Wanda und Wendelin

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EINKAUFSTAG

‚Einkaufstag! Ich brauche Rotwein und etwas Obst. Der Rotwein gehört zu meinem abendlichen Ritual, bevor ich zu Bett gehe. Und eben dieser Rotwein ist mir ausgegangen. Das heißt, ich habe eine Reserve von zwei Flaschen. Aber nur für den Notfall. Wenn ich einmal krank sein sollte.’

Wanda mag es, Frau Wind einfach mal zuzuhören, was Frau Wind natürlich sehr begrüßt.

Frau Bach, sie wohnt Wanda gegenüber, bittet häufig, Schokolade für sie zu besorgen.

Aber nur Noisette Schokolade. Manchmal bringe ich eine kleine Packung edler Pralinen mit, Feodora oder Lind bevorzugt die Dame. Ein kleines Schwätz’chen wird von Frau Bach ebenfalls geschätzt – vielleicht hat es sogar einen größeren Wert als die Süßigkeiten.

Nie zuvor im Leben ist es so schwierig, Zeit – die Zeit, die übrig bleibt – sinnvoll zu füllen. Wanda hatte immer zu wenig Zeit. Und nun erfährt sie, dass alte Menschen zu viel Zeit haben. Sie wissen alleine oft nichts mit der noch verbleibenden Zeit anzufangen.

Zeit ist kostbar, so war es ein ganzes Leben lang, und nun?

Herr Knopf braucht immer Tabak. Er dreht sich seine Zigaretten selber. Dann sei er beschäftigt und rauche weniger. Ein gütiger, älterer Herr, ganz Kavalier der alten Schule. Wenn Wanda bei ihm klingelt, begrüßt er sie immer mit einem Handkuss, dezent, galant.

Sicher gab es früher nicht wenige Damen, die sich für ihn interessierten. Hier nun lebt er sehr zurückgezogen.

Für Ms Wighton bringe ich eine Zeitung in englischer Sprache mit. Die bekomme ich am Bahnhof. Nur ein kleiner Umweg.

Zu ihr werde ich zum Tee gehen. Wir beide plaudern gerne etwas miteinander. Für Ms Wighton ist es erholsam, und für mich ist es ein Vergnügen, in ihrer Sprache zu kommunizieren.

Ms. Wigthon kommt aus Schottland. Für sie ist es ungeheuer wichtig, dass sie Schottin ist, nicht Engländerin, nicht irischer Herkunft, nein, sie ist eine echte Schottin. Sie leidet darunter, von ihrer Familie getrennt zu sein.

Vor Jahren kam sie mit ihrem Mann nach Deutschland, aus beruflichen Gründen. Sie sei nicht mehr zurückgegangen, da sie zwei Herzen in der Brust habe. Das würde sich auch nicht ändern, wenn sie in ihrer Heimat leben würde. Immer würde ihr das fehlen, was sie gerade nicht hat. Außerdem liebt sie den Süden, Italien und Frankreich. Von hier aus sind diese sonnigen Ziele näher als von Schottland aus. Diese kürzere Distanz zum Süden war einer der Gründe für sie und ihren Mann, sich hier in Deutschland niederzulassen.

Ihre Kinder waren in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Den Schulabschluss machten sie in Deutschland. Später dann ging Ihre älteste Tochter zurück nach Schottland und heiratete dort. Sie kam nur zu Besuchen nach Deutschland. Ihr Sohn blieb hier. Dann geschah das Unfassbare. An seinem 18. Geburtstag hatte er einen Autounfall und konnte nur noch tot geborgen werden. Er wurde in der Morgendämmerung gefunden. Jede Hilfe kam zu spät. Ms Wighton hat den Verlust ihres Sohnes nie überwunden. Nachdem auch ihr Mann gestorben war, kam sie ins Seniorenhaus. Hier, so sagt sie, sei sie gedanklich ihren beiden Männern sehr nahe. Sehr häufig rede sie mit den beiden. Dabei ist keine Traurigkeit bei ihr zu spüren. Sie trifft ihre Vorbereitung auf ein Wiedersehen mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Nein, sie ist nicht verschroben. Sie hat eine Möglichkeit gefunden, ihr Schicksal anzunehmen.’

Herr Mehl spricht sehr laut. Man hört ihn über den ganzen Flur hinweg. Wanda mag ihn nicht. Vielleicht stört sie deshalb seine laute Stimme. Sein Hörvermögen ist eingeschränkt. Er gehört zu den Menschen, die von der Basis her unzufrieden und humorlos sind. Nichts für Wanda.

Und dann ist da noch Frau Busch. Eine kultivierte, gebildete Dame. In fünf Sprachen kann sie lesen und schreiben. Sie muss durch eine längere Phase von Einsamkeit und Schmerz gegangen sein. Dabei wurde der Alkohol ihr einziger, ständiger Begleiter, der zeitweise ihren Geist verwirrt. Sie muss wohl einmal sehr verletzt worden sein, Sie hat ein Misstrauen den Menschen gegenüber entwickelt, das ihrer verletzten Seele Schutz vor weiteren Verletzungen und Enttäuschungen bietet. Wenn man jedoch ihr Vertrauen gewonnen hat, so hat man für kurze Zeit eine interessante Gesprächspartnerin gefunden. Wenn sie Zuwendung erlebt, und das Misstrauen überwunden ist, entspannt sie sich. Ihre Erinnerungen kehren zurück. Sie erzählt von Reisen nach Italien. In Florenz hat sie einige Semester Kunst studiert. Ihre Schilderung von der ewigen Stadt Rom ist geradezu so, als würde man mit ihr gemeinsam auf der Spanischen Treppe sitzen und augenblicklich die Atmosphäre spüren. Während des Erzählens erinnert sie sich plötzlich an ihre Tochter, die in Rom lebt. Sie schweigt. Ihr Körper nimmt eine leicht starre Haltung an. Sie scheint müde zu sein. Ihre Augen verändern sich. Der Blick wird leer. Es ist, als wäre die Türe zu dem Gestern nun wieder verschlossen.

Wanda verabschiedet sich.

‚Heute Abend werde ich ihr den Wein bringen, den ich für sie in der Stadt kaufen werde. Ich habe mit ihrem Arzt und mit ihrer Tochter vereinbart, dass sie abends ihr Glas Wein trinken kann. Es wird ihr helfen, einen ruhigen Schlaf zu finden.’

Frau Hubertus hat eine taubstumme Tochter. Bis vor kurzem lebten die beiden Damen zusammen. Nun wollte die Tochter, die durch die Gehörlosensprache, die sie schon als junges Mädchen gelernt hat und dadurch unabhängig wurde, ein eigenes Leben führen. Eine immense Überzeugungsarbeit war erforderlich gewesen, Frau Hubertus Zustimmung zur neuen Lebensform der Tochter zu bekommen. Für Frau Hubertus war die Eingewöhnungszeit sehr schwierig. Aber nun ist sie glücklich, hier zu sein.

„Ein neues Leben hat begonnen. Und wissen Sie, ich glaube, ich habe mich sogar noch einmal ein bisschen verliebt.

Herr Schneider, Sie kennen ihn doch. Der mit dem Hund.

Meine Katze und sein Hund, sie mochten sich vom ersten Augenblick an. Ist das nicht Zeichen von oben?“

Ein verträumtes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel.

Jeden Tag führt Herr Schneider seinen Hund spazieren. Dabei lernt er andere Menschen kennen. Hundebesitzer finden leicht Kontakt. Bei Gleichgesinnten gibt es dann einen kleinen Plausch. Die Katze von Frau Hubertus trägt nun auch ein Halsband beim Spazierengehen. Seit Herr Schneider mit Frau Hubertus und Hund und Katze kommen, hat sich die Schar der Damen um Herrn Schneider bis auf einige wenige, vermindert.

Wanda findet es schön, dass sich zwei Menschen im Alter noch einmal verlieben können.

Frau Barossa war Schauspielerin am Wiener Theater. In ihrer Wohnung hängen an den Wänden ihre Fotos aus „der guten alten Zeit.“ Sie war wohl in Theaterkreisen zu ihrer Zeit, in den 50ziger und 60ziger Jahren, erfolgreich und sehr bekannt. In Zeitschriften, die sie aufgehoben hat, finden sich Fotos von ihr und eine positive Kritik.

Einmal schmückte sie sogar als Hauptdarstellerin das Cover einer österreichischen Frauenzeitschrift.

„Das ist Vergangenheit. Dieser Glanz verblasst sehr schnell und zurück bleibt nur die Erinnerung.“

„Und ein außergewöhnliches, ein erfülltes Leben.“

„Ja, und Einsamkeit.“

„Haben Sie sich nicht ein wenig mit Frau Feterowski angefreundet? Sie kommt auch aus Österreich, ich glaube aus Linz?“

„Sie haben Recht, wir beide verstehen uns und es fühlt sich gut an, in der Heimatsprache miteinander zu reden. Sie ist eine Dame, feinsinnig und mit Humor. Ein Zufall, dass wir uns hier im fremden Land begegnen. Finden Sie nicht?“

„Wunderbar.“

Frau Barossa bittet mich, ihr Champagner mitzubringen, etwas Salzgebäck und Käsewürfel.

„Wenn Frau Feterowski abends kommt, trinken wir manchmal ein Gläschen, nicht immer nur Wasser.“

Frau Barossa ist gehbehindert, aber mit ihrer Freundin geht sie mit Hilfe ihres Rollators bei gutem Wetter in den Garten. Weiter schafft sie es nicht. In einen Rollstuhl mag sie sich nicht setzten „Noch nicht“ wie sie immer wieder bemerkt.

Herr Fiedler ist gehbehindert. „Zum Einkaufen reicht es nicht mehr.“ Daher ist er dankbar, dass Wanda ihm Zeitschriften, fünf Zigarren und „etwas für die Seele“, damit meint er einen guten Cognac und Feodora Pralinen, mitbringt.

Er war Banker, liest „Das Capital“, den „Spiegel“ und manchmal auch den „Stern“.

Diese Besuche sind zu einem Ritual geworden. Zweimal in der Woche geht Wanda in die City um die Einkäufe zu erledigen. Es ist ein relativ kleiner Laden. Hier kaufen die älteren Leute aus dem Ort ein, die sich seit Jahren kennen und so werden dann hier alle Neuigkeiten ausgetauscht.

Wanda kennt hier kaum jemanden und außer einem höflichen Wortwechsel mit der Kassiererin redet sie mit niemandem. Mit ihrem langen Rock, der gelben Bluse und dem dunkelblauen Rucksack auf dem Rücken, zieht sie teils verwunderte, teils fragende Blicke auf sich. So sorgt sie heute wieder mal für ein Gesprächsthema im Ort.

Als sie mit prall gefülltem Rucksack und einer Tasche die Treppe zu ihrem Appartement heraufsteigt, glaubt sie, eine Gestalt vor ihrer Eingangstüre gesehen zu haben. Aber ihre Türe ist abgeschlossen und sie schenkt dieser vermeintlichen Täuschung keinen weiteren Gedanken.

Ganz fest drückt sich Wendelin in die dunkle Nische der gegenüberliegenden Wand. Er hatte so lange gewartet, hier an Wandas Türe, er wollte sie unbedingt sehen und dann einfach ansprechen.

Als er nun ihre Schritte auf der Treppe hört, verlässt ihn der Mut. Alles, was er ihr hatte sagen wollen, ist weg.

Er kommt sich wie ein Dieb vor oder etwas ähnliches. Was ist mit ihm passiert? Mein Gott, das ist aber doch verrückt. Ja, es ist eine verrückte Situation.

 

Vergessen wir es. Selbstbewusst geht er den Flur entlang zu seinem Appartement. Als er an Wandas Türe vorbei kommt, wird sein Schritt ein wenig unsicher. Das ignoriert er. Dabei hat er heute den ganzen Tag an nichts anderes als an sie, Wanda, denken müssen. Er hatte so gehofft, dass er sie beim Mittagessen sehen würde. Verzweifelt überlegt er, wie er es wohl einrichten könnte, an ihrem Tisch zu sitzen? Jeder hat hier seinen festen Platz beim Essen. Und er hätte es schon überzeugend begründen müssen, seinen Platz zu wechseln. Das Problem ist, dass es nur über einen Tausch möglich ist, an dem begehrten Tisch zu kommen. Denn gerade an diesem Tisch sind alle Plätze besetzt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass es ein ausgesprochener Damentisch ist. Es sitzt kein Herr an diesem Tisch. Angestrengt sucht er nach einem überzeugend wirkenden Vorwand, diesen von ihm so begehrten Platz an Wandas Tisch zu ergattern.

Dabei muss dieses Vorgehen sehr behutsam eingeleitet werden. Denn er will keinesfalls Anlass zu Spekulationen geben. Da aber der Alltag hier ziemlich eintönig ist, ist jeder Anlass zu einer Diskussion höchst willkommen. Einen Platzwechsel würde man im ganzen Restaurant sofort bemerken. Ja, es könnte zu einem brisanten Thema werden. Das würde sich niemand entgehen lassen.

Im Augenblick sieht er keine Möglichkeit, in dieser Angelegenheit weiterzukommen. Also nimmt er seinen bisherigen Platz wieder ein. Hin und wieder schaut er zu Wanda. Dabei gelingt es ihm sogar einen Augenkontakt herzustellen. Nun gut. Wenigstens etwas. Nach dem Mittagtisch verlässt er wie zufällig neben Wanda das Restaurant. Sie nimmt die Treppe, wobei alle anderen mit dem Aufzug hochfahren. Er nimmt auch die Treppe. So sind sie für wenige Minuten alleine. Diese Zeit muss er für ein Gespräch nutzen.

„Hat es Ihnen geschmeckt?“, sogleich findet er, dass seine Worte so banal sind wie Wetterfloskeln.

„Ach ja, danke, ich bin ziemlich anspruchslos, was das Essens betrifft. Ich lebe nahezu vegetarisch. Ganz wenig Fleisch, lieber Gemüse und Salat. Zum Dessert nehme ich Obst, wenn es nicht gerade Moussè áu Chocolate gibt. Aber das ist ja eher selten.“

„Wann verwöhnen Sie uns denn noch einmal mit einer Märchenstunde?“, will er wissen. Er möchte eine Unterhaltung so lange wie möglich fortsetzten.

„Ich bin dabei, etwas anderes zu planen. Ich denke an eine Gesprächsrunde. Vielleicht wäre das eine Möglichkeit für alle Bewohner, eigene Ideen oder Wünsche einzubringen. Es bedarf sicher mehrerer Gespräche, um das Vertrauen der Teilnehmer zu gewinnen und sie zum Diskutieren zu bewegen. Aber es könnte eine lohnende Sache werden, wenn Kommunikation und Kreativität geweckt werden. Damit erhöht sich die Lebensqualität. Die Themen müssen so gewählt sein, dass sie ein breites Interessengebiet abdecken.“

Nach einer kurzen Pause, sie sind an der Eingangstüre zu Wandas Zimmer angelangt, sagt Wanda: „Was halten sie davon, mir bei dabei zu helfen? Ich könnte mir vorstellen, dass es eine gute gemeinsame Sache werden könnte, Teamwork sozusagen.“

Wendelin kann zuerst nicht antworten. Ihre Frage kommt so unerwartet für ihn. „Oh, ja, ich … ich weiß nicht, ich muss darüber nachdenken.“ Dabei hätte er am liebsten jubelnd zugestimmt. Aber, es war einfach doch sehr überraschend für ihn.

Später, in seinem Sessel sitzend, glaubt er, als Mann sehr klug gehandelt zu haben, indem er seine Antwort offen gelassen hatte.

So machen es die Damen ja auch. Sie lassen die Herren ja auch ganz gerne zuerst einmal in Unsicherheit. Oder sind das alte Kamellen? Überholtes Verhalten, das heute keine Gültigkeit mehr hat? In einem Hochgefühl, das er seit sehr langer Zeit nicht mehr erlebt hat, schläft er auf seinem Sessel ein.

‚Anpassen’ so schwirrt es durch Wandas Kopf, ist ein Wort, mit dem sie schon als kleines Mädchen Probleme hatte. Sätze wie:

Sich altersangemessen verhalten! Das tut man nicht! Es ist zum Besten für dich! Das machen gut erzogene Mädchen nicht. Das schickt sich nicht!

Buh, noch heute kann sie sich geradezu aufregen, wenn sie diese Sätze hört. Woher nur dieses ‚Anpassen’ jetzt?

Morgens um 7:30 Uhr beginnt das Frühstück im Speiseraum. Restaurant, das wäre ein viel besseres Wort. Dann hätte man das Gefühl im Hotel zu wohnen. Obwohl, man kann am Frühstücksbuffet wählen. Ein Vorteil, den Wanda ganz bewusst bei der Entscheidung, hier ihren Wohnsitz zu nehmen, berücksichtigt hat. Die Redewendung, letztes Zuhause, letzter Lebensabschnitt, das hasst sie genauso wie angepasst zu sein. Sie hat nämlich ganz heimlich beschlossen, noch etwas ganz anderes zu erleben. Das Letzte ist dieses hier für Wanda nicht. Mögen alle anderen das auch glauben. Wanda spürt wieder neue Energie, die sie voran treibt. Sie erlebt dieses hier als eine Übergangszeit, die sie dazu nutzt, ihre vielen Ideen wahrzunehmen und auszuwerten. Es hilft ihr, Realisierbares von Illusionen zu unterscheiden. Ruhezeit, zum Auffüllen von neuer Energie, nennt Wanda es. Morgens, wenn sie aufwacht, beginnt sie ihren Tag mit einer Gymnastik.

Die Übungen der fünf Tibeter basieren darauf, durch gezielte Bewegungen die Energie im Körper in einen harmonischen Fluss zu bringen. Das geschieht über das Ansprechen der Chakren, die über die Meridiane aktiviert werden. Es sind Übungen, bei der die Atmung angesprochen wird, der Geist und die Psyche mit dem Körper ins Gleichgewicht gebracht werden. Wir hier im Westen haben diese Form der Gymnastik von den Tibetern übernommen. Menschen in den Fünfzigern beginnen mit diesen Übungen und werden häufig Anhänger dieser Form der Gymnastik. Die Beweglichkeit des Körpers so lange wie möglich zu erhalten und darüber hinaus die Harmonie zwischen Körper, Seele und Geist zu fördern und zu festigen. Wanda strebt einem Ziel entgegen, dessen Umrisse noch unklar sind. Sie muss feststellen, was sie nicht will. Aus dem Schemenhaften entstehen Konturen und ergeben langsam das Wesentliche, das Ziel. Mit zunehmender Klarheit formt sich das Bild.

Etwa so: In Gedanken entsteht etwas Plastisches, etwas zum Anfassen. Aber jede gute Idee basiert auf einer Illusion und daraus entwickelt sich die Realität.

Wanda muss und will weg von hier.

‚Schiebe es nicht auf die lange Bank’, so hört sie ihre innere Stimme.

‚Wohin soll es diesmal gehen?’

Ich beginne heute mit einer kleinen Reise.

EIN DATE

Sie hatten sich verabredet. An der Kapelle um 14:30 Uhr. Von ihrem Fenster aus sieht Wanda den Wagen von Wendelin aus der Tiefgarage auf die Strasse fahren. Nun muss sie sich beeilen, denn sie will ja pünktlich sein. Sie wundert sich, dass Wendelin mit dem Auto den kurzen Weg zu ihrem Treffen fährt. Na, ist ja seine Sache.

Er sitzt wartend auf der Bank hinter der Kapelle in der Sonne. Nun erblickt er Wanda, steht auf und geht ihr entgegen: „Schön, dass Sie gekommen sind, Wanda. Und hübsch sehen sie aus.“

Wanda errötete leicht, blickt in seine braunen Augen. Bisher war es ihr nicht aufgefallen, wie dunkel und geheimnisvoll seine Augen scheinen. „Haben sie lange gewartet? Der Weg zieht sich doch länger hin als ich dachte, und ich habe etwas mehr Zeit gebraucht, als ich eingeplant hatte. Aber nun bin ich da.“

„Dann möchte ich sie zu einer kurzen Fahrt einladen. Es gibt hier in der Nähe ein hübsches Weinhäuschen, direkt am Rhein gelegen und doch ziemlich ruhig, ohne Autoverkehr. Nur das Tuckern der Schiffe ist zu hören. Oder würden sie ein Cafe in der Stadt vorziehen?“

„Heute überlasse ich mich ganz ihrer Führung. Sonne und Wasser, ja das mag ich schon sehr. Also, fahren wir.“

Im Restaurant werden sie vom Kellner zu einem Tisch in einer Fensterecke geführt. Beide entscheiden sich für ein Glas Champagner. Die Situation entspannt sich und die Konversation kommt in einen zwanglosen Fluss.

Wendelin bemerkt: „Ich empfinde ein neues Gefühl der Freiheit hier außerhalb des ‚Hotels’, wie Sie unsere Residenz zu nennen pflegen, sich zu begegnen. Es ist wie ein Aufatmen.“

„Wissen Sie, ich habe die Verantwortung mir selber gegenüber bewahrt. Das heißt, dass ich damit auch meinen Freiheitsraum vergrößere. Aus dem Leben hier lerne ich etwas ganz Wichtiges, nämlich, dass es mir sehr gut geht, im Vergleich zu vielen anderen. Und das gibt mir ein gutes Gefühl. In dem mir geschaffenen Freiraum innerhalb der Seniorenresidenz, bin ich heute hier mit Ihnen zusammen. – Haben Sie Lust etwas aus ihrem Leben zu erzählen?“

„Ja, nun … ich bin vor zwei Monaten aus Brisbane gekommen. Ich bin in München geboren. Mit meinen Eltern habe ich Deutschland als Neunjähriger verlassen. Zuerst lebten wir in Melbourne. Aber Mutter wollte weiter nördlich. Dort ist das Klima wärmer. Mutter wollte in Sydney leben. Ich glaube, diese Stadt war ihre große Liebe. Sydney ist eine Stadt, von einer bezaubernden Faszination. Durch den Bau des architektonisch auffällig gestalteten Opera House, hat Sydney in der ganzen Welt an Popularität und Bedeutung gewonnen. Aber nicht nur das Opera House, auch Paddington, das Künstlerviertel oder Bondi Beach, Badestrand für jedermann oder Double Bay, noble Residenz der VIPs sowie der Hyde Park oder The Rocks. All das ist Sydney. Später bin ich dann nach Queensland gegangen. Ins Land der Sonne der wunderschönen Sonnenuntergänge über dem Pazifik. In der Nähe von Brisbane habe ich gelebt.“

„Das klingt ja wie im Märchen. Dazu kommt, dass Ihre Art zu erzählen das Gefühl vermittelt, man sei gerade auf einer Rundreise durch Ihr Land. Aber nun würde ich gerne wissen, was Sie zurück nach Deutschland gebracht hat?“

„Ich weiß es nun nicht mehr so genau. Vielleicht glaubte ich, hier noch Wurzeln zu finden, wollte dem Ursprung meiner Familie hinterher laufen. Nun, das Interesse ist inzwischen auf einem Nullpunkt angelangt. Ich habe wohl einen Fehler gemacht. ‚Der Mensch muss zurück zu seinen Anfängen. Wo er geboren wurde, da sollte er sterben.’ Diesem Spruch glaubte ich folgen zu müssen. Inzwischen weiß ich, dass das alles Quatsch ist. Aber ich habe mich nun mal entschieden und bin gekommen. Nun muss ich hier bleiben und werde wohl hier sterben.“

„Ihre letzte Bemerkung kann ich nicht einordnen. Sie sollten es sich aussuchen, wo Sie sterben möchten. Und sie müssen auch nicht für immer bleiben. Sie sind ein freier Mensch, mit dem Recht, ihre Meinung jederzeit zu ändern. Vielleicht hilft ihnen der Ausspruch des ersten Bundeskanzlers von Deutschland, Konrad Adenauer. Als er von seinen Beratern darauf hingewiesen wurde, dass er seine Meinung vom Tag zuvor in eine gegenteilige Meinung am nächsten Tag verwandelte, antwortete der große, alte Herr: ‚Meine Herren, was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.’ Ein Schmunzeln entspannte die Runde seiner Berater. Niemand konnte ihm widersprechen. Heute Nacht, wenn sie aufwachen, erinnern sie sich an dieses Beispiel. Dann sehen wir weiter, abgemacht?“

Nach einer kurzen Pause fragte Wendelin: „Aber nun zu Ihnen, liebe Wanda. Sie haben nicht immer hier gelebt. Ihr zauberhafter Akzent verrät mir, dass Sie aus einem anderen Land, vielleicht sogar Kontinent, kommen. Ich möchte gerne erfahren, warum Sie zurück sind?“ „Um wieder wegzugehen, wenn mein Bauch mir sagt, dass Weggehen das Richtigere ist. – Wissen Sie, ich bin in Bonn geboren. Mit meinem Mann habe ich später in der Nähe von Miami, in Fort Lauderdale, gewohnt. Ich kenne das Gefühl des ewigen Sommers. Mit Jacob bin ich sehr viel durch Europa gereist. Ich habe diesen Kontinent gemocht. Vielleicht auch wegen der Gegensätze zu Florida. Vor allem haben mich die historischen Städte der griechischen und römischen Kultur interessiert. Jacob hatte es immer so eingerichtet, dass wir während der Sommermonate in London, Paris oder München waren. Athen oder Rom besuchten wir dann von unserem jeweiligen Sommerdomizil aus. Im November sind wir meist zurück nach Florida gegangen, so dass wir Weihnachten in der Sonne erleben konnten. Ich bin nach hier gekommen, um alte Bekannte und Freunde aufzusuchen. Ich betrachte diese Einrichtung als Hotel, das ich verlassen kann, wann immer ich es möchte. In ein Hotel gehe ich nicht zum Sterben. Wobei ich, wie schon erwähnt, die Vorzüge des kompletten Versorgt-Seins ganz bewusst in meine Wahl einbezogen habe.“

„Weibliche Logik, die ich bisher vergeblich zu erlernen versucht habe. Ich, als Mann, werde also vergeblich danach streben, sie mir anzueignen.“

„Schauen wir uns doch dieses alles in der Gesamtheit an. Alles Geschehen, jede Aktion, zieht eine Reaktion nach sich. Alles bedingt einander.

Man könnte das auf eine erotische Studie ausweiten. Aber das machen wir beim nächsten Mal – Wendelin, stellen Sie sich vor, ich bin eine gute Fee und sie haben drei Wünsche frei. Was wären ihre Wünsche?“

 

„Dass Sie sich wünschen, mit mir nach Australia zu reisen. Und nicht nur, um die Orte der Austragung der Olympischen Spiele zu sehen.“

Spontan war dieser Wunsch ausgesprochen.

„Das war nur e i n Wunsch. Sie haben noch zwei offen.“

„Hm, ja, und ich soll nun an ihre Zauberkraft glauben. Ich spreche einen Wunsch aus, und Sie erfüllen ihn?“

„Meine Möglichkeiten haben Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen befinden wir uns in einem Areal, in dem wir einiges bewirken können. Wir benutzen dazu Energien und die Signale aus dem Unbewussten, aus dem Bauch, wenn Sie so wollen. Dann geschehen Dinge, die unsere Vorfahren mit ‚Berge versetzen’ bezeichneten. Auch das basiert auf der, vielleicht weiblichen, Logik.“

„Also, wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagen Sie damit, dass ich mir selber den Wunsch oder die Wünsche erfüllen muss.“

„Ich darf Sie noch mal darauf hinweisen, lieber Wendelin, dass Sie überhaupt nichts müssen. Sie können und sie dürfen. Aber Sie müssen nicht. Meine Aufgabe als Fee sehe ich darin, Ihnen bei der Erfüllung Ihrer Wünsche behilflich sein zu dürfen, indem ich versuche, mit Ihnen gemeinsam herauszufinden, was Sie wirklich wollen und Sie zum Beispiel am Anfang begleite. Später können Sie dann alleine gehen.“

„Dass ich noch so viel zu lernen habe, ist mir bisher nicht bewusst gewesen. Nun habe ich ihre Rolle übernommen, indem ich neugierig und sehr interessiert bin an Ihrem Leben.“

„Ich habe eine Idee. Sie überlegen sich zwei Wünsche für unsere nächste Begegnung. Dann sehen wir weiter. Abgemacht?“

„Abgemacht!“

Wanda war etwas müde, heute will sie nicht über ihr Leben reden. Geschickt bringt sie das Gespräch auf die Bundeskunsthalle, wo die unterschiedlichen Ausstellung zu sehen sind.

Während der Heimfahrt reden Wanda und Wendelin wenig miteinander. Kurz vor der letzen Biegung, vor der Senioren Residenz, von wo aus die Straße nicht einsehbar ist, verlässt Wanda das Auto. Sie will den letzten Rest des Weges laufen. Ein wenig frische Luft tut ihr gut. Und beide wollen ihre Freundschaft in der Privatsphäre eingebettet wissen. Vorerst jedenfalls. Wanda entscheidet sich, wie meistens, die Treppen zu nehmen. Bis zur ersten Etage schafft sie die Stufen mühelos. Außerdem hält das Treppensteigen sie fit. Das Klappern des Geschirrs sagt ihr, dass das Essen noch nicht begonnen hat. Es wird aufgetragen. Sie ist also noch pünktlich.