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Gerke Schlickmann
Adventure and Meeting
Eine Einführung in Live-Rollenspiel
aus theaterwissenschaftlicher Perspektive
Gerke Schlickmann
„Adventure and Meeting – Eine Einführung in Live-Rollenspiel
aus theaterwissenschaftlicher Perspektive.“
Erste Auflage 2015
Copyright © 2015 Zauberfeder GmbH, Braunschweig
Autor: Gerke Schlickmann Lektorat: Wiebke Hensle Titelbild: Karsten Flögel, The Kelric View Satz und Layout: Christian Schmal Herstellung: Tara Tobias Moritzen
Bildnachweise Abb. 1: Foto von Karsten Flögel/The Kelric View (www.facebook.com/thekelricview)* Abb. 2: Foto von Karsten Flögel/The Kelric View (www.facebook.com/thekelricview)** Abb. 3 und 4: Fotos von Gabby Feuerfünkchen (www.feuerfuenkchen.de)* Abb. 5: Foto von Jan Martin Keil (www.janmartin.de)* Abb. 6: Foto von Karsten Flögel/The Kelric View (www.facebook.com/thekelricview)* Abb. 7, 8, 9 und 10: Fotos von Gabby Feuerfünkchen (www.feuerfuenkchen.de)* Abb. 11: Foto von Jan Martin Keil (www.janmartin.de)* Abb. 12: Foto von Gabby Feuerfünkchen (www.feuerfuenkchen.de)*
* mit freundlicher Genehmigung der Live Adventure Event GmbH (www.live-adventure.de)
** mit freundlicher Genehmigung von Nicole Busch (www.lenora-gewandungen.de)
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlags in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Print ISBN: 978-3-938922-46-0
E-Book ISBN: 978-3-93892289-7
Hinweis:
Das vorliegende Buch ist sorgfältig erarbeitet worden. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr.
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ADVENTURE
AND MEETING
EINE EINFÜHRUNG IN LIVE-ROLLENSPIEL AUS THEATERWISSENSCHAFTLICHER PERSPEKTIVE
Inhaltsverzeichnis
VORWORT
EINLEITUNG
Anmerkungen zum Fragebogen
Anmerkungen zu den Personenbezeichnungen
1 EINFÜHRUNG IN FANTASY-LARP
1.1Erste Definition
1.2Grundbegriffe
1.2.1 In-time vs. out-time
1.2.2 Rolle, Charakter
1.3Inhalte und Genres
1.3.1 Überblick
1.3.2 Fantasy
1.4Regelwerke
1.4.1 Punktebasiertes Spiel
1.4.2 Freies Spiel
1.5Charaktererschaffung
1.5.1 „Rassen“
1.5.2 Gesinnung
1.5.3 Fähigkeiten
1.6Teilnehmer*innen
1.6.1 Spieler und Spieler-Charaktere
1.6.2 Veranstalter, Organisatoren, Spielleitung
1.6.3 Nicht-Spieler-Charaktere
1.7Ablauf
1.7.1 Ankündigung, Anmeldung
1.7.2 Anreise, Check-in, Ansprache
1.7.3 Time-in, Spiel, Time-out
1.8Weitere Codes im Spiel
1.8.1 Sprachliche Regelungen
1.8.2 Andere Zeichen
1.9Imagination und Ausblendung
1.10 „Spiel’s aus, du Sau!“ – Kampf, Verletzung, Heilung
1.10.1 Kampf, Waffen, Rüstung
1.10.2 Verletzung, Heilung
1.10.3 Tod eines Spieler-Charakters, Opferregel
2 LARP IM KONTEXT ANDERER ROLLENSPIELE
2.1Bedeutungsvielfalt von Rollenspiel
2.2Role playing games: Rollenspiele im engeren Sinne
2.2.1 Einordnung als „Freizeit-Rollenspiel“
2.2.2 Systematisierungsvorschlag
2.2.2.1 Zweck des Spiels
2.2.2.2 Spielmechanismus
2.2.2.3 Genre oder Thema des Spiels
Exkurs: Living History, Reenactment, ReenLARPment
2.2.2.4 Ausblick
2.2.3 Definition des im Folgenden verwendeten Rollenspielbegriffs
2.3Vergleich verschiedener role playing games
2.3.1 Tischrollenspiel (P&P, Tabletop)
2.3.2 Computer- bzw. Online-Rollenspiel (MRPG, MMORPG)
2.3.3 Live-Rollenspiel (LARP)
2.3.3.1 Besondere Erlebnisse im LARP
2.3.3.2 Künstlerische Elemente von LARP
3 THEATRALE DIMENSIONEN VON LARP
3.1LARP und Theater – erste Annäherung
3.1.1 Theater – Rollenspiel – Live-Rollenspiel?
3.1.2 Improvisationstheater?
3.2Performativität
3.2.1 Handlungen im LARP
3.2.2 Charaktererzeugung im LARP
3.3LARP als Performance, Ereignis, Aufführung
3.3.1 Ereignishaftigkeit von LARP
3.3.2 Aufführungscharakter von LARP
3.3.3 Das Problem des Zuschauers
3.4Der Zuschauer als Mitspieler – Moreno, Boal, Grotowski
3.4.1 Jacob Levy Morenos Stegreiftheater
3.4.2 Augusto Boals Theater der Unterdrückten
Exkurs: LARP als unsichtbares Theater (Vampire Live)
3.4.3 Jerzy Grotowskis Paratheater
4 GENDER IM LARP – EIN BLINDER FLECK?
4.1Vorannahmen zur Geschlechtsidentität
4.2Gestaltungsmöglichkeiten im LARP
4.3LARP als (populär)kultureller Text
4.4Geschlechterrollen in der Fantasy
4.5Umfrageergebnisse zu Cross-Gender-Aspekten
4.6Probleme mit Cross-Dressing und mögliche Lösungen
4.7Ausblick
5 SCHLUSSBEMERKUNGEN
6 ANMERKUNGEN
7 ANHANG
7.1Glossar der wichtigsten Begriffe
7.2Verzeichnisse
7.2.1 Literatur
7.2.2 Internetseiten
7.2.3 Film und Fernsehen
VORWORT
Im vergangenen Sommer begegneten mir im Vorbeigehen immer wieder Plakate, die sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie zeigten Bilder von aufwändig geschminkten und kostümierten Menschen, die irgendwie nicht von dieser Welt zu sein schienen: ein Mann mit Pestbeulen im Gesicht, ein anderer vernarbt, mit falschem Auge und blutbespritzter Rüstung; eine Frau in eleganter Robe, mit spitzen Ohren und entrücktem Blick, und nicht zuletzt ein gänzlich fremdartiges Wesen, mit schneeweißer Haut, schwarzen Augen und langen, spitzen Fingern. Es war Werbung für den Film Wochenendkrieger, der gerade in Berlin Premiere feierte. Anders als bei herkömmlichen Kinoplakaten sah man diesen Bildern jedoch an, dass hier masken- und kostümbildnerisch nachgeholfen worden sein musste: Man konnte angeklebte Ohren und falsches Haar erkennen, künstliche Narben und aufgemalte Wunden. Was den einen irritieren mochte, sprach für die andere eine deutliche Sprache: Ach, das sind doch LARPer!
Mit Wochenendkrieger befasst sich nun ein weiterer Dokumentarfilm mit dem ausgefallenen Hobby Live-Rollenspiel, der es sogar ins Kino geschafft hat. Ist LARP damit nun endgültig im Mainstream angekommen? Ist ein Buch wie das, an dem ich gerade arbeite, überhaupt noch notwendig, weil nun alle Welt das Phänomen kennt und versteht? Tatsächlich hat sich insgesamt die mediale Aufmerksamkeit vor allem in den letzten zwei bis drei Jahren deutlich verstärkt, Live-Rollenspiel scheint geradezu ein Modethema zu werden.
Als ich vor fast zehn Jahren begann, mich mit Live-Rollenspiel zu beschäftigen, konnte außerhalb der Szene kaum jemand etwas mit dem Begriff und der dahinterliegenden Idee anfangen. Auch viele „klassische“ Rollenspieler und Rollenspielerinnen kannten (und kennen) diese Variante nicht und waren erstaunt, wie weit man gehen kann, um seiner Phantasie Leben einzuhauchen. Als ich mich Jahre später dazu entschloss, meine Abschlussarbeit über LARP zu schreiben, war diese Spielform auch in theaterwissenschaftlichen Kreisen noch so gut wie unbekannt, während andere role playing games dort zunehmend berücksichtigt wurden. Obwohl mit den Arbeiten von Performance-Gruppen wie SIGNA und anderen Versuchen eines immersiven Theaters mittlerweile ganz ähnliche Konzepte Gegenstand theaterwissenschaftlicher Forschung sind, findet LARP selbst immer noch kaum Beachtung. Diejenigen, die immerhin schon davon gehört haben, haben meist nur eine vage Vorstellung von Abläufen und Ausmaßen des Spiels. Auch die steigende Zahl an Medienberichten führt bislang nicht unbedingt zu einer besseren Kenntnis des Phänomens. Ich habe eher den Eindruck, dass sich mit dem Bekanntheitsgrad auch der Erklärungsbedarf erhöht hat, was ein Buch wie dieses umso lohnenswerter macht.
Außerdem formiert sich innerhalb der LARP-Szene gerade eine Bewegung, die eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Live-Rollenspiel etablieren will, so z. B. die 2013 gegründete AG Deutsche Larp-Forschung des Deutschen Liverollenspielverbands e. V., deren Mitglied ich bin. Auch für den Beginn einer ernsthaften deutschen Live-Rollenspiel-Forschung mag dieses Buch dienstbar sein, indem es bisherige Erkenntnisse zusammenfasst und Vorschläge zur theoretischen Einordnung von LARP macht. Damit soll eine Basis für weitere, tiefergehende Untersuchungen geschaffen werden. Dabei soll die hier eingenommene theaterwissenschaftliche Perspektive nicht als allein seligmachende Sichtweise propagiert werden, sondern als ein möglicher, wenn auch besonders fruchtbarer Blickwinkel auf Live-Rollenspiel als kulturelles Phänomen.
Grundlage dieses Buches ist meine gleichnamige Magisterarbeit, die ich 2012 am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin eingereicht habe. Sie wurde in der Zwischenzeit gründlich überarbeitet, erweitert und aktualisiert, um einem breiteren Publikum Einblicke in Live-Rollenspiel bieten zu können und neuere Publikationen und Entwicklungen zu berücksichtigen. Dass aus einer zunächst etwas abseitigen Idee nicht nur eine hochgelobte Magisterarbeit, sondern schließlich auch dieses Buch werden konnte, verdanke ich in erster Linie Doris Kolesch, die mich von Anfang an unterstützt und zur Veröffentlichung ermutigt hat. Ebenso hilfreich waren die Diskussionen im von ihr betreuten Colloquium, dessen Teilnehmer*innen mein Magisterprojekt mit konstruktiver Kritik und vielfältigen Anregungen begleitet und bereichert haben. Ohne das Engagement des Zauberfeder-Verlags wäre daraus kein Buch entstanden; für den persönlichen Einsatz möchte ich mich daher insbesondere bei Tara Tobias Moritzen und Christian Schmal bedanken. Außerdem danke ich Wiebke Hensle für das gewohnt sorgfältige Lektorat und viele hilfreiche Anmerkungen sowie Gabby Feuerfünkchen, Karsten Flögel und Nicole Busch für die Hilfe bei Auswahl und Bereitstellung der Fotos.
Schließlich sollen die freundlichen Menschen, Elfen, Orks und Zwerge von Berlin-Larp nicht unerwähnt bleiben, die mir damals als Newbie den Einstieg ins LARP erleichtert und sich in der Folge nicht nur als gute Mitspieler*innen, sondern auch als Freundinnen und Freunde erwiesen haben. Euch möchte ich besonders herzlich danken und Euch dieses Buch widmen.
Gerke Schlickmann Berlin, im März 2014
Für Hanne (1954–2014): Schade, dass Du das Buch nun nicht mehr in Händen halten kannst, ich weiß, Du wärst so stolz gewesen. Danke für alles.
Some words are dead, even though we are still using them. Among such words are: show, spectacle, theatre, audience, etc. But what is alive? Adventure and meeting: not just anyone; but that what we want to happen to us would happen, and then, that it would also happen to others among us. For this, what do we need? First of all, a place and our own kind; and then that our kind, whom we do not know, should come, too. So, what matters is that, in this, first I should not be alone, then – we should not be alone. But what does our kind mean? They are those who breathe „the same air“ and – one might say – share our senses. What is possible together? Holiday.
Jerzy Grotowski1
EINLEITUNG
Adventure and meeting, Abenteuer und Begegnung – welche Worte wären besser dazu geeignet, den Kern eines Spiels zu erfassen, bei dem sich Menschen zusammenfinden, um in phantastischen Gegenwelten gemeinsam Abenteuer zu erleben?
Die Rede ist von Live-Rollenspiel (auch Live Action Role Play, kurz LARP), das immer mehr Menschen in seinen Bann zieht und zunehmende Beachtung auch außerhalb der Rollenspiel-Szene erlangt. Anders als in den bekannteren Formen von Fantasy-Rollenspiel – Tischrollenspiele wie Dungeons&Dragons oder Online-Rollenspiele wie World of Warcraft – werden die Figuren und ihre Handlungen hier von den Spieler*innen real verkörpert. Dadurch teilt Live-Rollenspiel wesentliche Grundzüge mit theatralen Ereignissen, indem beispielsweise auch die Spielwelten weitestgehend durch performative Akte erzeugt und mit Leben gefüllt werden. Es ist also erstaunlich, dass das Phänomen des Live-Rollenspiels bislang nicht in nennenswerter Weise von theaterwissenschaftlicher Seite berücksichtigt wurde, zumal in den gegenwärtigen Diskursen zur Performativität, in denen sich das Fach vielen Bereichen abseits der Bühne geöffnet hat.
Dabei kann sich gerade die theaterwissenschaftliche Perspektive als besonders geeignet erweisen, um spezifische Merkmale von Live-Rollenspiel herauszustellen und theoretisch zu erfassen. Wie reizvoll diese Verbindung ist, zeigt sich u. a. darin, dass in der gerade entstehenden LARP-Forschung neuerdings häufiger ein Bezug zu Theater und Theaterwissenschaft hergestellt wird.2 Ansonsten wurde Live-Rollenspiel bislang – wenn überhaupt – v. a. aus soziologischer, psychologischer oder pädagogischer Sicht beleuchtet, wobei es meist nur als Spielart des Rollenspiels im Sinne einer pädagogisch-therapeutischen Methode begriffen wird. Dementsprechend gibt es – im deutschsprachigen Raum – noch wenig Fachliteratur zum Thema, und die meisten Publikationen sind von Live-Rollenspieler*innen für Live-Rollenspieler*innen geschrieben und verzichten auf umfassende Einführungen ins Thema.
Um dieses Feld überhaupt für (theater)wissenschaftliche Belange fruchtbar zu machen und eine Basis für die weitere Forschung zu schaffen, erscheint es mir notwendig, den Gegenstand zuerst ausführlich vorzustellen, was im ersten Kapitel EINFÜHRUNG IN FANTASY-LARP geschehen soll. Da die Spielarten in den verschiedenen Ländern teilweise stark voneinander abweichen, sollen hier nur Rollenspiele in Deutschland betrachtet werden. Dabei möchte ich in diesem Teil noch darauf verzichten, eine bestimmte theoretische Perspektive vorzugeben, sondern den Fokus auf eine möglichst anschauliche Beschreibung typischer Elemente und Abläufe von Live-Rollenspiel legen. Verschiedene Abbildungen und ein Glossar sollen diese ergänzen, um einen umfassenden Eindruck zu ermöglichen und die Leserin mit dem Gegenstand vertraut zu machen.
Im zweiten Kapitel LARP IM KONTEXT ANDERER ROLLENSPIELE soll die spezifische Beschaffenheit von Live-Rollenspiel im Kontrast zu anderen Rollenspielen dargestellt werden. Die Verortung im Rollenspielkontext erweist sich aber zunächst als schwierig, da sich schon der Begriff „Rollenspiel“ einer einfachen Definition entzieht und vielfältige Anwendungsbereiche aufweist. Daher werde ich Kriterien vorschlagen, mit denen innerhalb des Bereichs differenziert und einzelne Phänomene herausgeschält werden können, und versuchen, eine handhabbare Definition zu entwickeln. Schließlich soll durch einen Vergleich der drei gängigen Rollenspielformen deren jeweilige Bedingungen und Mittel herausgearbeitet werden, insbesondere in Bezug auf die Bedeutung des Spielerkörpers und die Simulation der Spielwelt.
Im dritten Kapitel THEATRALE DIMENSIONEN VON LARP sollen diese Überlegungen aufgegriffen und in den theaterwissenschaftlichen Kontext eingebunden werden: Betrachtet man die Rahmenbedingungen und Elemente von Live-Rollenspiel, so zeigt sich nicht nur seine Natur als Spiel, sondern auch die Nähe zu Phänomenbereichen wie Theater, Fest und Ritual. Umso geeigneter erweist sich die Theaterwissenschaft, die mit Konzepten wie Performativität, Ereignis, Liveness oder Liminalität über hilfreiche Instrumente verfügt, mit denen wesentliche Dimensionen von Live-Rollenspiel effektiv untersucht werden können. Da dieses Buch als Einführung konzipiert ist, die keine umfassende Analyse leisten kann, sollen hier nur ausgewählte Aspekte berücksichtigt werden. So soll u. a. diskutiert werden, welche Merkmale LARP mit dem zentralen Begriff der Aufführung teilt und inwieweit es als solche definiert werden kann. Als Dreh- und Angelpunkt wird sich dabei die Tatsache erweisen, dass es im Live-Rollenspiel keine Zuschauer*innen gibt und es damit von wichtigen Definitionen verschiedener theatraler Ereignisse nicht erfasst wird.
Hier soll aber nicht nur die Anwendbarkeit theaterwissenschaftlicher Konzepte auf Live-Rollenspiel in den Blick genommen werden, sondern auch in umgekehrter Perspektive gezeigt werden, dass ein Phänomen wie LARP Antworten auf verschiedene Problemstellungen des Theaters zu geben vermag. Insbesondere im postdramatischen Theater des 20. Jahrhunderts ist immer wieder der Wunsch zu spüren, die Trennung zwischen Zuschauerinnen und Schauspielern aufzuheben und stattdessen ein gleichberechtigtes Miteinander zu ermöglichen, wie es sich auch in den vorangestellten Worten Grotowskis ausdrückt. LARP kann zum einen als Modell dienen, wie ein solches Miteinander – eine Gemeinschaft oder Communitas – ganz praktisch verwirklicht werden kann, und zum anderen kann es auch theoretische Impulse geben, wie insbesondere der Aufführungsbegriff im Hinblick auf die Zuschauer-Akteur-Dichotomie neu akzentuiert werden könnte.
Indem es den Teilnehmenden die Möglichkeit bietet, sich in ganz anderen, sonst unmöglichen oder nicht zulässigen Situationen zu erleben und dabei verschiedene sowohl vertraute wie völlig fremde Persönlichkeitsmuster auszuprobieren, erscheint LARP als „Antistruktur“ zum Leben außerhalb des Spiels. Hier können normative Strukturen abgelegt, variiert und neue Strukturen und Gemeinschaften erschaffen werden. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Spieler*innen im Live-Rollenspiel frei wären von sozialen Kategorien oder Strukturen, doch können diese in der Gestaltung einer Gegenwelt mit ihren eigenen Regeln und Ritualen bewusster und freier gewählt und kombiniert werden. Dadurch wird u. a. der Vorgang der Konstruktion solcher Kategorien und der Zuschreibung ihrer Codes und Attribute offenbar; eine Erkenntnis, die sich wiederum auf das Leben außerhalb der Spielwelt auswirken kann. Wie bei vielen verwandten Phänomenen (Karneval, höfische Verkehrungsfeste und Maskeraden, genauso aber auch pädagogische Rollenspiele etc.) stellt sich aber auch hier die Frage, ob durch solche Praktiken normative Strukturen wirklich nachhaltig unterlaufen oder nicht doch eher bestärkt und stabilisiert werden. Dieser Frage soll im letzten Kapitel GENDER IM LARP – EIN BLINDER FLECK? am Beispiel von Gender Bending und Cross-Dressing im LARP nachgegangen werden.
Zusammengefasst soll dieses Buch also einerseits allgemein in das vielschichtige Phänomen Live-Rollenspiel einführen und wesentliche Merkmale des Spiels herausstellen. Des Weiteren soll eine theoretische Verortung sowohl im Rollenspielbereich als auch im Bereich theatraler Ereignisse erfolgen und dabei auch der mögliche Ertrag weiterer Auseinandersetzungen mit LARP in Aussicht gestellt werden. Sofern vorhanden, soll auf Publikationen, die sich mit Live-Rollenspiel befassen, Bezug genommen und diese gegebenenfalls kurz vorgestellt sowie Anregungen zur weiteren Lektüre gegeben werden. Verweise auf Filme und Internetvideos sollen zeigen, wie vielfältig die Auseinandersetzung mit (Live-)Rollenspiel sein kann und mit wie viel Begeisterung, aber auch Humor und Selbstironie die Szene ihr Hobby und sich selbst betrachtet. Nicht zuletzt hoffe ich, das Faszinosum LARP, das immer wieder mit Vorurteilen zu kämpfen hat, mit dieser Arbeit auch Außenstehenden verständlich zu machen, denn bei allem wissenschaftlichen Ernst soll eine wesentliche Dimension des Spiels nicht außer Acht gelassen werden, nämlich der Spaß und die Lust am Spielen, die hoffentlich auch in meinen folgenden Ausführungen durchscheinen werden.