Wanda und Wendelin

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CHRISTIAN

Die Hälfte der Stufen hat sie hinter sich und plötzlich hört sie ungewohnte Laute, ein Wimmern. Jemand weint, röchelt. Das kommt von der oberen Treppe, die zur zweiten Etage führt. So schnell es geht steigt sie weiter die nächsten Stufen hoch. Nun sieht sie eine Gestalt am dem Boden liegen.

Es ist Christian. Er lebt seit achtzehn Jahren hier. Von der Schwester hatte Wanda erfahren, dass Christian bei der Geburt eine irreparable Schädigung des Gehirns davongetragen hatte.

Seine Mutter hatte ihn sehr geliebt und vor ihrem Tode mit Schwester Anja die Vereinbarung getroffen, den nächsten Platz für ihren Sohn zu reservieren. Das war vor achtzehn Jahren geschehen. In einer Behinderten Werkstatt hatte er einige handwerkliche Fähigkeiten erworben, die er hier anwenden konnte. Er half in der Waschküche, ordnete im Keller die Regale und beim Service in der Küche. Alle mochten ihn. Er war hilfsbereit und fröhlich und dankbar für ein gutes Wort. Zigaretten liebte er. Für seine kleinen Dienste wurde er mit seiner „Lieblingsnahrung Schokolade“ von den Bewohnern entlohnt. So hatte er seine feste Position im Seniorenheim.

Endlich erreicht sie ihn. Verzweifelt versucht Christian mit einer Hand nach einem Halt zu greifen. Atemlos kniet Wanda neben Christian nieder, nimmt seine Hand in ihre und hält sie ganz fest.

Spontan wird ihr bewusst, dass hier ein Mensch, Christian, im Sterben liegt und Hilfe braucht. Was kann sie tun? Verzweifelt sucht sie jemanden, der sich um ihn kümmern könnte. Niemand ist da.

Das Wimmern von Christian, den sie nur durch wiederholte Begegnungen kennt, löst eine Aktivität in ihr aus und lässt sie unbewusst handeln.

„Christian, ich bin bei dir. Sei ganz ruhig. Alles wird gut.“ Sie streicht ihm übers Haar, das ihm in nassen Strähnen in die Stirn fällt. Dann streichelt sie auch über sein Gesicht. Mit angstgeweiteten Augen schaut Christian sie an. „Christian, ich bin ja da.“

Dann versucht Wanda Hilfe herbei zu rufen. „Hilfe! Bitte helfen sie! Hilfe. So helft mir doch.“

Niemand rührte sich. Niemand hört ihre Rufe.

‚Was kann ich nur machen?’ flüstert Wanda leise. Dann redet sie ruhig auf Christian ein. „Alles wird gut. Christian, kannst du mich hören?“

„Lass mich nicht allein. Bleib bei mir“, es war nur ein leises, mühevolles Flüstern.

„Christian, ich bleibe bei dir. Alles ist gut. Christian, ich bin bei dir.“ Wanda bettet seinen Kopf auf ihren Schoss. Dann nimmt sie seine Hand in ihre. Sie streicht über sein Gesicht.

Die Hand von Christian entspannte sich. Doch Wanda hält sie fest als könne sie ihre Energie auf Christian übertragen.

Wanda legt ihre Finger an die Halsschlagader um seinen Puls zu tasten. Vergeblich. Dann legt sie ihre Hand auf seine Brust. Ein letzter tiefer Seufzer, sein Herz hat aufgehört zu schlagen. Alles Leben hat seinen Körper verlassen. Seele und Körper haben sich getrennt. Christian ist tot. Und obwohl sie das spürt, will sie es nicht wahr haben. Umständlich zieht sie ihre Jacke aus und deckte ihn zu. Vorsichtig hebt sie seinen Kopf und schiebt ihren Schal als Kissen darunter. Sie steht auf und schaut sich suchend um, aber niemand ist zu sehen. Dann kniet sie neben Christian streicht noch einmal über sein Gesicht und seine Hand.

Leise betet sie, dass die Engel ihn geleiten, ins Licht, in die andere Dimension.

Um diese Zeit ist so etwas wie Rushhour im Haus. Die Schwestern und Helferinnen führen die Bewohner, die alleine nicht gehen können, zu den Tischen. Dann helfen sie beim Essen. Alle Bewohner und das Personal befinden sich im Speiseraum.

Für die Bewohner hier besteht Essen zu einem der wenigen Highlights des Tages. Während des Essens kann man der Einsamkeit im Zimmer entfliehen, bevor der Tag zu Ende geht.

„Es ist eine ungünstige Zeit, zum Sterben, Christian.“

Plötzlich denkt Wanda an Wendelin. Wo ist er geblieben? Er musste doch längst sein Auto abgestellt haben und ins Haus gekommen sein.

Sicher hatte er den Lift genommen.

Noch einmal streicht sie über Christians Wangen.

Dann geht alles sehr schnell. Sr. Anja und Sr. Paula stehen plötzlich neben ihr. Sie hat das Kommen der Beiden nicht bemerkt. Sie ist weit weg, bei Christian.

Behutsam nimmt Sr. Anja die Hand von Wanda und führt sie in ihr Zimmer während Paula sich um Christian kümmerte. Wanda setzt sich auf einen Stuhl. Langsam lässt die Spannung nach und ein erlösendes Weinen lässt ihre Muskeln entspannen. Nach einer Weile kehrt Wanda wie aus einer Ohnmacht zurück ins Hier und Jetzt.

„Tief einatmen, ja das hilft. Sie haben einen leichten Schock erlitten. Ganz ruhig“, wohltuend hört sie die Stimme von Schwester Anja.

„Soll ich Ihnen etwas zum Essen besorgen?“

Schwester Anja bringt Tee und eine Scheibe Brot mit Käse.

„Sie können mich aber nun alleine lassen. Ich bin okay. Danke für alles, Schwester Anja.“

„Meine Gedanken begleiten ihn auf seinem Weg. Das habe ich ihm versprochen.“

Schwester Anja drückte die Hand von Wanda. „Er war ein Kind Gottes, so haben wir ihn immer gesehen.“ Mit diesen Worten und einem beruhigen Lächeln verlässt Schwester Anja das Zimmer.

Sie spürt, dass Wanda jetzt alleine sein will. Sr. Anja hat seit über vierzig Jahren ältere Menschen begleitet, ist ihnen nahe gewesen. Hat die Angehörigen oft getröstet, wenn Mutter oder Vater gestorben waren. Dabei hat sie eine Sensibilität entwickelt, die es ihr ermöglicht, in entscheidenden Situationen einfühlsam zu reagieren.

Wanda schiebt einen Stuhl in die Nähe des Sessels, um ihre Beine darauf zu legen. Sie setzt sich hin und schließt die Augen.

Was für ein Tag.

Es war das erste Mal gewesen, dass sie den Tod so nahe erlebt hatte. Jacob war im Krankenhaus gestorben und so hatte sie sein Sterben, sein Letztes auf dieser Welt, nicht erlebt. Er hatte mehrere Tage im Koma gelegen und sie war tagsüber und viele Nächte bei ihm gewesen. Sie hatte neben seinem Bett auf einem Sessel geschlafen. Die Ärzte hatten gesagt, sie solle nach Hause gehen und sich ausruhen. Eine Stunde nachdem sie gegangen war, war er dann gestorben. Vielleicht hatte er es so gewollt.

Vorhin hat sie dem Tod von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden. Sie hatte ihn direkt erlebt. Nun empfand sie das Sterben anders.

Plötzlich glaubt sie ein Geräusch zu hören. Sie öffnete die Augen. Vor ihr steht Wendelin und nimmt sie ganz fest in seine Arme. Sie hat sein Klopfen nicht gehört.

„Wanda, soviel ist geschehen, seit wir uns verabschiedeten. Und doch sind erst weniger als hundert Minuten vergangen.“

„Oh Wendelin, ich hatte mir vorhin so gewünscht, dass du kommst.“

Wanda setzte sich auf die Couch und Wendelin nimmt im Sessel, ihr gegenüber Platz.

„Wenn du nicht zu müde bist, würde ich gerne erfahren, wie und was alles geschehen ist.“

„Ich hole uns einen Wein?“

Wendelin nickt zustimmend.

Unbemerkt, wie selbstverständlich, waren sie zum Du übergegangen. „Auf Christian, dass er eine gute Reise hat.“

„Es ging alles sehr schnell. – Ich glaube, es war gut, dass ich bei ihm war. Er wollte nicht alleine sein.“

„Ich habe ihn kaum gekannt da ich ja noch nicht so lange hier bin. Er hatte eine Behinderung, wie ich hörte.“

„Er war ein ‚Kind Gottes’ wie Sr. Anja es nannte. Das ist wohl eine sehr passende Formulierung, denn er war ein fröhlicher Mensch.“

„Nun endet dieser erste gemeinsame Tag mit einem so traurigen Ereignis.“

„Es ist eigentlich nicht so traurig. Christian ist seiner Bestimmung entgegen gegangen. Wir beide sind uns näher gekommen. Lass’ es uns von dieser Seite sehen. Alles hat eine Bedeutung. – Es ist mir bestimmt gewesen, heute bei Christian zu sein, damit er nicht alleine war. Und das gibt mir ein gutes Gefühl. Es ist größer als Traurigkeit. Ich kann in seinem Tod sogar etwas wie Freude für ihn empfinden, Freude darüber, dass er sein Ziel erreicht hat. Er hat nun keine Angst mehr.“

„Welch ein Zufall, dass du die Treppe genommen hast und nicht den Lift. Wahrscheinlich hätte man ihn erst gefunden, als er schon tot war.“

„Ich glaube nicht an Zufälle. Damit kann ich nichts anfangen. Alles hat einen Sinn, alles unterliegt einer Bestimmung. Oder man kann auch sagen, es war eine meiner Aufgaben in diesem Leben, Christian beim Abschied zu begleiten. Ich habe ein so gutes Gefühl im Nachhinein, dass ich es sein durfte, die bei ihm war. Es gibt mir ein friedvolles, dankbares Gefühl.“

Sie schweigen beide.

Wanda ist plötzlich sehr müde. Sie hebt ihr Glas. „Wendelin, trinken wir auf diesen Augenblick, den wir gemeinsam erleben.“

Wendelin hebt sein Glas und leert es. Dann verabschiedet er sich. Es war ein erlebnisreicher Tag. Auch er spürt nun, nachdem er mit Wanda gesprochen hat, eine kaum zu unterdrückende Müdigkeit aufsteigen. Beide schlafen ganz bald ein. Jeder in seinem Zimmer und doch spüren beide die Nähe des anderen.

Im Traum geht Wanda durch einen langen, dunklen Tunnel. Sie sieht das Licht am Ende des Tunnels. Aber sie muss umkehren. Es ist nicht ihr Weg. Noch nicht. Sie läuft zurück, immer schneller. Plötzlich ist es kein Tunnel mehr. Es ist ihr Strand. Sie steht vor ihrem Haus in Fort Lauderdale. Die Türe ist angelehnt und sie geht hinein. Aus dem großen Spiegel im Eingang lächelt ihr eine junge Frau entgegen. Welcome at home.

Unruhig dreht sie sich im Bett. Sie schläft wieder ein. Sie träumt erneut. In einem Boot fährt sie durch eine enge, dunkle Schlucht zwischen zwei Felsen hindurch. Ein Jeep hält auf der anderen Seite der Felsen. Ein Mann kommt auf sie zu. Das offene Meer liegt vor ihr. Sie verlässt das Boot und geht über schwarzen Kies. Bis zu den Fußgelenken versinkt sie im Wasser. Sie schaut sich um. Einer der beiden Männer, die mit dem Jeep kamen, versinkt im schwarzen Kies. Nur noch sein Kopf schaut heraus. Sie hat Angst, läuft immer schneller bis sie einen steilen, grasbewachsenen Hang erreicht. Mühevoll zieht sie sich an den Grasbüscheln hoch. Oben ist eine Straße. Dort muss sie hin. Menschen in indischen Gewändern gehen lachend über diese Straße. Sie muss diese Straße erreichen. Dort kann sie leben. Nur nicht zurück, dort unten ist der Tod. Mühevoll versucht sie, sich die letzten Meter hoch zu ziehen. Doch die Grasbüschel reißen. Nun versucht sie rechts neben sich andere Grasbüschel zu fassen. Ihre Finger umklammern ein Stück Holz, das fest im Boden steckt. Es ist eine Wurzel. Sie hält sich daran fest. Es ist einfacher, seitwärts höher zu steigen. Noch einmal nimmt sie die verbleibenden Kräfte zusammen. Nur nicht nach unten schauen. Die Gedanken arbeiten fieberhaft. Hoch, ich muss hoch. Nur Zentimeter trennen sie vom Straßenrand. Ich muss dort oben einen Halt finden. Den Fuß zwischen Wurzel und Boden klemmen. Sie erwacht. Ihr Puls rast. Sie wäre so gerne dort oben angekommen!

 

Noch lange liegt sie wach – - – Sie ist müde von der Anstrengung, denn es war ein energieraubender Weg.

Sie steht auf und macht sich kurze Notizen über den Traum. Auf dem Tisch steht ihr Glas vom Abend. Den letzten Schluck Wein trinkt sie aus, und dann legt sie sich erneut ins Bett. Sobald sie den Kopf auf das Kissen legt, den Geruch ihres Haarsprays auf dem Kissen riecht, kehren die Bilder des Traumes wieder, etwas schwächer jetzt, aber doch noch deutlich genug, um sie am Einschlafen zu hindern. Sie riecht das Gras. Wird sie in einem neuen Traum die Straße erreichen?

Was ist geschehen?

Wanda hat Wendelin in der letzten Woche nicht gesehen. Ohne eine Nachricht für sie, Wanda, zu hinterlassen, ist er verschwunden. Sicher könnte sie von der Schwester erfahren, wo er so plötzlich abgeblieben ist. Aber sie will keineswegs das Interesse der anderen auf sich lenken. Und trotzdem, sie muss etwas tun. Denn sie vermisst Wendelin. War er denn schon so wichtig geworden? Na gut, zuerst telefoniert sie mit Ihrer Freundin Anna. Sie verabredet sich zu einem gemeinsamen Nachmittag. Es gibt so vieles zu besprechen. Da ist die Sache mit Christian. Die hat Wanda zwar überwunden, aber mal sehen, welche Bedeutung Anna darin sieht. Dann müssen sie über Träume sprechen und Anna wird auch noch ihre Gedanken zu anderen Gesprächsbereichen einbringen wollen. Sie haben viel zu lange nicht miteinander kommuniziert. Die Zeit fliegt.

‚Aber zuerst möchte ich doch sehr gerne wissen, wo Wendelin sich aufhält. Sollte ich denn zu viel an weiblicher Erwartungshaltung eingebracht haben?’

Immer öfter denkt Wanda an Wendelin. Sie wünscht ihn herbei. Nicht, dass er Anna ersetzen könnte. Das sind zwei Menschen, die in unterschiedlicher Form wichtig sind. Sie ergänzen sich. Ja, für Wanda bedingen sie sich sogar in der Form der emotionalen Intelligenz. Die Gelassenheit, die Anna ihr vermittelt, braucht sie nun. Wendelin hat eine andere Bedeutung. Das Treffen mit ihm hat eine Seite in Wanda berührt, die eigentlich ganz unpassend zu ihrem Alter ist. Auch das muss sie mit Anna besprechen, ob es möglich ist, sich noch einmal verlieben zu können?

‚Wo Wendelin nur sein mag?’ Er ist so vertraut, als würde sie ihn aus einem anderen Leben kennen …

Das Klingeln des Telefons weckt Wanda aus ihren Gedanken.

„Wanda, ich bin in London. Es ist wegen meines Sohnes Marcel.“ Pause.

„Wendelin, was machst Du in London? Ich verstehe das nicht. Wieso warst Du plötzlich und ohne mir etwas zu sagen weg? Was ist geschehen?“ Als sie keine Antwort erhält, redet sie einfach weiter.

„Geht es Dir gut?“

„Ich komme morgen zurück. Der Flieger landet um 11.05 Uhr. Wir sehen uns dann.“

„Möchtest Du dass ich Dich abhole?“

„Ja, ich wünsche mir, dass Du mich abholst. Bis morgen dann.“

Eine fremde Stimme hat zu ihr gesprochen. Und doch war ein Hauch, ein Unterton, der vertraut war. Und ganz viel Traurigkeit. Unendliche Traurigkeit.

Wanda schaut dem Sekundenzeiger zu, wie er sich nur langsam vorwärts zu bewegen scheint. Es sind dies die Momente, da man glaubt, die Zeit habe aufgehört sich ihrer Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen. Man glaubt, sie stehe still.

Heute Nachmittag wird Wanda den Bewohnern eine Geschichte vorlesen. Die Geschichte von den roten Schuhen. Hinterher wird es zu einem Gespräch kommen, das Wandas ganzen Einsatz fordert.

Dann wird es nur noch eine Nacht der Ungewissheit geben. Sie ist erleichtert. Obwohl sie ahnt, dass Wendelin sich einer schwierigen Sache in London stellen musste.

Wanda glaubt, einen weiteren Part ihrer Bestimmung erfüllen zu müssen. Mit dem Älterwerden hat sie gelernt, bestimmte Signale aus dem Unbewussten zu erkennen. Über die Meditation erlangt Wanda eine tranceähnliche Entspannung. Intuitiv reagiert sie. Blitzartig erlebt sie Visionen. Es dauert meist eine Weile bis sie diese einzuordnen in der Lage ist. Die Gewissheit, dass unser menschliches Dasein kosmischen Gesetzen unterliegt, lässt dem eigenen Entscheidungsraum dennoch einen Freiraum. Diese Visionen erfordern ihre ganze Energie, hinterher fühlt sie sich total erschöpft.

Dieses Spiel, in Form einer ständigen Herausforderung, wird niemals enden. Es gilt, jeden Augenblick bewusst zu leben. Die Schattenseiten in uns gehören zum Ganzen, machen den Menschen in seiner Persönlichkeit erst liebenswert. C.G. Jung hat darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, seine Schattenseiten anzunehmen.

WIEDERSEHEN

Wanda steht vor dem ‚Board of Arrival Flight 8235 landed.’

Gedanken schießen durch ihren Kopf, denen sie nachgeben möchte, sie möchte weglaufen. Zu spät, Wendelin tritt durch die Schiebetüre und sogleich begegnen sich ihre Augenpaare.

„Wer ist dieser Wendelin, dass er mir so vertraut ist?“ – kurzer Gedankensprung, wirbelt durch Wandas Kopf. „Es ist gut, dass Du da bist.“

„Wie war der Flug? Hast du wenigstens unser Wetter vermisst?“

Sie gehen schweigend zum Auto. Als das Gepäck im Kofferraum verstaut ist und Wanda zur Autobahn heraus fährt, beginnt Wendelin zu sprechen.

„Wanda, zuerst einmal sorry, dass ich dir nicht mitgeteilt habe, dass ich nach London fliege. Es ging alles ziemlich schnell. Trotzdem, es ist keine Rechtfertigung. Ich versuche zu erklären, auch mir selber gegenüber, warum ich dich nicht informierte. Ich wollte zuerst Gewissheit haben, was wirklich geschehen war. – Ich bekam einen Anruf in der Nacht vom Police Department Headquaters in London, wobei man mir mitteilte, dass mein Sohn tödlich verunglückt sei. Ich glaubte kein Wort. Wie im Schock buchte ich den nächsten Flug nach London. Natürlich wäre mir Zeit geblieben, dich zu verständigen. Aber ich wollte keinen Menschen sehen. Nicht reden, nicht in Erwägung ziehen müssen, was, wenn … Ich wollte nur alleine sein.“

„Ja, ich verstehe. Wendelin, erzähle mir nur das was du möchtest und wann du es möchtest. Lass uns versuchen, eine Freundschaft auf dieser Basis entstehen zu lassen. – Ich würde nun gerne mit dir ein Café aufsuchen bevor wir ins Haus fahren. Was meinst Du dazu?“

„Ich erlebe ein Gefühl der Geborgenheit, jetzt, da ich mit dir zusammen bin.“

Im Café hat Wanda die Bestellung aufgegeben. Heute ist es so ganz anders als beim ersten gemeinsamen Treffen außerhalb des Hauses.

Wanda erzählt, wie sie den Nachmittag mit den Bewohnern verbracht hat. Sie hatte die Geschichte von den roten Schuhen erzählt und die Frauen waren wieder zurückversetzt in ihre Jugendzeit, waren wieder kleine Mädchen, Teenager geworden. Sie hatten ihre Bedürfnisse und Wünsche aus ihrer Kinderzeit neu empfunden. Nicht wenige der „Mädchen“ hatten den großen Wunsch gehabt, einmal rote Schuhe zu besitzen. Heute hatten sie ihre Gebrechen und Krankheiten vergessen. Die Gegenwart war für die Bewohner mit der Vergangenheit ausgefüllt worden. Alle ließen sich in eine Märchenwelt führen, die eigenen Träume neu erleben.

Niemand hat bemerkt, dass Wanda eigentlich egoistisch ‚Zeit füllen’ musste, um das Warten auf Wendelins Kommen zu verkürzen. Das alles erzählt Wanda nun. Mit keinem Wort berührte sie sein Erlebnis in London. Er lächelt sie an. Und das genügt.

Am Abend kommt Wendelin, wie damals, als Christian gestorben war, zu Wanda. Damals, das war vor zehn Tagen.

„Gibt es noch eine Flasche Wein für uns beide? Ich denke, der Anlass rechtfertigt einen guten Tropfen.“

Er hört sich selber reden, so als stände er außen vor. Das waren doch nicht seine Worte! Es klang so, als gäbe es etwas zu feiern! Wie absurd! Wie ein Echo hallt das Gesprochene in seinem Kopf, „rechtfertigt“, hatte er wirklich „rechtfertigt“ gesagt?

Wanda gibt Wendelin die Flasche zum Entkorken und stellt zwei Gläser bereit.

Als der Wein in den bauchigen Kelch fließt und ihn zu einem Drittel mit seinem warmen Rot füllt – durch den Schein der Kerze wird die Farbe noch um eine Nuance dunkler – beginnt Wendelin zu sprechen. Etwas Feierliches erfüllte den Raum.

MARCEL

„Mein Sohn ist tot. Ich fühle mich an seinem Tode mitschuldig. – Als kleiner Junge war er ein Sonyboy. Den ersten Schmetterling sah er im Frühjahr. Und die einzige Sonnenblume, die aus dem Samen erblühte, wuchs in seinem Topf. Der Frosch, den er im Bach gefangen hatte, quakte zu seinem Vergnügen, wenn er ihn rief. Der Bussard kreiste über ihm, sobald er in den Wald ging. Die Enten im Teich hatte er dressiert, dass sie über eine Leiter hintereinander liefen und morgens auf dem Dach eines niedrigen Schuppens ihre Körner holten. Hund Robby und Kater Hermann liefen ihm entgegen, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Er investierte viel Zeit, die Tiere zu versorgen, sie vertraut zu machen. Ein Rabe weckte ihn morgens in seinem Bett, wenn sein Fenster geöffnet war. Geduldig wartete der Rabe, pickend und lärmend, zerkratzte die Tapete hinter dem Kopfende seines Bettes, was der Mutter nun gar nicht gefiel, bis Marcel sich endlich reckte und wach wurde. Dann holte Marcel Brotkrümel und fütterte seinen Raben. In der Schule hatte er keine nennenswerten Probleme. Seine Mutter unterstütze seine Aktivitäten. Sie war sehr stolz auf ihren Sohn. Wir liebten ihn beide sehr. In der Pubertät gab es zwischen meinem Sohn und mir schon einige disharmonische Situationen. Aber da ich sehr häufig unterwegs war, wurde der Machtkampf zwischen uns beiden nie ausgetragen. Als meine Frau starb, war Marcel gerade achtzehn geworden. Der Tod seiner geliebten Mutter hatte ihn aus der Bahn geworfen. Mit diesem Tag war er erwachsen geworden. Seither gab es den unbekümmerten Jungen nicht mehr. Ein Hauch von Vorwurf mir gegenüber am Tode der Mutter Schuld zu haben, glaubte ich bei ihm zu spüren. Es war wohl eher Verzweiflung und Schmerz über den Verlust eines so sehr geliebten Menschen. Das Band zwischen meinem Sohn und mir war empfindlich dünn geworden und hatte seine Elastizität von Verstehen und Vertrauen verloren. Jahre waren vergangen. Marcel hatte seine Karriere als Banker gemacht. Er hatte in New York, Paris und Zürich Erfahrungen gesammelt und lebte nun seit drei Jahren in London. Erst vor einem Jahr hatte ich ihn in England besucht und während eines gemeinsamen Wochenendes haben wir Nähe für einander gespürt und herausgefunden, dass wir um den gleichen Menschen geweint hatten. Seine hübsche Freundin Angela habe ich während eines Dinners erlebt. Sie war sehr zurückhaltend, jedoch auch sehr selbstbewusst. Seit diesem Wochenende hatten wir ein neues harmonisches Miteinander. Ich habe dort meinen Sohn wiederbekommen. Ein neues Gefühl für Marcel war entstanden. Mir gegenüber stand ein Mann, kein Kind mehr, ein Mensch, dessen Nähe ich spürte, der in meinen Gedanken einen festen Platz einnahm. Ich glaubte, ihn zu kennen, weil er ja mein Sohn war. Wie einfach hatte ich es mir gemacht. Wie wenig habe ich wirklich von ihm gewusst. Und doch, auch wenn ich nur einen Teil von ihm kannte, so wurde nun mit seinem Tod ein Stück aus mir herausgeschnitten. Wie mit einem Skalpell säuberlich herausgetrennt. Ähnlich wie damals, als ich meine Frau verlor. – Und immer wieder steht der Mensch vor dem ewigen Alleinsein.“ Die letzten Worte flüstert Wendelin leise, als spräche er zu sich selbst.

Es ist ganz ruhig. Eine Stille, die der Würde des Augenblickes angemessen ist und nicht verletzt werden darf.

 

Wanda weiß, sie muss diese Stille ertragen. Sie scheint endlos.

Erneut beginnt Wendelin zu sprechen: „Man hat ihn in seinem Office gefunden. Er hatte sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen. – Das große WARUM steht im Raum. Die Antwort bleibt offen. Ich werde viel Zeit benötigen, um herauszufinden, wo mein Part in diesem Spiel beginnt und endet. – Nichts habe ich über ihn gewusst. Wie weit entfernt waren wir uns, dass er mit seinen Sorgen nicht zu mir kommen konnte. Wie verzweifelt muss er gewesen sein – Am Ende habe ich als Vater total versagt.“

Wieder ist es still geworden. Wanda ist erschüttert. Mitgefühl und Hilflosigkeit lassen sie vergebens nach Worten suchen.

Was kann ein Mensch in einem solchen Augenblick einem anderen Tröstliches sagen? Was kann man überhaupt sagen?

Wanda sieht Wendelin hilflos an. Stumm versucht sie ihr Mitgefühl aber auch ihr Entsetzen auszudrücken.

Dann hörte sie Wendelin sagen: „Sorry, ich habe dir einen Schock versetzt. Sorry, Wanda. Vielleicht hätte ich nach besseren Worten suchen sollen. – Ich hatte einige Tage Zeit, um mich mit dem Unabänderlichen abzufinden, jedoch für dich ist es sehr plötzlich …“ –

„Es tut mir so entsetzlich leid.“

Wanda geht zum Fenster und öffnete es. Die kühle Luft tut ihr gut. – Sie friert obwohl die Sonnenstrahlen ihre nackten Arme wärmen.

Dann dreht sie sich um und geht zu Wendelin hin. Stumm umarmt sie ihn. So stehen sie lange als suche der eine bei dem anderen Halt. Als sie sich von einander lösen, spürte Wanda wie sich auch die Spannung in ihr langsam löst.

„Wie wenig ist doch der Mensch im Vergleich zur Unendlichkeit, was bleibt ist ein Nichts – und doch, wie viel ist er im Vergleich zum Nichts! – Es ist Alles! Der Körper löst sich auf, vergeht. Was bleibt, sind die Spuren der Liebe. Wir bleiben zurück mit unserem Gefühl, das ist die Verbindung. Trauer wird abgelöst von Erinnerungen. Alles was begonnen hat, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wenn zwei Menschen einander lieben, entstehen Gefühle für einander. Es ist etwas geschehen, was durch nichts mehr ungeschehen gemacht werden kann. Emotionen können sich verändern, zur Erinnerung werden, aber sie können nicht verloren gehen.

Dieser Tod hat außer der Trauer, die bei dir ausgelöst wurde, eine Bedeutung. Es wird nun nichts mehr so sein wie vorher. Wenn du magst, versuchen wir gemeinsam die Bedeutung dieser Tatsache für dich zu erkennen und die Veränderung in eine Richtung zu bringen, die deine Bestimmung sein könnte. Du siehst, ich glaube ganz fest an Aufgaben, die wir wahrzunehmen haben in diesem Leben. Wenn du das erkennst und annimmst, wird die Zeit deine Verbündete werden. Gemeinsam mit ihr wirst du immer mehr erkennen, wohin dein Weg führt. Du bist nur dir selber gegenüber verantwortlich. Das beinhaltet, dass du dir selber verpflichtet bist, dich zu lieben und so anzunehmen, wie du bist. Wenn es möglich ist, respektiere die Entscheidung deines Sohnes, die er für sich getroffen hat, ohne dass du dabei Schuldgefühle empfindest. Es gibt keine Schuld. Schuld und Angst sind Monster und Killer, sie haben keinen Nutzen. Wir haben kein Recht, jemandem oder gar sich selber, Schuld’ zuzusprechen, für etwas, was wir nicht verstehen. Aber es gibt die Verantwortung. Schuldzuweisung ist auch immer Rechtfertigung und aus einem destruktiven Verhalten entstanden. Konstruktiv sein, heißt, annehmen und einen neuen Weg finden. Denn, der Weg ist das Ziel. Auch weiterhin. Wir dürfen klagen und fragen und zweifeln und trauern. Aus diesen unterschiedlichen Phasen entstehen konstruktive Ansätze zur positiven Weiterentwicklung.“

„Eines kann ich annehmen. Das eine Veränderung begonnen hat. Aber mit der Schuld, da habe ich ein Problem. Verantwortung zu haben bedeutet doch gleichzeitig auch Schuld zu übernehmen. Das eine ist mit dem anderen verknüpft.“

„Verantwortung ist begrenzt. Es wäre vermessen, zu glauben, ein Mensch könne die totale Verantwortung für einen anderen übernehmen. Jeder Mensch hat durch die Tatsache, mit einem freien Willen geboren zu sein, auch die Verantwortung für seine Entscheidungen übernommen, ja übernehmen müssen. Du und ich, haben die Verantwortung für unser Handeln. Und den Respekt vor dem Anders-Sein des Anderen. Und mit diesem Respekt grenzen wir uns ab. Deine Trauer gehört dir. Dein Sohn hat eine Entscheidung getroffen, die du annehmen musst. Ich habe den Respekt vor deiner Trauer. Ich spüre deinen Schmerz und stehe hilflos dem Geschehen gegenüber. Was mir bleibt ist die Möglichkeit, über Schuld mit dir zu sprechen. Heute oder irgendwann. Ich kann meine Gefühle nicht auf dich übertragen. Aber ich kann mit dir über Dinge reden, die mich berühren, weil sie eine große Bedeutung für dich haben. Dein Sohn hat den Suizid gewählt. Es war seine Entscheidung. Nun ist es an Dir, ihm deinen Respekt zu erweisen. Deine Aufgabe kann es sein, das Geschehene anzunehmen. Auf ein WARUM wirst du keine Antwort finden. Annehmen ist der einzige Weg für dich und für ihn, Frieden zu finden.“

„Wanda, das was du sagst, birgt eine Logik in sich. Aber ich weiß nicht, ob ich es annehmen kann. Es ist alles so unverständlich, so endgültig. Ich will versuchen, zu verstehen.“

„Du wirst ihn nicht verstehen können. Und er konnte nicht anders handeln, als er tat. Du musst ihn nicht verstehen. Versuche, seine Entscheidung anzunehmen, sie in dein Leben zu integrieren. Du hast Zeit. Sprich mit ihm. Er ist noch nicht so weit weg. Er braucht dich und deine Liebe.“

„Was meinst du mit, ‚nicht so weit weg’?

Es folgte eine längere Pause.

„Ich denke, seine Seele ist noch in der Nähe. Es ging alles zu schnell. Die Trennung von Körper und Seele wurde zu schnell vollzogen. Die Seele sucht ihren Weg in die andere Dimension. Sie braucht dein liebevolles Wort, damit sie sich lösen kann. Gib ihn frei, lass ihn los.“ Wendelin nimmt Wandas Hand in die seine und hält sie ganz fest. Seit Tagen hatte es in seinem Innern getobt. Verzweiflung, Wut und Trauer lösten einander ab. Nur für Minuten. Dann wieder tobten diese Gefühle wild durcheinander, alle gleichzeitig. Er war in einem Raum eingeschlossen, aus dem keine Türe nach draußen führte. Und immer stieß er mit seiner Frage ‚Warum’ an Grenzen, es gab keine Antwort. Ja, er wollte ihn festhalten, ihn fragen, ihm etwas sagen. Er wollte nicht hinnehmen, dass es ihn nicht mehr gab.

Nun, mit Wandas Worten, schien sich eine Türe zu öffnen, ein Lichtstrahl fällt in den dunklen Raum, in dem er sich seit Tagen befindet. Er braucht nun nur noch heraus zu treten ins Sonnenlicht. Die Türe in seinem Innern ganz öffnen und die dunklen Gedanken zurücklassen, loslassen. Auch seinen Sohn, Marcel, muss er loslassen. In diesem Licht kann er zu neuen Perspektiven finden, sein eigenes Leben neu ordnen. Das heißt, keine Fragen mehr, kein Suchen nach einer Antwort. Nur Loslassen, ruhig werden. Der inneren Stimme lauschen, die zu seinem Kind spricht.

„Geh’ du deinen Weg. Ich bin bei dir.“