Sieben Welten - Seven Summits

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CARIBBEAN ICE

Hämmernde Klänge, die vibrierende Schwüle der karibischen Nacht! Bob Marley ist tot. Tot und allgegenwärtig! Regennass schlammige Wege, kaum bewohnbare Bretterverschläge, kleine Straßenbars – alles ist erfüllt von seiner Musik. Ein Saxophon begleitet die Stimme eines Sängers hinaus in die Dunkelheit der pulsierenden Nacht. „Stir it up, little darling, stir it up … “Der Herzschlag dieser kleinen karibischen Welt greift nach mir, lässt mich gänzlich in diesem Dasein aus Wärme, Ausgelassenheit und rhythmischen Klängen aufgehen. Ich genieße den lauen salzigen Atem des Windes auf meiner Haut.

Zwei Schwarze, voll mit Bier und samstägiger Lebensfreude, versuchen ungeschickt ihr Brettspiel zu koordinieren, verwickeln mich in alkoholgetränkten Small Talk. Zwei Mädchen, nicht mehr Kind und noch nicht Frau, laufen kichernd mit ihren Gingläsern hinunter ans Wasser, hocken sich dicht aneinandergeschmiegt auf ein Fischerboot, tuscheln, blicken hinauf zur Bar, suchen von dort Blicke einzufangen. Die kleinere der beiden hebt ihr Glas und prostet mir zu. Das Spielchen lässt mich kurz aus meiner Gedankenverloren heit erwachen, lachend erwidere ich den Gruß. Augenblicke später gleite ich wieder zurück in die alles umhüllende Musik, spüre den Takt wie die Wellen, die unweit von mir sanft in die flache Bucht branden.

Die eisige Unendlichkeit der Andengipfel liegt weit hinter mir, nur wenige Tage zwar und doch kaum begreifbar fern. Erst jetzt spüre ich die lockere Weichheit meiner Muskeln. Wochenlang waren sie angespannt gewesen, um ein bisschen Wärme im Körper zu speichern. Erinnerung und Gegenwart verschmelzen ineinander. Ich genieße diese Ambivalenz, die das Dasein erst vollkommen schön macht. Dort der eisige Kampf in einer grandiosen, alles dominierenden Bergwelt, heute das Entkrampfen eines angespannten Körpers, das Öffnen der Ventile, das Hinausgleitenlassen der Kälte, das Einsaugen der Wärme des Meeres, der Klänge, des Pulses dieser schwülen Nacht.

Unwirklich tauchen sie vor mir im Dunkel der Nacht auf, weiße und rote Flecken, gestaltlos. Langsam nehmen sie Konturen vor meinen Augen an – riesige Felder aus kleinen, mannshohen Eistürmen, dahinter steile, abweisende Felswände, die im Abendlicht ihren rötlich-goldenen Zauber auf die weiße Brandung des Wolkenmeeres ergießen. Hechelnde Atemlosigkeit wird in der eisigen Stille hörbar. Noch vor wenigen Tagen war dies die einzig denkbare Wirklichkeit in meinem Leben gewesen.

Es ist totenstill hier draußen. Der kleine Bach zu meinen Füßen gibt keinen Laut von sich. Der klare Sternenhimmel über der Wüste hält mich lange an diesem einsamen Platz. Es ist die Silvesternacht, in wenigen Stunden werden wir das neue Jahr begrüßen. Aus dem Dunkel der Nacht erstrahlt, hell erleuchtet, unser futuristisch anmutendes Mannschaftszelt in orange-farbenen Tönen – so als wäre gerade ein UFO in diesem schmalen Wüstental gelandet. Vor vier Tagen sind sie in Chile gelandet, meine fünfzehn Bergkameraden aus Europa, Zbigniew aus Polen ist der Leiter unserer Gruppe. Seit diesem Tag leben wir in der Atacama-Wüste, streunen kreuz und quer auf kaum erkennbaren Pisten in Pick-ups durch die Farbenpracht und Weite dieses einsamen Landes, bauen abends an idyllischen Plätzen unser Lager in den Wüstensand und begeistern uns an jedem Funken Leben, den wir in dieser ausgedörrten Welt entdecken können.

Fast unmerklich gelangen wir täglich einige 100 Meter höher, auf sanfte Weise gewöhnen wir so unsere Körper an die immer dünner werdende Luft. Der fast geruhsame Campingurlaub in einer der spektakulärsten Wüstenlandschaften der Erde wird uns besser auf unsere hochgesteckten Bergziele vorbereiten als stundenlanges, hartes Training in der Heimat. Unser kleines Zeltlager liegt auf mehr als 4000 Metern Höhe, heute haben wir unseren ersten Fünftausender bestiegen – kaum mehr als eine Halbtagestour.


Strandkneipe in Gros Islet, Saint Lucia


Bunt, warm, lebensfroh – das Flair der Karibik

Das neue Jahr hält Überraschungen vom Feinsten für uns bereit. Wir erreichen eine kleine Geländekuppe, unsere Fahrer halten an. Von hier öffnet sich ein überwältigender Ausblick: Vor uns erstreckt sich in einer Senke die malerische Laguna Verde. Ihr grün-blaues Wasser wird von einem zarten weißen, salzhaltigen Saum umfasst. Ein Meer winziger, gelber Pflanzen bedeckt den schwarzen Lavaboden. Rund um den See ragen 5000 und 6000 Meter hohe Berge in den Himmel. Ihre düsteren roten und schwarzen Farben werden vom strahlenden Weiß riesiger Büßerschneefelder belebt.

Ein Platz zum Träumen, an dem wir mehrere Tage verweilen werden. Am Seeufer, immerhin 4400 Meter hoch gelegen, bauen wir unsere Zelte auf. Der eisige Wind kühlt uns schnell aus, doch unsere Zuflucht ist nicht weit. Nur wenige Meter entfernt sprudelt heißes Schwefelwasser aus der Erde und sammelt sich in kleinen Becken. „Bewaffnet“ mit einigen Bierdosen tauchen wir in das fast 40 Grad warme Wasser ein.

Wenige Tage später erreichen wir die Basis des Ojos del Salado, des zweithöchsten Gipfels von Amerika und höchsten Vulkans der Erde – 6893 Meter. In zwei Tagen steigen wir durch schwarze Lavaasche hinauf zu seinem Kraterrand. Die feurige Glut ist vor Tausenden von Jahren erloschen. Nun weht eisiger Wind über die Höhen dieses Giganten. In leichter Kletterei gelangen wir hinauf auf den höchsten Punkt des Berges, der 1937 von einer polnischen Expedition erstbestiegen wurde. Erstbestiegen? Unweit des Gipfels hat man vor wenigen Jahren am Kraterrand Reste von Opferstätten aus der Inkazeit gefunden.

Nur drei Tage später stehen wir an der malerischen Laguna de los Horcones, überragt von der gewaltigen, fast 4000 Meter hohen Südwand des Aconcagua. Nun, die Südwand ist eine Nummer zu groß für uns, die werden wir bleiben lassen. Wir wollen den Berg nach Norden hin umwandern und dann auf ausgetreteneren Pfaden seinen Gipfel erreichen.

Der Berg bietet, zumindest auf den beiden Normalrouten, keine technischen Schwierigkeiten, ist beinahe eine Wanderung von der Straße bis zum Gipfel. Dennoch erreichen nur zwanzig Prozent der Gipfelaspiranten auch den höchsten Punkt, eine Erfolgsquote, die sogar unter jener des Mount Everest liegt. Wie ist das möglich? Der Aconcagua ist hoch, fast 7000 Meter, er ist kalt und wie kaum ein anderer Berg dieser Welt extremen Höhenstürmen ausgesetzt. Viele Bergsteiger haben einen viel zu engen Zeitrahmen für die Besteigung, oft nur vierzehn oder fünfzehn Tage. Das ist nicht viel, um den Körper an die große Höhe zu gewöhnen. Wenn dann noch Stürme mit 150 km/h oder mehr jede Aktivität am Berg für Tage lahmlegen, ist ein solch knapp bemessenes Zeitfenster bald abgelaufen, viele müssen absteigen, ohne überhaupt den Gipfel versucht zu haben.

Wir haben gar nur zehn Tage Zeit, um diesen Andenriesen zu besteigen. Dennoch haben wir keine schlechten Karten. Noch vor wenigen Tagen sind wir auf dem Ojos del Salado gestanden, nur knapp 70 Meter niedriger als der Gipfel des Aconcagua. An unsere Höhenanpassung brauchen wir keine Gedanken mehr zu verschwenden, wir können direkt zum Gipfel aufsteigen und müssen nur die Wettervorhersage im Auge behalten. Ich bin heilfroh. Die Normalroute, die wir für unsere Besteigung gewählt haben, ist nicht gerade spannend, und das für die Höhenanpassung übliche, mehrfache Auf und Ab auf diesem Weg wäre langweilig, vielleicht sogar nervenzehrend geworden.

Wir kommen schnell voran, halten uns aber an die üblichen Tagesetappen. So haben wir jede Menge Zeit, die beeindruckende Bergkulisse abseits der etwas eintönigen Wege zu genießen. In zwei Tagen wandern wir durch das Horcones-Tal zur Plaza de Mulas, dem von Hunderten Zelten bevölkerten Basislager des Aconcagua auf etwa 4250 Metern Höhe. Neben den bizarren Eistürmchen eines Büßerschneefeldes baue ich mit Martin unser Zelt auf. Wir strecken uns auf unseren Matten aus und starren hinauf zu unserem Berg. Die Abendsonne überzieht den Giganten mit einem rötlich-goldenen Schleier, unsere Augen haften fasziniert an diesem Spiel der Farben.

Schon am nächsten Morgen steigen wir mit schweren Lasten 1200 Meter höher, hinauf auf eine weite, offene Ebene, die Nido de Condores genannt wird und auf der wir unser Lager I errichten. Erstmals können wir die Gewalt der „zornigen Winde“ erahnen. Es sieht hier aus wie nach einem Bombenangriff. Ein Drittel der Zelte wurde durch die orkanartigen Böen zerfetzt, Ausrüstungsgegenstände und Nahrungsmittel liegen schutzlos und windgeschüttelt im Freien. Überall scheint Müll über die weite Fläche zu wehen, doch es ist kein Müll. Es sind die Habseligkeiten der Bergsteigerschar, die ihre Zelte in den „zornigen Winden“ verloren haben. Im besten Fall verhakt sich manches an Felsen oder Eisschollen, der Großteil aber weht hinunter über die Hänge, auf Nimmerwiedersehen. Wer sein Zelt und Teile seiner Ausrüstung hier oben verloren hat, muss seine Gipfelambitionen begraben.


In der Atacama-Wüste


Laguna Verde – Atacama-Wüste

Noch einmal steigen wir ins Basislager ab, um weiteren Brennstoff, Zelte für das Hochlager und Nahrungsmittel nach oben zu schaffen.

 

Anderntags steigen wir in zweieinhalb Stunden auf einem Trampelpfad vom Nido de Condores zum Campo Berlin auf, dem höchsten Lagerplatz am Aconcagua in 5900 Metern Höhe. Betreten sehen wir uns an. Das ist kein schöner Platz. Er ist eng, die Zelte kleben aneinander, überall bedeckt Müll den Boden, weit und breit sind keine Schneefelder zu erblicken, aus denen wir Trinkwasser gewinnen könnten.

Wir ziehen weiter und hoffen, höher oben einen geeigneten Lagerplatz zu entdecken. Etwa 100 Meter höher werden wir an den Piedras Blancas, den weißen Felsen, fündig. Umgeben von zauberhaften Felsformationen sind wir hier zwar nicht ganz so windgeschützt wie am Campo Berlin, dafür finden wir ausreichend Schnee zum Schmelzen vor. Wir sehen hinunter auf das Spiel der Wolken, das die große Schar der Vier- und Fünftausender umspült – eine einsame Aussichtsloge über der Welt.

Morgen wollen wir zum Gipfel. Martin und ich schmelzen unaufhörlich Schnee, um ausreichend „Saft“ für den langen Aufstieg zu haben. Wie so oft, kommt es anders als geplant. Am nächsten Morgen geht niemand zum Gipfel, wir nicht und auch sonst niemand. Ein Orkan rüttelt an unseren Zelten, wir wagen es kaum, unsere Nasen aus der windgeschüttelten Bleibe zu strecken. Warten – auf ruhigere Zeiten!

Auch am nächsten Morgen, es ist bereits der 18. Januar, herrscht alles andere als Windstille. Die Wetterprognose für die folgenden Tage verheißt noch Schlimmeres. Seit sechs Uhr morgens sind wir für den Gipfelsturm bereit, doch Zbigniew verschiebt den Aufbruch. Ratlosigkeit. Irgendetwas muss geschehen, sonst läuft auch uns die Zeit an diesem Berg davon. So gut vorbereitet sind wir gewesen, bestens akklimatisiert, sollten wir dennoch ohne Gipfel heimkehren müssen?

Um halb acht brechen wir auf. Es hat keinen Sinn, in diesen lebensfeindlichen Regionen auf ein laues Sommerlüftchen zu warten. Das kann an diesem Berg dem „Warten auf Godot“ gleichen. Auf einem einfachen Serpentinenweg erreichen wir in zwei Stunden die Independencia-Hütte in 6350 Metern Höhe. Hütte ist ein großes Wort für diese Ruine aus freiliegenden Balken und Brettern. Ivan, ein Chilene, der uns begleitet und schon mehrmals den Gipfel erreicht hat, rät uns, schon hier die Steigeisen anzulegen. Weiter oben werden wir es nicht mehr schaffen. Ungläubig vernehme ich seine Kunde. Es ist weit und breit weder Schnee noch Eis zu sehen! Als ich knapp 100 Meter höher auf einem kleinen Rücken aus der Mulde ins freie Gelände trete, weiß ich, was er gemeint hat. Gewaltige Sturmböen reißen mich fast um. Wie gut, dass wir seinem Rat gefolgt sind. In diesem Orkan hätte ich wahrlich keine Steigeisen mehr anlegen können.


Laguna Horcones mit der mächtigen Südwand des Aconcagua


Aconcagua im Abendlicht

Hier beginnt die lange, technisch anspruchslose Traverse zur Canaleta, einer Rinne aus Blockgestein, die zum Gipfelgrat hinaufführt. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen den Wind, um nicht aus dem Pfad geschleudert zu werden. In der Mitte dieser Querung ragt eine kleine Felsnadel in die Höhe, die für einige Meter Schutz vor den Sturmböen bietet. Als ich in den Windschatten gerate, werde ich sofort hangabwärts zu Boden gerissen und gegen die Felsen gedrückt. Ohne es zu realisieren, habe ich mich beim Gehen so sehr gegen den Wind gelehnt, dass ich mich in den Momenten der Sturmpause gar nicht auf den Beinen halten kann. Leicht lädiert stapfe und kämpfe ich weiter. Drei unserer Kameraden machen hier in der Traverse Schluss, sie kehren um, sehen keine Chance mehr, den Gipfel zu erreichen.

Der Kampf mit den Naturgewalten kostet alle Kraft. Erst in der Canaleta findet unsere merklich dezimierte Gruppe ein windgeschütztes Plätzchen zur Rast. Noch liegt der Gipfel 350 Meter über uns, wir können ihn nur erahnen. Doch auch die steile Canaleta ist kein Ort, der die matten Glieder erfrischen kann. An kräftesparendes, rhythmisches Steigen ist hier nicht zu denken.

Riesige Schritte, kleine Sprünge, Stolpern über wackeliges Blockgestein, das saugt den letzten Saft aus unseren müden Körpern.

Über mir erblicke ich einen felsigen Sattel. Dort endet das zermürbende Blockwerk der Canaleta, dort beginnt der Guanaco-Grat, der die beiden Hauptgipfel verbindet.

Die Party kann beginnen! Unendlich langsam kämpfe ich mich den sanft ansteigenden Gipfelgrat nach oben. Zwanzig kleine Schritte, hechelnd, Pause! Und doch geht alles nun innerlich beschwingt, ich genieße diese letzten 100 Meter zum Gipfel. Sechseinhalb Stunden nach unserem Aufbruch stehen wir auf dem höchsten Punkt – dem Dach Amerikas – 6962 Meter über dem Meer. Der Kontinent liegt zu meinen Füßen.

Ich bin ausgelassen wie schon lange nicht, springe auf dieser unspektakulären Gipfelfläche von einem zum anderen und lasse die ganze Anspannung der letzten Tage und Wochen voll Freude in wenigen Minuten aus mir hinausfließen. Die Unwirtlichkeit des Ortes, den Wind und die Kälte nehme ich gar nicht wahr.

Eine Stunde auf diesem Plätzchen der Sehnsucht vergeht wie im Flug. Zbigniew, selbst in bester Laune, besinnt sich seiner Verantwortung als Leiter und mahnt uns, dem Spektakel ein Ende zu bereiten und endlich abzusteigen. Partytreiben in knapp 7000 Metern Höhe, da kann einem rasch die Luft ausgehen, auch wenn man es nicht wahrhaben will, und gerade das ist das Gefährliche daran. In Hochstimmung trete ich den Rückzug in tiefere Regionen an, am späten Nachmittag erreiche ich mit meinem Kumpel Martin unsere Zelte an den Piedras Blancas.

Feurig-golden erstrahlen die uns umgebenden Gipfel im Abendlicht. Vor dem Zelt saugen wir die letzten Strahlen der untergehenden Sonne in unsere dauerkalten Körper ein. 3500 Meter tiefer erahnen wir unter einem Meer weißer Wolken die Straße zwischen Mendoza und Santiago de Chile. Dort wird in zwei Tagen unsere Besteigung des Aconcagua enden, dort werden wir zu den Annehmlichkeiten eines üppigen Lebens zurückkehren.

Die Beschaulichkeit währt nicht lange. Die Nachricht, dass in wenigen Stunden eine Schlechtwetterfront mit mörderischen Windgeschwindigkeiten über uns hereinbrechen wird, bereitet unserer wohlverdienten Ruhe ein jähes Ende. Noch einmal müssen wir unsere matten Glieder in Schwung bringen. Lager abbauen, alle Lasten in die zu unermesslicher Größe anwachsenden Rucksäcke verstauen, Abstieg. Tief in der Nacht erreichen wir das Basislager an der Plaza de Mulas.

In meiner Erinnerung werden die Schritte immer schneller und leichter, je näher wir den Häusern von Puente del Inca kommen. Das Lachen und die Lieder der Frauen und Kinder auf den Feldern, sie verklingen, verschmelzen mit den Stimmen und Rhythmen des Reggae hier an der Straßenbar. Bier, Gin, Pina Colada, alles verschwimmt, gestern und heute, nichts liegt dazwischen. Ich nippe am Glas und lasse die Gedanken treiben. Vor meinen Augen wird alles hell – gleißendes Licht, silbrig und golden und abweisend kalt strahlen die Eis- und Felsformationen meines Berges im Sonnenlicht, unendlich hoch über mir, wie unerreichbar. Langsam verblassen der Glanz und die Farben, sie werden sanfter, verlieren sich in der Erinnerung und in den leisen Wellen, die den Bootssteg nahe der Bar umspülen. Kurz verspüre ich die klare, kalte Luft, die von den eisigen Höhen herabweht, auf meinen Wangen. Augenblicke später wird sie lau, vermengt sich mit dem dumpfen, salzigen Atem dieser pulsierenden karibischen Nacht. „One love, one heart; let’s join together and I’ll feel alright …“

STÜRMISCHE PFORTE DER WELTMEERE

Landung in Punta Arenas im Süden von Chile! Ich betrete eine Welt, die ich im hohen Norden meines Heimatkontinents vermuten würde und die sich doch im tiefsten Süden der bewohnbaren Erde befindet. Einfache Holzhäuser in allen Farben und ohne Schnörkel – bunte Farbtupfen in einem nebelverhangenen, rauen Land mit windgepeitschten Fjorden, schroffen Felsen und weiten Ebenen mit kargem Bewuchs aus Moosen, Flechten und Gräsern. Nur das südliche Flair einiger Altstadthäuser erinnert daran, dass Spanier vor langer Zeit dieses kalte Land für ihre Krone gewinnen wollten. Es war eine Expedition über die Grenzen der damals bekannten Welt:

Vier Schiffe ankern an einem unwirtlichen Kap im stürmischen Atlantik. Noch nie waren Europäer so weit in den Süden unserer Erde vorgedrungen, doch von Entdeckerfreude ist nichts zu spüren. Die Vorräte sind knapp geworden und nirgends findet sich ein Ort, wo man sie auffüllen könnte. Weiter im Norden, da hatten sie noch Siedlungen vorgefunden, haben Nahrungsmittel von den wilden Bewohnern erworben, Menschen mit riesigen Füßen. Nach ihnen haben sie das Land auch Patagonien genannt1. Doch nun hat sich schon seit geraumer Zeit keine Gelegenheit mehr ergeben, mitgeführte Waren gegen Lebensmittel einzutauschen. Die Männer blicken hinaus auf eine weite Bucht, doch im Süden setzt sich dieses Land fort, immer weiter und weiter, ein Ende ist nicht zu erahnen. Wird denn dieser Kontinent niemals enden? Wird er in jenes geheimnisvolle Land am Ende der Welt einmünden, das die Gelehrten Terra Australis nennen? Noch nie hat es jemand zu Gesicht bekommen, riesige Berge aus Eis soll es dort geben – eine Welt, in der kein Überleben möglich ist.

Die Stimmung der Männer ist auf dem Tiefpunkt, doch nur wenige wagen es, den Ehrgeiz ihres von Entdeckungsdrang besessenen Anführers Magellan zu bremsen oder sich gar dagegen aufzulehnen. Er führt ein hartes und grausames Regiment.

Die Schiffe brechen auf, die riesige Bucht zu erkunden. Irgendwo muss es doch Menschen und Nahrungsmittel geben. Die Hoffnung sinkt, die Küsten sind menschenleer. Ohne zählbare Erfolge erreichen sie das Ende der Bucht. Das Ende der Bucht? Da führt noch ein schmaler Wasserarm weiter Richtung Süden.

Sie segeln hinein in den nur wenige Kilometer breiten Durchlass auf der Suche nach einem sicheren Ankerplatz, wollen nichts unversucht lassen, die triste Versorgungslage zum Besseren zu wenden. Die See ist ruhig, lautlos gleiten die Schiffe durch die Meerenge. Die Atmosphäre ist gespenstisch, die düsteren Küstenfelsen rücken im Nebel zu beiden Seiten bedrohlich nahe an die Schiffe heran. Jeden Moment müsste das Ende der Bucht erreicht sein, und doch geht es immer weiter durch diese nicht enden wollende, schmale Wasserstraße.

Nirgends sind Menschen zu entdecken, nicht einmal Anzeichen einer kleinen Ansiedlung sind zu erkennen. Doch es gibt sie, sie sind überall, allen Blicken verborgen verfolgen sie das Dahingleiten der fremdartigen Gebilde aus einer fernen Welt. Nur im Dunkel der Nacht verlassen die unsichtbaren Bewohner dieses unwirtlichen Landes ihre Verstecke. An der östlichen Küste dieser Meerenge sieht man nachts überall kleine Feuer auflodern, doch in der Morgendämmerung sind wieder alle Anzeichen menschlicher Existenz verschwunden. „Tierra del Fuego“ nennen die Männer auf den Schiffen diese unheimliche Welt – Feuerland.

Die Schönwetterphase findet ein jähes Ende, die Novembertage bringen Frühlingsstürme ins Land. Mit dem ruhigen Segeln ist es vorerst vorbei, die Schiffe werden wild durch die vom Wind aufgepeitschte Wasserstraße geschaukelt. Die vermeintlich schützende Küstennähe wird zur Bedrohung. Niemand weiß, wo sich gefährliche Untiefen verbergen. Nichts wie weg aus diesem engen Gefängnis tückischer Felsen! Magellans Ehrgeiz triumphiert über die Wünsche und Ängste seiner Mannschaft. Keine Umkehr, er will unter allen Umständen das Ende dieser seltsamen Bucht erkunden.

Sie finden kein Ende. Nach Wochen der Bedrohung weichen die Küstenfelsen in die Ferne, die Meerenge wird weit und weiter und mündet in ein riesiges Meer, in dem kein Land mehr zu entdecken ist. Die Wasser liegen ruhig vor den staunenden Männern, die unbekannte See wird für alle Zeiten den Namen „Stiller Ozean“ tragen. Die heiß ersehnte Durchfahrt vom Atlantik in den Pazifik war gefunden, der Weg in die östliche Hemisphäre steht nun offen.

 

Die Versorgungslage hat sich aber um nichts gebessert. Mehr als drei Monate werden die Männer unterwegs sein, ehe sie wieder bewohnte Inseln erreichen.

Fast zwei Jahre später erreicht die Victoria als einziges verbleibendes Schiff den spanischen Heimathafen. Nur achtzehn der ursprünglich 256 in Spanien an Bord gegangenen Männer können von ihren großen Entdeckungen auf dieser ersten Weltumseglung berichten. Alle anderen sind den Härten dieser einzigartigen Expedition zum Opfer gefallen, auch ihr Anführer Magellan selbst, oder aber sie mussten den Rest ihres Lebens in fremden Gefängnissen verbringen.

Das Land an der Südspitze Amerikas ist durch die Entdeckungen Magellans der spanischen Krone zugefallen, zumindest formal. Die Durchfahrt durch den Kontinent, die später den Namen „Magellanstraße“ erhielt, gewann immense Bedeutung für die Seefahrt auf den Weltmeeren – vor allem für Spanien selbst, das seine Kolonien im Westen Südamerikas durch diese Wasserstraße versorgte. Einige Versorgungsstationen entstanden entlang dieser Meerenge, doch das unwirtliche Land wollte niemand besiedeln.

Erst drei Jahrhunderte später, als die spanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit erkämpften, kam die Frage auf, wem nun diese kaum besiedelte Region zufallen soll. Wie könnte es anders sein, selbst um dieses ungewollte Land kam es zu Streitigkeiten. Schließlich wurde es zwischen Chile und Argentinien aufgeteilt.

Erst als die Länder Südamerikas ihre Unabhängigkeit erlangten und der Boden in der Heimat knapp und teuer geworden war, wurden diese vergessenen Landstriche plötzlich interessant für Menschen aus allen Teilen Europas: Briten, Skandinavier, Deutsche und vor allem Kroaten besiedelten die weite, kalte Pampa, die für die Schafzucht wie geschaffen war. Sie besetzten ein Land, in dem es schon Besitzer gab. Die Ureinwohner, die die neuen Grenzen und Zäune nicht respektieren wollten, wurden ihres Lebensraumes beraubt: Unbeachtet von der Weltpresse verübten die neuen Siedler einen der grausamsten Völkermorde der Geschichte. Ein Dollar Kopfgeld für einen toten Ona oder Yamana!

Nichts ist übrig geblieben von der Kultur der rechtmäßigen Besitzer dieses Landes. Es ist eine europäische Welt, der man hier im Süden Chiles begegnet. Nur die ungewöhnliche Landschaftskulisse, die fremdartigen Tiere und Pflanzen erinnern daran, dass man sich als Mitteleuropäer am fernen Ende dieser Welt befinde.

Zwischen rauen Küsten und endlosen Schafweiden mache ich mich auf, die Schönheiten dieses stürmischen Landes zu entdecken. Die Zeit der kleinen Lagerfeuer ist hier endgültig vorbei. Nur einige über die Pampa reitende Gauchos mit ihren Lasttieren erinnern an längst vergangene Tage. Das 21. Jahrhundert hat Einzug gehalten in dieser verschlafenen Idylle und es zu einem idealen Reiseziel gemacht für Touristen aus aller Welt, die fremdartige Naturschönheiten in westlichem Komfort erleben wollen.


Los Cuernos im Torres del Paine-Nationalpark


Gauchos in den Bergen Patagoniens

Die Pinguine, die alle durch ihr niedliches, tollpatschig wirkendes Gehabe bezaubern, scheinen die neugierigen Besucher bereits gewöhnt zu sein. Ihnen ist es besser ergangen als den Ureinwohnern Patagoniens. Sie haben kein Interesse an den neu angesiedelten Schafen gezeigt und wurden deshalb auch nicht ausgerottet. Auf der kleinen Insel Magdalena im Atlantik, die für die Landwirtschaft ungeeignet ist, haben sie ein artgerechtes Refugium gefunden, in dem sie sich auch nicht durch fotografierende Touristenhorden stören lassen.

Was für ein überwältigender Anblick! Über einem kleinen Gletschersee ragen die atemberaubenden Granittürme der Torres del Paine hoch in den Himmel, das absolute Highlight der Region, sie sind das vorrangige Ziel aller naturverbundenen Touristen, auch wenn sie für diesen elitären Aussichtsplatz einige Stunden schweißtreibenden Aufstiegs in Kauf nehmen müssen. Ich bin fasziniert von dieser spektakulären Kulisse und beschließe, diesen gewaltigen Gebirgsstock mit all seinen bizarren Felsformationen, seinen grünblauen Seen und seinen imponierenden Gletschern zu umwandern. Die weltbekannte Trekkingroute „Sendero Circuito de la Cordillera del Paine“ hat zwei Gesichter. Da gibt es die abenteuerliche Seite im Norden mit schwer begehbaren, rutschigen Pfaden, großen Distanzen zwischen den Lagerplätzen und wenigen wandernden Mitstreitern, die sich über den auch im Sommer tief verschneiten John-Gardener-Pass kämpfen. Hat man die einsame und beschwerliche Nordseite hinter sich gelassen, gelangt man im Süden des Massivs in eine malerische Seenwelt, umgeben von gewaltigen Gletschern und mächtigen Granitformationen. Nach den kargen Tagen im Norden findet man hier komfortable Unterkünfte, die jeden Luxus bieten, eher Hotel denn Berghütte. Mit der Einsamkeit ist es hier natürlich vorbei. Bestens präparierte Wege führen zu malerischen Aussichtsplätzen, die man sich mit Hunderten von Naturliebhabern aus aller Welt teilen muss. Dennoch möchte ich keine der beiden Seiten dieser grandiosen Runde missen.

Ich sitze an der Mole in Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt, und beobachte das vorwiegend touristische Treiben im Hafengelände. In einer Reihe liegen die Kreuzfahrtschiffe hier hintereinander am Kai an den Pollern vertäut, nur wenige Stunden oder Tage vor dem Auslaufen. Aufbruch in den unwirtlichsten aller Kontinente, in die Antarktis! Doch es sind keine abenteuerlichen Typen, die da an Bord gehen. Fein gekleidete Damen in Designerklamotten stolzieren in High Heels auf die komfortablen Schiffe zu, ihre Begleiter transportieren das Gepäck in Rollenkoffern zu den helfenden Mitgliedern der Crew. In wenigen Tagen werden sie in der totalen Einsamkeit an Land gehen und einzigartige Naturschönheiten erleben.

Wie leicht doch alles geworden ist! Ich denke an Magellans Mannschaft, die jahrelang darben musste, um diese Weltgegend zu entdecken. Ich denke an die Pioniere der Antarktis, die auf ihrem Kampf um den Pol Jahre der Entbehrung, Scott und seine Mannschaft sogar den Tod erleiden mussten.

Das Abenteuer des 21. Jahrhunderts hat seine Krallen verloren. Auch für mich! Ich muss die Passagiere auf den Kreuzfahrtschiffen nicht beneiden. Bald werde auch ich den eisigen Kontinent erreichen, und auch ich werde nicht darum kämpfen müssen. Mit dem Flugzeug werde ich komfortabel ins weiße Herz der Erde gelangen, an Plätze, die vor weniger als vierzig Jahren noch von keinem Menschen betreten waren.