern geschützt ist!“, schimpfte ein ehrenwert aussehender Mann und mischte sich in Höhe von Eulalias Kniekehlen ins Gespräch.

Er hatte die Erlebnisse aus jüngster Vergangenheit noch nicht vollständig verarbeitet – was aber verzeihlich war, da dieser ehrenwert aussehende Mann auf sehr viel Vergangenheit zurückblicken musste.

„Nun, jetzt stehen sie auf dem Boden, Herr Professor!“ meinte Bel Raven, die das Buch bis zu der Stelle gelesen, an der sie selbst darin vorkam. So eine Erfahrung prägt natürlich. Dadurch wusste sie mehr als alles anderen, wenn sie überhaupt etwas wusste.

„Herr Professor, Sie waren doch eine berühmte Persönlichkeit!“, fügte Penny Lo hinzu, um den kleinen Mann zu beruhigen.

„Ich WAR eine berühmte Persönlichkeit, bin aber schon längst tot!“, schimpfte Professor Draciterius unbeirrt.

„Na und. Bin es auch!“ Aus einer besonders dichten Nebelwand erhob sich ein dünnes Stimmchen. „Und das freiwillig! Hatte eine wunderschöne Zeit in meinem Haus in London, Clerkwell, Alaster Road 15!“

„So kommen wir nie weiter!“ Der Suckandpop schluckte zufrieden, während Penny Lo wütend mit dem Fuß gegen den Baumstamm stieß. „Wir müssen versuchen, zur Grenze zu kommen und...“

„Vielleicht einem Monster den Rachen verkleben? Sonst noch was?“, unterbrach ein Junge Penny Lo. Pat Swift war sicher kein Feigling, Held war er aber auch keiner.

„Wenn wir noch länger hier stehen bleiben, brauchen wir uns bald keine Gedanken mehr zu machen!“, brummte Eulalias Retter vor dem Fall.

Ein voller Mond war aufgegangen, manchmal rissen die Nebel kurz auf und es wurde hell im Wald.

„Es wird sehr kalt!“, meinte Prof. Draciterius so pathetisch, als würde er die Entdeckung der modernen Naturwissenschaften ankündigen. Dann schüttelte er seinen ehrenwerten Glatzkopf, den zwei noch ehrenwertere Kotletten schmückten, und war und blieb seiner Zeit um fünf Jahrhunderte zurück. Immerhin konnte er die anderen hin und wieder durch reformatorische Gedankenschärfe beeindrucken, wenn auch nicht gerade jetzt.

Die Gruppe der ihrem Buch Entrissenen machte sich also wieder auf den Weg. Jim Hicksley ließ alle an sich vorbeiziehen, um dann mit einem bleichgesichtigen jungen Mann namens Merlot die Nachhut des Trupps zu bilden.

So gingen sie, bis die Waldgrenze endlich hinter ihnen lag und sich Metallklinken der Morgendämmerung entgegen streckten.

„Alles Haltmachen!“, brüllte Elester Claw. Jim Hicksley stolperte fluchend zu Boden und fiel über Merlot, der sich wie ein Brett ins Gras hatte kippen lassen. Er nahm einen Schluck aus dem Flachmann und schlief ein paar Minuten später auf Merlot ein. Professor Draciterius und Dr. Sanguinis Anatomis taten sich nicht so leicht mit dem Einschlafen. Verzweifelt rannten sie zwischen den anderen hin und her, um eine Gerade zu finden. Doch die Heidelandschaft hielt nichts von Geometrie, und so begannen sich die beiden zu zanken, bis sie schließlich ebenso gerade umfielen wie Merlot.

 

Auch die Tiere waren müde. Selim, die einzig normale Gans, pardon, der einzig normale Gänserich, suchte sich einen Platz nahe eines Tümpels. Mäusegroßvater Mero fand mit seiner Familie im Gras Unterschlupf, ebenso Tarantilli, die Flohspinne, und Fischa, die Meerkatze.

Vierzehn Jugendliche sanken ebenfalls zu Boden, während ein an den Händen gefesselter Mann an eine Weide gebunden wurde und dort über seinen Qualen entschlummerte.

So schliefen alle ein. Wirklich alle? Nein, nicht alle. Wer kann sich vorstellen, dass Eulalia Birdwitch in freier Wildnis die Nacht verbringt? Sie war es nicht gewohnt, sich ohne ihre tägliche Fernsehserie dem kleinen Tod zu überlassen. Auf einem möglichst sauberen Stein sitzend dachte sie an ihr Appartement mit Bodenheizung in Los Angeles.

Doch sie war nicht die einzige, die wach war. Auch Bel Raven konnte keinen Schlaf finden. Das Mädchen hatte sich zwar, so gut es ging, in ihren Wollschal eingewickelt, doch Gewissensbisse lassen sich nicht einwickeln.

Bel blickte hinüber zu der Amerikanerin und seufzte. Ob sie zu ihr gehen und sich entschuldigen sollte? Doch damals hatte sie ja nicht wissen können, dass die Zusendung ihres Liedes an Warner Bros solche Konsequenzen haben würde. Komisch! Wo sie doch sonst immer alles wusste! Wozu das ganze nur? Erscheinen würde der Film sowieso frühestens erst 2017, wenn überhaupt. Immerhin war der Korken, den sie im Winter noch in den Pazifik befördert hatte schon an den Stränden von Hawaii angekommen. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie damals eingeritzt hatte. Doch wie immer, wenn sie daran dachte: es mochte ihr nicht gelingen. Nun, irgendwann würde das alles zu Ende sein. Von dieser Erkenntnis beruhigt, schlief sie schlussendlich doch ein.

Auch Eulalia überkam die ersehnte Ruhe. Selbst ohne die Befriedigung zu wissen, ob Betty Love in der Vorabendserie ‚Die schmelzenden Eisbären von Denver’ noch an Mister Lester McStubborn herangekommen war oder nicht. Sogar die Ungewissheit, ob sie selbst, Eulalia, Opfer eines Mordes geworden war und ihre jetzige Lage vielleicht eine Vorhölle sei, erschien ihr mit zunehmender Müdigkeit belanglos.

Penny Lo erwachte als erste von allen. Sie räkelte sich und meinte alle Knochen zu spüren. Doch was sie dann sah, schmerzte fast noch mehr. Unweit von ihr, unter einem stacheligen Gestrüpp, lagen zwei ehrenwerte Gestalten aneinandergeklammert auf dem Boden als wollten sie sich gegenseitig erwürgen. Etwas weiter, den Abhang hinunter Richtung Tümpel, schnarchte ein älterer, mit Fetzen bekleideter Mann. Unter ihm lag ein bleicher jüngerer Mann, der kaum zu atmen schien. Seine Augen waren mit einer Binde bedeckt. Penny Lo schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick in die Weite schweifen. Sie befanden sich auf einer Hochebene, vor ihnen Gras und Büsche, die in Nebeln verschwanden, ein Tümpel war gerade noch zu erkennen. Dahinter mochten sich Wiesen und Wälder befinden, in der Ferne vielleicht ein Gebirgszug. Sie sog die frische Luft ein.

Dann zog der Suckandpop ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das unförmige Etwas hing schlapp über dem tiefen Ast einer Birke. Es hieß übrigens Sucky. Penny Lo erinnerte sich an eine Schulstunde letzten Jahres, als dieses Unding besprochen worden war. Angeblich änderte es ständig seine Form und sah im wohlgenährten Zustand aus wie ein Riesenschnuller. Es ernährte sich ausschließlich von Frequenzen, eine Verstopfung hatte lautstarke Explosionen und den Gestank nach Schimpfwörtern zur Folge. Seit dieser Schulstunde wusste Penny Lo, dass Schimpfwörter stinken können.

Suckys Schlafplatz lag etwas abseits von den anderen. Nur eine etwas festere, blondhaarige Frau Mitte dreißig hatte den Fehler begangen, sich unter die Birke zu legen. Penny Los Stimmung erhellte sich augenblicklich, als sie Suckys triefenden Speichel beobachtete. Pat schien dasselbe zu beobachten und bemerkte nur: „Na, wenn die aufwacht, hat der Suckandpop sicher ein fulminantes Frühstück!“

„… Waschmaschine, weiß, schwarz und... neinnnnn!“, murmelte der an den Baum gebundene Schläfer. Der Suckandpop wurde etwas dicker, die Schnullerspitze streckte sich. Schleim tröpfelte auf Eulalias Bluse, sie lächelte im Schlaf und drehte sich auf den Bauch.

Als der Gefesselte die Augen aufmachte, sah er aus, als wäre er gerade einer Waschmaschine im Schleudergang entstiegen.

„Allle heeerkooommmen! Wir müssen einen Rat einberufen!“ Sucky bekam sein Frühstück, denn Elester Claw brüllte ziemlich laut. Aber es dauerte noch lange, bis alle versammelt waren. Vor allem die Tiere unten am Tümpel wollten nichts von irgendwelchen Zusammenkünften wissen. Die Meerkatze Fischa dachte sofort an Flucht. Versammlungen entsprachen nicht ihrem Naturell.

Die Sonne war schon fast wieder verschwunden, als Elester allen Beteiligten einen ‚Guten Morgen’ wünschte. Sucky, fett und glücklich, lag neben Elester und rührte sich nicht mehr.

„Wir haben“, erhob der ehemalige Mönch seine heisere Stimme, „einen gefährlichen Wald durchquert, und jetzt kann es nur noch einen Weg geben: den Weg zur Grenze!“

„Unmöglich!“, unterbrach ihn Professor Draciterius und hörte kurz auf, sich mit Dr. Sanguinis Anatomis zu streiten. „Ich will zurück ins Buch! Ich weiß gar nicht, warum ich mich diesem Trupp überhaupt angeschlossen habe. Habe ich mich diesem Trupp überhaupt angeschlossen? NEIN, ich wurde ausgeschlossen, eliminiert aus den Seiten, sozusagen!!“ Der Suckandpop hätte mit diesem anschwellenden Frequenzpegel seine Freude gehabt, doch sein Hunger war bereits gestillt.

„Ja, ganz richtig! Außerdem waren wir doch nur Randfiguren, ich verzichte darauf, zur Grenze des Nichtigen Reiches zu kommen, ich verzichte!“, fügte der zwielichtige Professor Anatomis Sanguinis hinzu, und man hätte meinen können, er und Professor Draciterius wären ein Herz und eine Seele.

„Ja, genau, ich bin eine ganz normale Gans. Mein Name wurde nur einmal erwähnt, stellt euch das vor: einmal! Ich wurde weder beschrieben, nein, nein, noch eigentlich durfte ich ein Wort reden, nicht reden durfte ich, jawohl! Nowhere Man. Und genauso ging es Elvira, jawohl, der Stubenfliege, genau, genau, Draculetta, ja, ja, der Fledermaus, genauso, genauso, der Flohspinne Tarantilli und Geier Willy, von der Fledermaus ‚Hu’ ganz zu schweigen! Twist and Shout. Wozu der ganze Aufwand? Wozu? Wozu? Let it be! Also, ich möchte auch zurück ins Buch, jawohl, zurück. Niemand wird mich bemerken, nein, nein, ich bin nur eine ganz unscheinbare Gans, ja, ja, und halte meinen Mund! Yeah, yeah, yeah! Und wenn das nicht geht, nicht geht, jawohl, ich meine, wenn das alles zu lange dauert, dann fliege ich, jawohl, dann fliege ich! I’ll Follow the Sun!“

„Selim hat völlig recht!“ Elester glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, als auch noch vier Jugendliche aufstanden. „Wir möchten auch zurück!“

Der ehemalige Mönch setzte sich auf den nächsten Felsbrocken. Er hätte jetzt gerne den Kopf auf seine Hände gestützt, doch um sich selber nicht aufzuspießen, unterließ er es. Stattdessen verschränkte er seine Eisenspitzen ineinander, blickte schweigend von einem zum anderen, bis es endlich ruhiger wurde.

„Es stimmt, dass wir unvorbereitet auf diese Reise geschickt wurden. Wir wurden herausgerissen aus unserem täglichen Leben und fanden uns hier wieder. Einige von uns kamen auch nicht hierher, da sie zu schwer waren wie der Steinerne Löwe oder zu weit weg wie Kat Waterrise und Lerry Miller... Aber ihr wisst, was uns alle verbindet!“

„Ja, es verbindet uns, dass wir im Nirgendwo herumsausen...!“, piepste Draculetta, die Fledermaus.

„...und dass wir einmal gemeinsam in einem Buch waren, jedoch daraus – wodurch auch immer – verbannt wurden!“, ergänzte die Flohspinne Tarantilli.

„Freunde! Dort, wo ihr zurück wollt, ist keine Heimat! Wir alle waren doch nur Randfiguren in diesem Buch, keiner von uns war in die Handlung verwoben. Vielleicht haben wir jetzt, obwohl verbannt, die Möglichkeit, einen neuen Weg zu gehen und zu uns selbst zu finden! Jetzt können wir unsere eigene Geschichte schreiben! Der Weg ist das Ziel, und es ist alleinig unser Weg! Als erstes müssen wir die Grenze dieser Landschaft erreichen, denn wir befinden uns hier im Nichtigen Reich. Alles ist der Nichtigkeit preisgegeben, da es keinen Stein, keine Pflanze, keinen Tümpel und keinen Berg wirklich gibt, aber wenn wir…“

„Eben…! Alles ist so nichtig hier!“, unterbrach Prof Draciterius Elester aufgebracht. „Dann kehren wir doch ins Buch zurück! Ich brauche keine eigene Geschichte. Meine adeliges Blut ist geschichtsträchtig genug!“

„Nein, das ist nicht möglich!“, mischte sich Penny Lo ins Gespräch. „Wir können nicht mehr ins Buch zurück! Wären wir wenigstens in der wirklichen Welt, dann könnten wir unser Buch suchen und vielleicht wieder zwischen den Zeilen verschwinden. Doch wo das Nichtige Reich genau ist, wissen wir nicht. Wir wissen ja nicht einmal, wer wir genau sind! Wir haben die Form von Menschen und Tieren, aber das einzige, was wir sicher wissen, ist, dass wir in einem Buch entstanden sind! Außerdem ist das hier bei weitem nicht Schottland! Wir wandern doch schon tagelang Richtung Westen und hätten längst das Meer erreichen müssen, doch hier gibt es kein Meer!“ Diese Feststellung traf die Meerkatze Fischa. Ihre Enttäuschung war riesig. Da sie das Meer in ihrer Gattungsbezeichnung trug, hatte sie sich immer schon gewünscht, es einmal zu sehen.

Der Professor quengelte unterdessen unbeirrt weiter: „Und ob ich ein Mensch bin! Nieder mit dem versklavenden Idealismus, es lebe der Humanismus – auch wenn ich meiner Zeit etwas vorgreife! Schauen Sie sich ein Bild aus dem 16. Jahrhundert an: auf einer zweidimensionalen Fläche ist bereits eine räumliche Darstellung zu erkennen! Dank dem logischen Verstand und der genauen Beobachtung! Pah, wahrlich, ich sage Ihnen: cogito, ergo sum! Wir gehen einfach den Weg zurück, meine Herrschaften, und ich werde diesem Nichts eine Dimension hinzufügen – dank meiner Pendelexperimente, um uns wieder unserer wahren Heimat zuzuführen! Vertrauen Sie auf die Wissenschaft der Renaissance – ich habe schließlich Leonardo da Vincis geometrische Skizzen nicht umsonst studiert!“ Viele Augenpaare blickten begeistert auf den kleinen Mann. Nur Merlot und einige wenige sahen betreten aus. Der junge Vampir knickte sogar sichtlich ein. Er hatte nämlich einen Hang zu geisteswissenschaftlichen Überlegungen und dachte weiter als der Professor der Renaissance: wenn es nämlich dieses Nichtige Reich gar nicht gab, dann gab es ihn wahrscheinlich genauso wenig – das zumindest verriet eine von allem Idealismus befreite Logik. Trotzdem tauchte das Dämmerlicht die Gesichter aller in trübe Schatten.

Schließlich erklang wieder Elesters Stimme. „Pat, nimm mal den Stock!“ Als Elester begann, in die Luft zu hauchen, verstand der Junge. Er hielt dem Kapuzenmann einen nichtigen Stock vor den Mund, sofort entzündete er sich. Bald darauf brannte ein kleines, wenn auch nichtiges, Feuer. Elester starrte in die nichtigen – wir wissen es schon – Flammen und dachte nach.

Merlot hielt es schließlich nicht mehr aus. „Aber…, wenn wir irgendwo sind, wo wir nirgendwo sind, sind wir selbst dann überhaupt irgendwie oder sind wir vielleicht nirgendwie?“ Die Reaktion der Gefährten war für Merlot erstaunlich. Selten hatten seine Worte dasselbe ausgelöst wie seine Bisse – panische Aufschreie. Am schlimmsten dran war Eulalia. Nach tagelangem Herumirren mit diesen Irren, frisch bespuckt von einem Unding, und jetzt auch noch der Gewissheit beraubt, überhaupt zu existieren, reifte in ihr im Nirgendwo die Erkenntnis, dass dies keine Vorhölle, sondern die Haupthölle sei. Ob es eine solche überhaupt gab, hatte sie sich nie gefragt. Sie kniete nieder und begann um Verzeihung ihrer Sünden zu bitten. Bel Raven näherte sich ihr vorsichtig und meinte leise: „Es wird alles wieder gut!“