Sieben Welten - Seven Summits

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ANTARCTICA – BERGABENTEUER IN DER WEISSEN UNENDLICHKEIT

Zeitig am Morgen bin ich bereit, alles ist gepackt! Aufgeregt warte ich auf den Abflug in eine Welt jenseits meiner Vorstellung. Hastig trinke ich eine Tasse Kaffee, lasse das Telefon nicht mehr aus den Augen. Es klingelt, ich stürze zum Apparat – Ernüchterung! Eisige Windböen fegen über die Blankeis-Landebahn an den Patriot Hills, an einen Abflug in die Antarktis ist nicht zu denken. Manche haben schon fünf Wochen hier in Punta Arenas im Süden Chiles auf ihren Abflug in die Antarktis warten müssen. Trübe Gedanken geistern durch meinen Kopf. Soll ich mich davon irremachen lassen, jetzt schon Nervosität zeigen am allerersten Tag unserer Expedition? Ich versuche gelassen zu bleiben, schlendere durch die Stadt und doch hält mich der weiße Kontinent in meinen Tagträumen gefangen. In drei Stunden soll ich wieder abflugbereit beim Telefon warten, um neue Informationen entgegenzunehmen. So finde ich mich in regelmäßigen Abständen zu den festgesetzten Zeiten in meiner Unterkunft ein, um auf den erlösenden Anruf zu warten. Eine Verschiebung folgt der anderen – Stillstand!

Die Abendstunden bringen Wetterbesserung am fernen Ende dieser Welt, das Warten hat ein Ende. Blitzschnell werden die Wartenden in Minibussen aus allen Ecken der Stadt eingesammelt. Ein einziges Flugzeug wartet auf dem verlassenen Flugfeld von Punta Arenas. Das Rot des schwindenden Tages lässt die riesige Iljuschin wie ein dunkles, geheimnisvolles Monster erscheinen, das uns in eine fremde Welt bringen soll.

Wir, gut dreißig Bergsteiger aus aller Welt, strömen zum Einstieg. Keine Gangway, keine komfortablen Sitzreihen! Die mächtigen Heckklappen stehen weit offen, so als sollen wir Winzlinge von dieser riesigen Maschine verschlungen werden. Wir klettern über eine Hühnerleiter und Unmengen von Fracht und verschwinden im schwach beleuchteten Bauch des Ungetüms. Auf den schmalen Klappsitzen an den Seitenwänden der Iljuschin schnallen wir uns fest und fühlen, dass das Abenteuer in einer unwirklichen Wirklichkeit bereits begonnen hat.

Mein Blick schweift die Sitzreihen entlang: Einige der ganz großen Namen aus der Bergsteigerwelt sitzen hier. Manche kenne ich bereits aus einschlägigen Büchern, Zeitschriften oder Filmen. In den nächsten Wochen werden sie meine Bergkameraden sein. Uns alle erwartet ein Abenteuer der ganz anderen Art – der 4892 Meter hohe Mount Vinson, der höchste Gipfel auf dem unwirtlichsten aller Kontinente.

Mitten in der Nacht landen wir auf der sechs Kilometer langen Blankeis-Runway von Patriot Hills. Nacht im eigentlichen Sinn werden wir hier aber nicht erleben, die Sonne wird auf diesem Kontinent erst Monate später wieder untergehen. Mit unseren schweren Rucksäcken zittern wir uns über die spiegelglatte Fläche und können kaum begreifen, wie unsere russischen Piloten die riesige Maschine hier haben landen können. Ein beheiztes Mannschaftszelt wird zum Zentrum des Lebens in dieser weißen Einsamkeit.

An einen Weiterflug zum Basislager des Mount Vinson ist nicht zu denken. Heftiger Wind wirbelt die dünne Schneedecke vom eisigen Untergrund in die Höhe, legt ein düsteres Antlitz über die unendliche Weite und macht einen Start der Maschinen unmöglich. Heute wird’s wohl nichts mehr werden, tönt es von den Verantwortlichen in der kleinen Wetterstation. Theo und ich wollen nicht länger untätig bleiben und steigen hinauf in die schwarzen Berge der Patriot Hills. Ein gewagter Ausflug! Fast hätten wir unseren Weiterflug ins Basislager verpasst. Kurzfristig hat es aufgeklart, der Wind hat nachgelassen, die beiden Flugzeuge haben bereits mit den ersten Teams abgehoben. Nur knapp eine Stunde ist uns noch im komfortablen Camp vergönnt. Eine schnelle Mahlzeit, hektisches Packen unserer Rucksäcke, wir sehen die beiden Maschinen im Anflug und eilen hinüber zur Runway.

Minuten später hebt unsere Twin Otter auf Schiern von der Startbahn ab und fliegt uns ins 250 Kilometer entfernte Basislager des Mount Vinson. Schon im Anflug auf die Ellsworth-Berge erleben wir die Faszination dieser einsamen Eiswelt. Das gestaltlose Weiß um Patriot Hills weicht hier in den Bergen der kunstvollen Architektur einer überwältigenden Gletscherwelt, deren Weiß im Spiel der Sonne und im Treiben wirbelnder Schneeflocken die verschiedensten Farbtöne annimmt. Meine Augen haften an dem wogenden Meer der Eisunendlichkeit, das die gewaltigen Berghöhen umspült. Es ist lange nach Mitternacht, doch was bedeutet der Blick auf die Uhr in einer Welt, in der es keine Dunkelheit gibt und in der keine Zeitzonen fühlbar sind.

Erste Gehversuche in den Bergen: weite Gletscherhänge, ein kleiner Gipfel mit spannendem Firngrat! Ein gewaltiger Knall durchbricht die Stille, ein heftiger Schlag durchzuckt wie ein Blitz die Eisdecke und reißt uns fast von den Beinen. Im Gletschereis hat sich über Jahre und Jahrzehnte eine ungeheuere Spannung aufgebaut. Nun bringen lächerliche 500 Kilogramm, das Gewicht von uns sechs Winzlingen, das mächtige Gebilde zur Entladung und zum Bersten.

Nach unserer Rückkehr gesellt sich die Bergsteigerlegende Vern Tejas mit seiner Mundharmonika zu unserer Runde. Ob wir denn schon einen Namen für unseren kleinen Gipfel hätten? Fragend sehen wir ihn an. Seit den ersten Tagen kommerzieller Expeditionen in den Ellsworth-Bergen verbringt er jeden Winter in dieser eisigen Kulisse und nun erzählt er uns, dass bisher noch niemand auf unseren formschönen Berg hinaufgestiegen ist. Eine Erstbesteigung? Wir können es kaum glauben.

Abends einigen wir uns auf eine Besteigungsstrategie für unser großes Ziel, den Mount Vinson: Einem Tag der Höhenanpassung mit kleineren Bergtouren lassen wir einen Tag des Vorwärtskommens am Berg folgen. Wir, das sind zwei Österreicher, ein Libanese, ein Japaner und ein Kanadier. Alle sind wir auf eigene Faust ohne Expeditionsveranstalter in die Antarktis gekommen, haben unsere Flüge direkt bei ALE, den Betreibern des Lagers von Patriot Hills, gebucht. Nach unserer Landung haben wir fünf Führerlosen uns schnell zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Zu unserer Überraschung werden wir im Basislager von Heather und Neil empfangen, die als Bergführer für ALE arbeiten und uns beim Aufstieg begleiten werden. Logistisch sind sie von großem Wert für uns, als Bergführer nehmen sie sich bescheiden zurück angesichts der großen Namen, die Theo Fritsche, Hisashi Hashimoto und Maxime Chaya in der Bergsteigerszene besitzen und die alle unserem kleinen Team angehören.

10 Kilometer auf mäßig geneigten Gletscherflächen sind bis zur Basis des Berges zu überwinden. Wir seilen uns an, das Terrain ist spaltenreich, wir binden uns die Schlitten an die Klettergurte und stapfen hinauf auf 3000 Meter Höhe, wo wir unser erstes Lager errichten. Auch frühere Expeditionen haben diesen Platz zu ihrer Bleibe erwählt und sie dürften hier viel Zeit verbracht haben. Kunstvolle Schnitzereien aus Eis zieren den Ort, der zudem unerwartete Leckereien unter seiner weißen Decke verbirgt. Viele Bergsteiger haben in vergangenen Monaten oder Jahren hier Nahrungsmitteldepots angelegt, die sie mit roten Fähnchen markiert haben. Nach dem Gipfelgang haben sie diese Köstlichkeiten hier im größten Kühlschrank der Welt zurückgelassen. Heather und Neil wissen bestens Bescheid, wo man zu suchen hat, um die karge Kost der mitgeführten Trockennahrung mit „frischem“, zehn Jahre alten Brot oder acht Jahre altem Käse aufzubessern. Für wenige Stunden verschwindet die Sonne hinter den Bergen, es wird bitterkalt, –45 Grad. Nur in unserem Daunenzeug können wir noch Gemütlichkeit finden, diese Zeit müssen wir zum Schlafen nützen.

Bergtour auf eine Passhöhe, fassungsloses Staunen: Unter uns liegt eine endlose Eisfläche, aus der eine schwarze Felspyramide herausragt, wie von Menschenhand geschaffen – ein Geschenk der Natur, passend zum heutigen Tag: Es ist Weihnachten!

Wir steigen durch steiler werdendes Gelände. Die Schlitten haben ihre Schuldigkeit getan, nun muss alles in die Rucksäcke umgepackt werden. Die letzten 500 Höhenmeter führen durch die 50 Grad steile Head Wall hinauf auf den Sattel zwischen Mount Vinson und Mount Shinn. Hier errichten wir bei eisigen Temperaturen unser windgeschütteltes Hochlager in 4000 Metern Höhe. 27. Dezember 2004, der sechste Tag am Berg – starker Wind, die Temperaturen sind in den Keller gefallen, die Sicht ist gut. Selbst im Zelt messen wir 29 Grad unter null. Das Eisschmelzen, Anziehen, Angurten wird zur eisigen Herausforderung. Den folgenden Aufstieg, völlig eingemummt, empfinden wir dann richtig angenehm. Schon an der ersten Steilstufe kommen unsere kalten Glieder schnell auf Touren. Über ein geneigtes Schneeplateau, das von den vielen Gipfeln des Vinson-Massivs umrahmt wird, geht es immer höher hinauf. Wind und Kälte nehmen zu. Wir hüllen uns komplett in Daune ein. Wie wird es wohl am windausgesetzten Gipfelgrat werden? Der Gipfelaufbau ist steil, wir ringen nach Luft – immer mehr und in immer längeren Pausen. Mehr als sechs Stunden sind wir schon unterwegs. Wir klettern über einige Felsen und sind oben – zumindest fast. Vor uns erblicken wir den schmalen Gipfelgrat des Mount Vinson, nur wenige Meter höher und doch noch eine halbe Stunde entfernt, können wir bereits den höchsten Punkt erkennen. Leichte Kletterei an einigen felsigen Gratzacken, dann liegt uns der gesamte Kontinent zu Füßen. Petrus zeigt sich gnädig. Bei Windstille und Sonnenschein genießen wir das Dach der Antarktis, tief unter uns ragen schwarze, bizarre Felsformationen aus einem Meer weißer Unendlichkeit.

Nach unserem Abstieg ins Basislager bleiben uns noch einige Tage in diesem Märchenland. Erst wenn alle Gruppen vom Berg zurückgekehrt sind, werden die Piloten aufbrechen, um uns nach Patriot Hills zurückzubringen. Wir haben keine Eile, unsere weißen Berge zu verlassen, unternehmen noch einige Genusstouren auf namenlose Gipfel und feiern eine einzigartige, ausgelassene Silvesterparty. Zu Mitternacht stehen wir bei Sonnenschein vor dem Zelt und blicken auf diese unwirklich zauberhafte Eiswelt.

 

Am Neujahrstag tauchen die beiden Twin Otter am Horizont auf und landen auf den geneigten Gletscherflächen. Eine Stunde später wärmen wir uns im komfortablen Mannschaftszelt von Patriot Hills. Nach unserer Rückkehr häufen sich die Schlechtwettertage. Dichtes Schneetreiben und eisiger Wind – wir verkriechen uns im Zelt und warten sehnsüchtig auf die Landung des großen Vogels.

Erst nach fünf Tagen klart es auf, für mehrere Stunden flaut der Sturm ab. Die Iljuschin landet auf der Eisbahn von Patriot Hills. Stunden später sind wir zurück in der grün-blauen Welt von Patagonien – ein großes Abenteuer geht zu Ende!


Wanderung in den Ellsworth-Bergen


Ankunft mit der Twin Otter im Basislager


Auf dem Gipfel der Antarktis


Hochlager (Lager II) auf dem Sattel zwischen Mount Vinson und Mount Shinn

1 Der Name Patagonien geht auf den portugiesischen Seefahrer Ferdinand Magellan zurück, der diese spanische Expedition anführte und der den einheimischen Tehuelche-Indianern während seiner Überwinterung im Jahre 1520 im Süden des heutigen Argentiniens begegnete. Wahrscheinlich aufgrund ihrer eindrucksvollen Statur und ihrer großen Füße gab er ihnen den Namen „patagones“. Dabei dürfte er an eine fiktive Gestalt aus den damals sehr bekannten „Novelas de Caballería“ gedacht haben, nämlich an den Riesen Pathagon.

EINLEITUNG

Die Lieder von John Lennon und der Geist von Woodstock, politische Diskussionen in dunklen, verrauchten Lokalen und die Befreiung von allen gesellschaftlichen Zwängen auf den blühenden Wiesen an den Ausläufern meiner Heimatstadt – die alternative Szene in Wien war meine Lebenswelt gewesen. Ein Mitläufer war ich gewesen, ein Epigone, zu jung für die echten Achtundsechziger und die Hippiegeneration. Wie sehr habe ich sie bewundert, die Freaks mit ihren langen Haaren, ihren Ketten, Armreifen und bunten Hemden. Sie sind in Indien gewesen, haben dort den bedrückenden Konventionen des alten Europas den Rücken gekehrt. Mehrmals im Monat ist er in Amsterdam abgefahren, der berühmte Hippiebus nach Delhi oder Bombay. Wie sehr habe ich mich nach einem Sitzplatz in diesem bunten, klapprigen Vehikel gesehnt! Doch ich war einfach noch zu jung dafür. Sogar die Fernfahrer auf der Asienroute habe ich um ihren Job beneidet. Als ich endlich alt genug für die Fahrerlaubnis war, habe ich gleich den Lkw-Schein mitgemacht. Man weiß ja nie, vielleicht klappt es doch einmal!

Die politischen Zustände entlang der Route wurden turbulenter, die Flugpreise billiger. Der Landweg nach Indien geriet in Vergessenheit bei den Asienliebhabern. Nach meiner Fahrprüfung habe ich nie mehr einen Lkw gelenkt, ich bin auch nie auf der Straße in die Welt meiner Jugendträume gelangt. Geblieben ist meine Sehnsucht, einmal auf der alten Hippieroute zu tingeln, den Weg zu erleben, nicht bloß das Ziel.

1984 kam ich dann doch nach Indien – mit dem Flugzeug! Wochen später wanderte ich durch das Khumbu-Tal auf den Mount Everest zu. Vom Gipfel des Kala Pattar sah ich ihn erstmals aus der Nähe, den alles überragenden Berg. Auf Einladung einer bulgarischen Expedition konnte ich mehrere Tage im Everest-Basislager verbringen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Steigeisen angelegt und mein Glück an den steilen, nur wenige Meter hohen Eiswänden der imponierenden Eistürme am Rand des Khumbu-Eisfalls versucht. Hier im Khumbu habe ich Europäer und Sherpa kennengelernt, die tatsächlich zum Gipfel hinaufsteigen wollten. Ich war fasziniert von diesen Abenteurern – mindestens genauso stark wie Jahre zuvor von den Hippie-Aussteigern, die auf dem langen Weg nach Indien die Zwänge unserer Gesellschaft hinter sich gelassen haben. Der Mount Everest sollte mich nicht mehr loslassen. Unzählige Bücher über diesen Berg habe ich seither verschlungen, bewegende Berichte von Bergsteigern, denen es nicht bloß um einen Gipfel aus Fels und Eis ging, sondern um einen Weg an die Grenze ihres eigenen Daseins. Göran Kropps Buch „Allein auf den Everest“ hat mich gefesselt. Mit dem Fahrrad ist er von seiner Heimat in Schweden zum höchsten Berg der Welt aufgebrochen, Monate später stand er auf seinem Gipfel. Welch eine Tour! Zwei meiner großen Träume hat er in ein einziges großes Abenteuer gepackt: die Reise auf dem Landweg nach Indien und Nepal und den Aufstieg auf den Gipfel der Welt. Nur die Art und Weise, wie er sein großes Ziel erreicht hat, hat mich ins Grübeln gebracht. Kein Genuss war ihm auf dieser faszinierenden Route vergönnt gewesen, es war ein extremer Kampf ohne Muße für ein extremes Ziel! Doch müssen Abenteuer und Lebensfreude tatsächlich unversöhnliche Gegensätze bleiben?

Der Mount Everest ist auf viele verschiedene Weisen bestiegen worden: auf verschiedenen Routen, zu verschiedenen Jahreszeiten, unter Verzicht auf Expeditionsstruktur und Flaschensauerstoff, solo, mit Schiern – fast jährlich kamen sensationelle Meldungen von diesem außergewöhnlichen Flecken Erde. Göran Kropp hat mit seiner unkonventionellen Art der Anreise aber tatsächlich ein neues Kapitel der Expeditionsgeschichte zum Mount Everest eröffnet.

Jetzt fehlt nur noch, dass jemand vom tiefsten Punkt der Erde bis zu seinem Gipfel hinaufsteigt, dachte ich mir. Mit mir selbst habe ich diese Idee jedoch nicht in Verbindung gebracht. Trotz der Besteigung zweier Siebentausender war der Mount Everest für mich immer außer Reichweite gelegen – einfach eine Nummer zu groß. Die Idee setzte sich fest, wurde zum Traum – zum großen Traum. Zu groß? Mir wurde klar, dass ich die Antwort auf diese Frage nie wissen würde, wenn ich nicht den ersten Schritt setze. Die überraschend großzügige Unterstützung seitens der Diabetes-Industrie bei meiner Antarktisexpedition hat mir mächtig Rückenwind verschafft, meine Träume zu leben. Eines Tages nehme ich all meinen Mut zusammen und sage mir: Ich mach das. Jetzt.

Der Bann ist gebrochen und alle stehen hinter mir – meine Freundin Sylvia, meine Familie, meine Sponsoren, die trotz der geringen Erfolgsaussichten die Kosten für dieses extravagante Abenteuer übernehmen wollen. Der Zeitpunkt ist günstig für mich. Trotz einiger Versuche ist es bislang keinem Diabetiker gelungen, den Gipfel des Mount Everest zu erreichen.

Ein neuer Rekord am Everest? Nein, mit dieser Sensationshascherei habe ich nichts am Hut, das kann mich nicht zu meinem Vorhaben motivieren. Ich will nichts als meinen großen Traum leben: den Weg vom tiefsten zum höchsten Punkt der Erde mit all seinen Schönheiten erleben. Ich will dieses Abenteuer genießen, will mir Zeit nehmen, das Leben auf dieser Reise auszukosten.

Eines Tages im September 2005 gehe ich ins Büro der Royal Jordanian Airlines und kaufe ein Ticket nach Amman – one way!

MIT DEM RAD VOM TOTEN MEER IN DEN HIMALAYA

Der vierte Tag auf Achse. Erst seit gestern bearbeite ich meinen Drahtesel und schon bin ich todmüde. Es ist bereits dunkel, der Abendverkehr der Zwei-Millionen-Stadt donnert an mir vorbei. Zwei Tage habe ich mich abgestrampelt und bin gerade einmal an der Peripherie von Amman gelandet, nur wenige Kilometer von dem Platz entfernt, wo meine Radtour begonnen hat. Erschöpft halte ich beim erstbesten Hotel, das ich von der Straße aus erkennen kann. Wunderschön und sündteuer! Den Weg ins zehn Kilometer entfernte Stadtzentrum, wo ich billiger hausen könnte, hätte ich beim besten Willen nicht mehr geschafft. Ein kurzer Spaziergang, der vergebliche Versuch, preisgünstig irgendetwas Essbares zu ergattern, wird zur Tortur für meine Beine. Wenn nicht bald meine Kilometerleistungen steigen und die Hotelpreise sinken, werde ich auf ein echtes Problem zuradeln.

Das klingt nun ziemlich mürbe und ausgebrannt, aber ich will mir die Stimmung nicht vermiesen mit den augenblicklichen Launen eines geschundenen Körpers, sondern zurückkehren an den Anfang, an den Tag, an dem alles begonnen hat.

Donnerstagabend, es ist der 13. Oktober 2005! Das Förderband am Queen Alia International Airport südlich von Amman bringt alles zutage, was ich für die nächsten vier Monate benötigen werde: einen Riesenkarton, in dem sich mein Fahrrad befindet, zerlegt in unzählige Einzelteile, und einen großen Sack, der meine vier prall gefüllten Fahrradtaschen enthält. Ich bin aufgeregter als je sonst bei meinen Fernreisen, schließlich liegen nun ein gutes Stück Arbeit und jede Menge Unsicherheiten vor mir. Doch ganz so brutal werde ich nicht in die neue Wirklichkeit hinausgestoßen. Dr. Querner, Österreichs Botschafter in Jordanien, hat mich eingeladen, die ersten Tage meiner Reise in seiner Residenz zu verbringen. Mein Sprung ins große Abenteuer erfolgt also schaumgebremst. Die gastfreundliche Aufnahme, meine komfortable Bleibe – all das macht den Einstieg in die fremde Lebenswelt zunächst kinderleicht. Ein ruhiger Tag in Amman kommt mir gelegen. Ich kann ungestört mein Rad zusammenbauen und die Stadt besichtigen. Abends lädt mich Dr. Querner in ein traditionelles Lokal ein. In den Mauern einer ehemaligen Karawanserei trinken wir Tee, rauchen eine Shisha und lassen uns von arabischer Musik berieseln. Die Spannung der letzten Wochen entweicht, fast körperlich spürbar – ich bin unterwegs!

AUFBRUCH INS UNGEWISSE: JORDANIEN UND SYRIEN

Am Samstag geht es dann richtig los, hinunter zum Toten Meer. Aber nicht ohne Verdruss! Ich schiebe mein Rad aus der Garage und will es gerade beladen, da muss ich schon den ersten Boxenstopp einlegen. Die Luft ist draußen aus dem Hinterreifen. Was habe ich nur falsch gemacht? Ich pumpe den Reifen auf, alles scheint in bester Ordnung zu sein. Minuten später suche ich im Großstadtverkehr den Weg hinaus in die ländliche Einsamkeit. Vorbildlich ausgerüstet mit Helm und Fahrradschuhen – ein ungewöhnliches Bild für die einheimischen Radkollegen – erreiche ich ruhige Landstraßen und atme auf. Doch kaum beginne ich das vergnügliche Dahintreten bei herrlichem Wetter zu genießen, erfolgt der nächste Boxenstopp. Zwei Reserveschläuche habe ich in meinem Gepäck für die nächsten 8000 Kilometer, und der erste ist nun bereits nach 30 Kilometern fällig. Wenn es nur nicht in dieser Frequenz weitergeht! Die Hitze unterm Helm ist kaum zu ertragen, die Füße schmerzen von den Fahrradschuhen. Nichts wie weg damit! Beides werde ich fortan ungebraucht in der Fahrradtasche durch halb Asien spazieren führen.

Der erste Gipfel ist bald erradelt: eine geschichtsträchtige Anhöhe. Lange, lange ist’s her, als hier, auf dem Berg Nebo, Moses nach jahrzehntelanger Reise durch die Wüste in den Stunden seines Todes auf das Gelobte Land hatte blicken dürfen.

Mein erstes großes Ziel liegt tief unter mir, im Dunst fast verborgen: das Tote Meer. Eine riesige Wasserfläche, von der kein Wasser mehr abfließen kann. Nirgends auf der Landmasse dieser Erde gibt es einen Ort, der noch tiefer liegt.

In rasender Abfahrt jage ich hinunter zum eigentlichen Ausgangspunkt meiner Reise, dem tiefsten Punkt der Erde. Ein Pkw setzt zum Überholen an, der Fahrer ruft mir durch das offene Fenster zu: „Bist du der Österreicher, der zum Everest will?“ Sprachlos puste ich ein „Ja“ heraus und lenke mein Rad an den Straßenrand. Der Autofahrer hält an und Mustafa, ein bergbegeisterter Jordanier, erzählt mir zu meinem großen Erstaunen, dass die jordanischen Medien von meinem Vorhaben berichtet haben. Auch er selbst träume davon, einmal auf den höchsten Punkt der Erde zu klettern, etwas, was noch keiner seiner Landsleute geschafft hat.

 

Endlich erreiche ich die Uferstraße am Toten Meer – weit und breit kein Lebewesen! Nach einigen Kilometern fahre ich auf eine riesige Baustelle zu, in die sich drei Luxushotels grotesk einfügen. Dahinter, so weit das Auge reicht, wieder nichts. Kein wirklich guter Platz für Low-Budget-Touristen. Die Suche nach einem Zimmer bringt mich zur Verzweiflung. Der billigste der drei Nobelschuppen hat eine Bleibe für knapp 200 Euro zu bieten. Der Rezeptionist scheint die Verfallserscheinungen in meiner Mimik richtig zu deuten, blättert geschäftig in verschiedenen Ordnern, fragt seinen PC ab und jubelt mir schließlich etwas von „special offer“ in die Ohren – wir sind bei 100 Euro für die Nacht gelandet. So teuer habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehaust! Doch hier scheint das ein echtes Schnäppchen zu sein und es wäre wohl unhöflich, den freundlichen Mann zu enttäuschen. Ich beziehe mein Quartier und haste bei untergehender Sonne hinunter zum Wasser, dem tiefsten Punkt unserer Erde: 411 Meter unter dem Meeresspiegel. Schließlich muss ich den Daheimgebliebenen mit Fotos beweisen, dass ich auf meinem Weg zum Dach der Welt wirklich „ganz unten“ gestartet bin. Ich erfahre am eigenen Leib, was es mit den Bildern aus Reiseprospekten auf sich hat, auf denen Zeitung lesende Touristen bewegungslos auf der Wasseroberfläche treiben.

Sonntagmorgens verlasse ich meinen eigentlichen Startpunkt. Mit einem Sonntagsausflug hat der heutige Anstieg zurück nach Amman allerdings wenig gemein. 1300 Höhenmeter kämpfe ich mich hinauf, zurück in die Hauptstadt. Mitten im Gebirge treffe ich auf eine große Tafel, auf der mir mitgeteilt wird, dass ich mich nun endlich auf Meereshöhe befinde. Inzwischen schiebe ich mein Rad. Zeitweise schaffe ich nicht mehr als sechs Kilometer in der Stunde, hocke immer öfter am Straßenrand und sinniere über den Hinweis im Lonely Planet Reiseführer, wonach Jordanien kein wirklich guter Platz zum Radfahren sein soll. Am frühen Abend erreiche ich schließlich die Vororte von Amman. Hier schließt sich der Kreis meiner ersten Reisetage.

Nun bin ich oben in den Bergen und nichts soll mich mehr bremsen, rasch nach Norden zu gelangen. Von wegen! Die Täler verlaufen hier allesamt von Osten nach Westen, hinunter ins weit unter dem Meeresspiegel gelegene Jordan-Tal. Ich aber fahre von Süd nach Nord, bin also quer zur Natur unterwegs, und das bedeutet, positiv gesehen, stete Abwechslung: Vergnüglichen kilometerlangen Abfahrten folgen sofort ebenso lange, schweißtreibende Anstiege.

Um die Mittagszeit erreiche ich nach etwa 40 Kilometern die kleine Stadt Jerash und hier wird es Zeit, erst einmal Grundsätzliches mit mir selbst zu klären. Einerseits will ich heute noch das 50 Kilometer entfernte Der’a hinter der syrischen Grenze erreichen, andererseits gibt es im Städtchen Jerash fantastische römische Ruinen zu bewundern, ganz zu schweigen davon, dass meine schlappen Beine auch nicht mehr so euphorisch in die Pedale treten wie am Morgen.

Vor zehn Jahren war Göran Kropp mit dem Fahrrad von seinem Heimatort Yttre Tvärgränd zum Mount Everest aufgebrochen. Sein Buch „Allein auf den Everest“ war Inspiration für mich gewesen, aber nie wollte ich meine eigene Tour so wie er gestalten. Er hat sein gesamtes Expeditionsgepäck zunächst mit dem Rad und dann später zu Fuß transportiert, selbst bei der Besteigung des höchsten Berges der Welt wollte er keine fremde Hilfe annehmen. Jede andere Art, den Mount Everest zu besteigen, erschien ihm zu wenig sportlich, doch sein Preis war hoch. Die herrliche Strecke durch Asien zum Himalaya ist für ihn dadurch zur Mühsal geworden, zur bloßen Notwendigkeit, um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen. Da war keine Muße, keine Zeit, um in der fremden Welt die Schönheiten der Natur oder die großartigen Kunstdenkmäler zu erleben und die Gastfreundschaft der Menschen zu genießen. Darin will ich es meinem Vorbild Göran Kropp nicht gleichtun. Seit meinen Schultagen träume ich davon, einmal auf dem Landweg nach Indien und Nepal zu gelangen. Ich will alles sehen, alles erleben und mir ausreichend Zeit für diese faszinierende Route nehmen. Auf keinen Fall will ich Kathmandu auf dem schnellstmöglichen Weg erreichen.

Darum lasse ich mein Rad für heute ruhen, schlendere bei herrlichem Sonnenschein durch die Ruinen des alten Gerasa. Am Abend, wenn alle Touristen das Städtchen verlassen haben, spaziere ich durch die kaum beleuchteten Altstadtgassen, genieße Hummus, Fladenbrot und Tee an einem kleinen Straßenstand, plaudere bis spät in die Nacht mit Einheimischen – und lebe! Zwei Tage später erreiche ich Syriens Hauptstadt Damaskus. Den ganzen Tag hat es geschüttet, die Fahrt war eine wahre Schlammschlacht im Schwerverkehr. Der endlose Weg von den Vororten ins Zentrum der Millionenstadt wird zum Spießrutenlauf zwischen kreuz und quer über die Straßen rasenden Autos. Aber ich sehe erstmals auch andere Radfahrer und tröste mich mit dem Gedanken, dass diese mehrheitlich das chaotische Verkehrstreiben überleben dürften. Anders ist ihre Fröhlichkeit nicht zu erklären. Offensichtlich bin ich erst in der Anfangsphase der „Enteuropäisierung“. Halb radelnd, halb schiebend mache ich mich in der Innenstadt mit meinem vom Regen getränkten Reiseführer auf Hotelsuche. Tatsächlich findet sich ein freundlicher Rezeptionist, der mir trotz Schlammspritzer im Gesicht ein Zimmer im fünften Stock zuweist, ohne Lift versteht sich. Unter diesen Umständen werde ich erst einmal auf meine Sicherheitsmaßnahme – Rad ins Zimmer – verzichten. Nachdem ich große Wäsche gemacht und dabei mein Zimmer, den Gang und einige angrenzende Räumlichkeiten unter Wasser gesetzt habe, tauche ich beschwingt und hungrig ins Altstadtgetümmel ein. Immerhin ist Damaskus eine der ältesten noch bewohnten Städte der Erde, es mangelt wahrlich nicht an kulturellen Highlights.

Mit flauem Gefühl in der Magengrube verlasse ich am nächsten Morgen die Stadt. Die erste große Wüste liegt vor mir, 500 Kilometer, mittendrin nur ein einziger nennenswerter Ort.

Seit Jahrzehnten reise ich mit dem Rucksack in alle Ecken der Erde, doch ferne Länder mit dem Fahrrad zu erleben, das ist völlig neu für mich. Als Backpacker bin ich meist mit lokalen Bussen von Stadt zu Stadt gereist, die abgeschiedene Welt zwischen den größeren Orten habe ich durch das Busfenster an mir vorbeirauschen sehen. Ich weiß, dass jetzt alles anders wird. Nun werde ich selbst Teil dieser abgeschiedenen Welt sein, sie hautnah erleben, denn die nächste Herberge wird oft viel zu weit entfernt liegen, um sie in einer Tagesetappe zu erreichen. Die Abenddämmerung wird mich an irgendeinem touristisch völlig bedeutungslosen Ort anschwemmen. Dort werde ich mich einer Welt und Begegnungen stellen müssen, die mir als Normaltourist früher weitgehend verborgen geblieben sind. Vielleicht werde ich diese Art des Reisens später als Privileg empfinden, doch jetzt, in den ersten Tagen, muss ich mich erst an den Gedanken gewöhnen, nicht zu wissen, wo ich am Abend essen und schlafen werde.


Ein menschenleeres Asphaltband durchzieht die Wüste.


Beduinengehöft in der Syrischen Wüste

Der Mann an der Rezeption erfühlt meine Unsicherheit und verabschiedet mich mit den Worten: „Überall, wo du hinkommst, wird man dir helfen.“ Drei Monate werde ich durch die islamische Welt radeln und stets werden sich diese ermutigenden Worte bewahrheiten.

Ich überstehe den Großstadtwahnsinn und radle Richtung Osten. Im kleinen Ort Dumayr, dem Tor zur Wüste, kaufe ich zwei Läden leer, packe Unmengen an Getränken und Lebensmitteln in meine Radtaschen und ziehe weiter. Nach 40 Kilometern sehe ich einige Hütten und eine Tankstelle. Ein Bett? Gibt es nicht. Wirklich nicht? Gibt es doch. Die Hilfsbereitschaft der Menschen hier ist eindrucksvoll. Einer der Tankwarte verschwindet in der Moschee der kleinen Ansiedlung, kehrt mit einer Handvoll Schlüsseln zurück, probiert jeden einzelnen an einer verfallenen Hütte, bis sich die Tür öffnet. Das muss wohl vor Jahren einmal ein Büro gewesen sein, nun gammeln hier noch einige verstaubte Polstermöbel vor sich hin und träumen von besseren Zeiten. Schnell richte ich mich ein, dann kehre ich zur Tankstelle zurück, sie ist das Zentrum des Lebens in diesem einsamen Ort. Von allen Seiten werde ich eingeladen, Tee, Kaffee, Wassermelonen – ein echter Luxus, hier „in the middle of nowhere“. Stundenlang sitze ich mit den Menschen hier am Feuer und radebreche mit meinen miserablen Arabischkenntnissen durch den Abend.

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