Der Politiker

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Nach einer Stunde geht das Programm weiter. Seine Horte wird beim Bau einer Holzbrücke über einen Bach eingesetzt. Da heisst es Holzträger und Bretter schleppen. Vor dem Nachtessen muss noch ein Fussmarsch über fünf Kilometer bewältigt werden. Verpflegung ist spärlich, Willi muss das erste Mal hungrig ins Zelt kriechen, zum Glück ist er so müde, dass er sofort einschläft.

Die nächsten Tage sehen ähnlich aus. Das einzige was Willi richtig Spass macht ist der Sport am Morgen. Besonders wenn Fussball gespielt wird, kann er sich durchsetzen, da hat er mehr Erfahrung. Alle anderen Aktivitäten bereiten ihm noch Probleme. Mit dem Schiessen wird es von Tag zu Tag besser, trotzdem, den Rückstand auf die andern, welche bereits in der Hitlerjugend geübt hatten, kann er nicht aufholen. Das Aufbauen der Brücke macht ihm Spass und auch die immer länger werdenden Fussmärsche bereiten ihm keine Probleme. Auch dass er abends immer hungrig ins Zelt muss, stört ihn nicht mehr, alles eine Frage der Angewöhnung. Das harte Leben wird durch die ausgeprägte Kameradschaft wettgemacht. Gemeinsam leiden ist nicht so schlimm, wie wenn man es allein ertragen müsste.

Nach dem Lager wird Willi in die Hitlerjugend aufgenommen, niemand hat überprüft, ob eine jüdische Verwandte in seinem Stammbaum auftaucht. Wichtig ist, dass er ein guter Kamerad war, auf den man sich verlassen konnte.

Als Mitglied der Studentenverbindung hätte er eigentlich das Recht, die SA-Uniform zu tragen, doch die SA bleibt vom Reichskanzler Schleicher verboten. Man darf sich momentan nur heimlich treffen.

Gabi ist immer noch beleidigt, weil Willi in den Herbstferien nicht nach Worms kam. Ihre Briefe wurden seltener und er merkt, dass sie sich langsam entfremdet. Zum Glück ist schon bald Weihnachten, dann kann er für zwei Wochen nach Hause. Er muss sich für Gabi ein schönes Weihnachtsgeschenk ausdenken, sonst darf er sich nicht blicken lassen. Für ihn war die Aufnahme in die NSDAP wichtiger, als die Freundschaft mit Gabi. Er mag sie, das sicher, aber im Notfall gibt es noch andere Mädels, denen man den Hof machen kann. Das mit der NSDAP hatte nun Vorrang. Er muss die Uroma endlich vergessen machen, ist man mal dabei, kümmert sich niemand mehr, um seine Verwandtschaft.

Die letzten Wochen besucht er immer den Markt. Noch kann er sich nicht entscheiden. Ein schöner Hut, ein Schal oder eine schöne Halskette stehen zuoberst auf der Liste, nur entscheiden kann er sich noch nicht. Eigentlich tendiert er auf die Halskette, doch die ist sehr teuer und übersteigt seine Möglichkeiten deutlich.

«Du suchst doch noch ein Geschenk für Gabi», Sepp wirkt sehr geheimnisvoll, «ich hätte da eine Halskette, die könnte ich dir für fünfzig Mark verkaufen!»

«Fünfzig? - Das könnte ich mir noch leisten», geht Willi auf den Handel ein, «ist sie aus Gold?»

«Natürlich!», er zieht eine kleine Schachtel aus seinem Hosensack und zeigt sie Willi.

Der nimmt die Halskette aus der Schachtel und betrachtet sie im Licht. Zudem schätzt er das Gewicht, ja, sie scheint wirklich aus Gold zu sein.

«Aber fünfzig finde ich etwas gar hoch, sie hat nicht mal ein Amulett», versucht er den Preis noch zu drücken.

«Das könnte ich noch organisieren, welches Sternzeichen hat deine Freundin?»

«Sie ist eine Löwin.»

«Gut, ich beschaffe dir noch ein Amulett mit einem Löwen, aber dann muss ich noch ein Fünfer extra verlangen. Das Amulett kostet mich sicher noch ein Zehner.»

«Also ab gemacht», Willi streckt ihm die Hand entgegen um das Geschäft abzuschliessen, «fünfzig aber mit dem Amulett, dafür kriegst du von mir noch zwei Tafeln Schokolade, mein Vater hat mir gestern ein Paket geschickt.»

Sepp ergreift seine Hand und bestätigt das Geschäft. Beide sind zufrieden, auf die Schokolade kann Willi gut verzichten. Vater schickt ihm beinahe jede Woche ein Paket. Er hat aus seiner Zeit als Schmuggler, immer noch einen Vorrat an Schokolade. Momentan sind die Preise sehr schlecht, so kann er sie wenigstens privat gut einsetzen. Für Willi ist die Schokolade eine Notreserve, wenn mal das Essen in der Mensa nicht seinem Geschmack entspricht.

Vor Weihnachten stehen an der Uni noch einige Tests an. Willi schafft die Prüfungen in Algebra, Physik und Englisch ohne Probleme. Bereits am 4. Advent reisst er mit dem Zug nach Worms. Vater holt ihn vom Bahnhof ab. Willi blickt sich um. Gabi ist nicht da, er ist enttäuscht, er hatte sich auf einen Kuss gefreut.

Mit seinem Vater spaziert er durch das weihnachtlich geschmückte Worms. Den schweren Koffer transportieren sie im Leiterwagen, wie vor einigen Jahren, als sie die Bauernhöfe in der Umgebung besuchten.

Wilhelm erzählt von der Uni und dass er sich gut durchschlägt. Mit den Fächern hat er keine Probleme. Nach einigem Zögern informiert er seinen Vater, dass er in die NSDAP eingetreten ist.

«Gab es dabei keine Probleme», fragte der nach, «du weist doch, die Uroma?»

«Nach dem Lager gab es keine Probleme, ich wurde nicht mehr überprüft.»

«Dann ist's gut», meint Vater, «ich hatte schon befürchtet, dass du deine Zukunft wegen der Uroma verbaut hast. Im Moment kommt man an den Nationalsozialisten nicht vorbei. Ich denke, für Deutschland ist es das Beste, wir brauchen eine starke Führung.»

«Im Lager war es hart, aber die Kameradschaft ist einmalig. Es hat mir gefallen.»

«Das verstehe ich», meint Vater, «wenn nur dieser Hass auf die Juden nicht wäre.»

Wilhelm antwortet nicht, er denkt an Joshua und Frau Goldberg, seine ehemalige Lehrerin. Plötzlich erschrickt er, lässt sich gegenüber seinem Vater nichts anmerken. Ihm ist eben ein schrecklicher Gedanken gekommen. Woher hatte Sepp die Halskette? Hat er die bei einem Juden mitgehen lassen, als sie die Scheibe seines Geschäfts einschlugen? Ein schrecklicher Gedanke, doch er muss ihn verdrängen. Er kann sich nicht leisten, ein neues Geschenk zu kaufen. Zudem ist ja nichts bewiesen. Sepp hat in diese Richtung keine Andeutungen gemacht und Willi kann sein Gedanken inzwischen gut lesen. Er weiss wie er tickt und merkt im Normalfall sofort, wenn er ihn reinlegen will. Sicher ist alles korrekt verlaufen, auch das Amulett mit dem Löwen hat er nachgeliefert, das hätte er ja nicht wissen können oder hat er nochmals ein Geschäft überfallen? Kaum denkbar, die Zeit war zu knapp, das Amulett mit dem Löwen zu suchen. Langsam beruhigt er sich, schliesslich hat er es bezahlt.

Sie biegen in die Strasse ein und er sieht seine Mutter vor dem Haus stehen. Als sie ihn erblickt, rennt sie zum Gartentor und reisst es auf, dann rennt Rosa den beiden entgegen und fällt ihrem Sohn um den Hals. Die Tränen kullern über ihre Wangen. Wie gross er geworden ist.

«Kommt, ich habe ein Kaninchen gebraten, dazu gibt es Sauerkraut, das isst du doch so gern.»

Natürlich, denkt Willi, es war nicht anders zu erwarten, aber er freut sich wirklich. Mutters Küche ist doch die Beste. In der Familie Wolf hat sich nicht viel geändert, Mutter kocht immer noch mit etwas zu viel Salz. Die Möbel und auch das Essbesteck sind noch gleich. Wie könnte es auch ändern, Vater ist immer noch ohne Arbeit und die Geschäfte mit Goldberg bringen nur wenig ein. Wenigsten so viel, dass er nicht in der Suppenküche anstehen muss, um etwas im Magen zu haben, aber grosse Ausgaben kann er sich nicht leisten.

Was sein Vater macht ist ihm eigentlich egal, solange er das Schulgeld bezahlen kann und dazu hat es immer gereicht. Ihn interessiert etwas ganz anderes, was ist mit Gabi?

Während Rosa wie eine wilde Wespe in der Küche herum irrt, räumt Willi im Gartenhaus auf. Es beruhigt seine Nerven. Später gönnt sich Willi ein Bad und rasiert sich. Noch ist es nur Flaum den er da wegschaben muss, aber er fühlt sich dabei sehr erwachsen. Er zieht sich die lange Hose an, welche seine Eltern ihm für die Reise nach Aachen gekauft hatten. Rosa hat den Tisch gedeckt, erfreut stellt er fest, dass für vier Personen gedeckt ist.

Um sechs Uhr klingelt es.

«Machst du auf», befiehlt Rosa ihrem Sohn, «ich muss den Braten aus dem Ofen nehmen.»

Willi eilt zur Tür und öffnet. Er schaut in zwei strahlende Augen. Sekunden schauen sie sich an, dann breitet Willi seine Arme aus und umarmt Gabi. Die Umarmung geht Sekunden später in einen Kuss über. Erleichtert stellt er fest, dass die Herbstferien vergessen sind, sie hat ihm verziehen.

«Hallo Gabi», stammelt Willi nach Atem ringend, «freut mich, dich zu sehen. Hübsches Kleid», stellt er noch fest, dann küssen sie sich erneuert.

«So jetzt kommt endlich rein, das Essen ist fertig», stört Rosa die Begrüssung.

Während dem Essen wandert Willis Hand oft unter den Tisch und streichelt Gabis Hand. Dann ist es Zeit die Kerzen am Weihnachtsbaum anzuzünden. Gabi und Willi sitzen eng beieinander auf dem Sofa, welches ihnen Franz überlassen hat.

Dann ist es Zeit, die Geschenke zu verteilen. Bei Willi steigt die Nervosität wieder an. Gabis Augen strahlen, als sie das Geschenk auspackt. Eine Halskette mit einem Amulett ihres Sternzeichen, damit hat sie nicht gerechnet. Ein langer Kuss folgt als Dank. Sie schenkt ihm ein Sackmesser mit zehn Klingen. Auf der Karte steht: «In Liebe! Gabi!»

Von Rosa bekommt er einen selbstgestrickten Pullover und Vater schenkt ihm ein Füllfederhalter. Damit ist die Bescherung vorbei. Zum Kaffee gibt es noch selbst gebackene Weihnachtsplätzchen.

«Bringst du mich nach Hause?», flüstert ihm Gabi geheimnisvoll ins Ohr.

«Gern, musst du schon gehen?»

«Ja, ich habe versprochen um zehn zu Hause zu sein, ich bin schon spät dran.»

Die beiden verabschieden sich von Willis Eltern und treten in die kalte Nacht hinaus. Die Strassen sind menschenleer. Eng umschlungen schützen sie sich gegen die Kälte. In einer dunklen Ecke bleibt Gabi stehen.

 

«Ich will mich noch für die schöne Halskette bedanken!», flüstert sie ihm ins Ohr. Dabei öffnet sie den Mantel und zieht Willi eng an sich. Seine Hände umfassen ihre Taille, er spürt ihren schönen Körper, langsam wird er mutiger und seine Hände sind schon sehr nahe bei ihren Brüsten. Er bemerkt, dass der Rock von drei Knöpfen zusammengehalten wird. Vorsichtig öffnet er den ersten. Als er keine Abwehrreaktion feststellt, wird er mutiger und kurze Zeit später streichen seine Hände über und kurze Zeit später unter ihrem BH.

Langsam wird es kalt. Gabi deutet an, dass sie nach Hause muss. Beim Licht der Strassenlampe wird nochmals die Kleidung überprüft.

Silvester feiern sie bei den Eltern von Gabi. Es bleibt bei heimlichen Berührungen. Sie sind froh, dass sie ihre leichte Krise wegen dem Herbstlager überstandenen haben.

Jeden Tag verfolgt man am Radio das Geschehen in Berlin. Die Nazis machen enormen Druck. Das Verbot der SS und SA ist praktisch wirkungslos. Noch ist von Hindenburg Reichspräsident, doch er kann nichts beschliessen, wenn die Nazis nicht einverstanden sind, wird sein Beschluss ignoriert. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Alles deutet darauf hin, dass es Neuwahlen braucht, so ist Deutschland nicht regierbar.

Am Dreikönigstag verabschiedet sich Willi von Gabi, er muss zurück nach Aachen. Doch er hat versprochen, in der Faschingswoche, nach Worms zu kommen, dann bleibt die Uni geschlossen.

Die Machtübernahme /1933

Am dreissigsten Januar informieren die Dozenten ihre Studenten an der Uni in Aachen, dass Adolf Hitler, mit den Stimmen der Nationalsozialisten und den deutschnationalen Partei, zum Reichskanzler gewählt wurde.

«Dies ist das Ende der Weimar Republik», verkündet der Professor, «was das für die Universität bedeutet, wird man sehen. Wir erwarten, dass die deutsche Wirtschaft dadurch gestärkt wird. Eine starke Wirtschaft ist für eine Universität von Vorteil, deshalb bitten wir die Studenten sich ruhig zu verhalten. Das wäre es für den Moment.»

«Die Vorlesung ist für heute beendet!», verkündet der Professor.

Die Studenten stehen noch lange zusammen. Es wird eifrig diskutiert. Die eher links gerichteten Studenten verhalten sich ruhig, für sie brechen harte Zeiten an. Zum Glück ist es an der Uni verpönt, seine politische Meinung zu äussern, so weiss niemand, wer dem linken Lager zugeordnet werden muss, wenn sie klug sind, wechseln sie die Seite.

Die erste Rede von Adolf Hitler als Kanzler wird am Radio übertragen. Den Studenten gibt man die Möglichkeit, die Rede in der Aula zu hören. Die ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Während die Rede am Radio einige Male durch Heil Hitler rufe unterbrochen wird, bleibt es in der Aula ruhig. Jeder versucht möglichst viele Informationen aus der Rede aufzunehmen. Wie geht es jetzt mit Deutschland weiter? lautet die grosse Frage.

Dass Deutschland in der aussen Politik vermehrt die eigenen Interesse waren will, kommt gut an. Die Schaffung von Lebensraum im Osten nimmt man zur Kenntnis. Keiner weiss, was das bedeutet, die wenigsten denken dabei an Krieg. Im Grossen und Ganzen ist man mit der eingeschlagen Richtung einverstanden, es wird sicher nicht so schlimm werden.

Auf den Strassen in Aachen zeigt sich bereits was es bedeutet. Die SA mit ihren schwarzen Uniformen zeigt Präsenz. Die örtliche Polizei hält sich zurück. Sie bleiben in der Polizeistation und verhalten sich ruhig. Auch die Bevölkerung stellt sich nicht gegen die SA. Jeder vermeidet im eigenen Interesse aufzufallen. Die SA würde nur allzu gerne einige Leute verprügeln, doch um die Uni bleibt es ruhig.

Auf ihrem Zimmer ist die Stunde von Sepp gekommen. Jetzt fühlt er sich stark. Willi unterstützt ihn so gut es geht, aber ohne die Führungsrolle von Sepp zu gefährden. Er braucht ihn noch, er muss unbedingt zu einer Uniformen kommen und da rechnet er mit der Unterstützung von Sepp.

Während das Studium zu Gunsten der aktuellen Politik etwas vernachlässigt wird, freuen sich die Studenten auf die bevorstehenden freien Tage über den Fasching.

Am Samstagabend trifft Willi in Worms ein und Gabi holt ihn vom Bahnhof ab. Sie nehmen sich Zeit mit dem Nachhauseweg. Den Koffer ziehen sie im Leiterwagen hinter sich her, so bleibt immer eine Hand frei. In ihrer dunklen Ecke beginnen sie wieder mit dem herumfummeln.

«Morgen muss ich bei meiner Familie bleiben», erklärt Willi, «am Montag haben wir Besuch, aber am Dienstag könnten wir auf einen Maskenball gehen. Hast du Lust?»

«Ja natürlich!», entgegnet Gabi und gibt ihm einen Kuss, «ich muss am Sonntag auch zuhause sein und an einem Montag darf ich normalerweise nicht ausgehen, das passt gut. Ich sehe dich am Dienstag, holst du mich ab?»

Am Dienstagabend holt Willi seine Gabi ab. Sie hat sich als Prinzessin verkleidet und sieht bezaubernd aus. Willi ist ein Strassenräuber, die beiden passen gut zusammen.

«Wollen wir ins Volkshaus oder in den Krug?», fragt Willi.

«Im Volkshaus kostet es Eintritt, mir reicht der Krug. Im Volkshaus kam es letztes Jahr zu Raufereien.»

«Also in den Krug!», willigt Willi ein, «auf eine Rauferei kann ich verzichten.»

Dass der Entscheid richtig war, zeigt sich, gegen Mitternacht. Als mehrere Maskierte im den Krug drängen und von Unruhen im Volkshaus berichteten. Nun ist es Zeit für die Beiden, sich auf den Heimweg zu begeben. Auch im Krug ist es vorbei mit der Gemütlichkeit.

Da geniesst das Liebespaar lieber noch eine halbe Stunde Zweisamkeit in ihrer dunklen Ecke. Als Willi nach Hause kommt, sitzt Vater vor dem Radio und hörte gespannt auf die neusten Meldungen.

«Der Reichstag brennt!», informiert er seinen Sohn, der noch nicht auf dem neuesten Stand ist, «sie meinen, ein linker Jude hat ihn angezündet.»

«Du meinst Brandstiftung, wie das Stadttheater hier in Worms?»

«Sie wissen noch nichts genaues, mit Sicherheit wurde er in Brand gesteckt.»

Am nächsten Morgen liest Willi in der Zeitung, was im Volkshaus los war. Der Wirt wurde während dem Lumpenball von Nationalsozialisten erschossen. Das Leben in Worms wird immer gefährlicher, nur wer sich deutlich als Nationalsozialisten zu erkennen gibt, ist sicher. Franz trägt jetzt in der Öffentlichkeit immer die Naziarmbinde, nur so kommt er ungeschoren durch die Stadt. Die Wormser Polizei wird von den Nazis kontrolliert. Auch wenn der Stadtrat noch zur Liberalen Partei gehört, im Polizeirevier hat er nichts mehr zu melden. Die sind nicht mehr unter seiner Kontrolle. Auch Franz fahren die Ereignisse im Volkshaus ein, erst jetzt merkt er, wie gefährlich seine Arbeit in der goldenen Gans war.

Aus Berlin melden sie, dass das Reichstaggebäude nur noch eine Ruine ist. Paul von Hindenburg verkündet, dass die Schuldigen bestraft werden. Gleichzeitig teilt er mit, dass ab sofort eine Notverordnung in Kraft tritt. Er beruft sich auf Artikel 48 der Weimarer Rechtsverfassung.

Dass der Brandstifter bereits ermittelt werden konnte, wird von der Presse gerühmt. Ein linker Holländer namens van der Lubbe wurde verhaftet. Der Kommunist ist erst 23 Jahre alt und reiste erst kürzlich aus Holland nach Berlin. Dem Lümmel wird man zeigen, wie man in Deutschland mit Unruhestifter umgeht.

Was die Notstandgesetze für die Deutschen bedeutet ist nicht klar. Allgemein wird begrüsst, dass man nun gegen Unruhestifter hart vorgehen kann, das deutsche Volk will endlich wieder Ruhe. Politische Aufwiegler haben in Deutschland nichts verloren.

«Jetzt geht es aufwärts», meint Franz zu seinem Sohn, «jetzt herrscht wieder Ordnung, jetzt sind die Deutschen wieder wer.»

«Ich hoffe nur», wendet Wilhelm ein, «dass uns unsere Uroma nicht zum Verhängnis wird.»

«Solange wir uns für Deutschland einsetzen, spielt das sicher keine Rolle», beschwichtigt sein Vater, «du wurdest immerhin in der Partei aufgenommen.»

«Schon, aber nur, weil die mich nicht so genau überprüft hatten.»

«Die Hauptsache ist, dass du jetzt in der Partei bist», stellt Vater fest, «der Rest wird sich geben. Du musst halt aktiv sein, dann fällt es nicht auf.»

«Mit Sepp hab ich einen guten Kumpel zur Hand, er ist schon lange in der Partei und hat einiges zu sagen.»

«Wichtig ist jetzt, es geht mit Deutschland voran. Die Versailler Verträge haben nichts mehr zu bedeuten, wir sind endlich frei.»

Damit ist das Thema abgehackte. In der heutigen Zeitung hat Franz eine Anzeige der Lederfabrik gelesen, die suchen einen Buchhalter. Er will sich noch heute dort bewerben. Den Direktor kennt er noch aus seiner Zeit als Steuerbeamter und damals hat er immer dafür gesorgt, dass die Firma nicht zu viel Steuern bezahlen musste, das ist eine günstige Gelegenheit.

Er zieht seinen besten Anzug an und verabschiedet sich von seinem Sohn.

«Du verstehst doch, dass ich dich nicht zum Bahnhof bringen kann?», erklärt er Wilhelm, «das ist für mich wichtig, ich will am neuen Deutschland mitarbeiten.»

«Ist verständlich! Gabi wird mich zu Bahnhof bringen. Sie wird den Leiterwagen nachher in den Schuppen stellen.»

«Mach's gut!»

Willi schaut ihm nach wie er sich aufs Fahrrad schwingt und in Richtung Lederfabrik davonradelt. Bei so viel Optimismus muss es klappen.

Franz ist nervös, er hofft, dass der Direktor ihn noch gut in Erinnerung hat. Vor der Fabrik reduziert er das Tempo, er will nicht verschwitzt zum Vorstellungsgespräch erscheinen. Es ist jedoch noch gar nicht sicher, ob er überhaupt vorgelassen wird. Sicher gibt es viele Bewerber. Zum Glück hat er letzte Woche noch eine original Armbinde und eine Anstecknadel mit Hakenkreuz gekauft. Er achtet darauf, dass die Binde vorschriftsmässig befestigt ist und steckt sich auch die Nadel an den Kragen. Er ist gerüstet, nun stellt er sein Rad ab und geht auf das Pförtnerhaus zu.

«Heil Hitler, - was kann ich für sie tun?»

«Heil Hitler», erwidert er zackig den Gruss, «in der Zeitung habe ich gelesen, dass sie einen Buchhalter suchen. Ich möchte mich bewerben.»

«Moment bitte, wie ist ihr Name?»

«Franz Wolf!»

Der Pförtner betätigt die Kurbel an seinem Fernsprecher. Franz kann von der Unterhaltung nichts verstehen, der Pförtner hat die Scheibe zugezogen.

«Sie sollen warten», informiert ihn der Pförtner.

Wenigstens wird er nicht gleich weggeschickt, doch das Warten zehrt an seinen Nerven. Nach einer Viertelstunde steht er immer noch vor dem Häuschen und wartet. In der Zwischenzeit sind drei weitere Männer beim Pförtner aufgetaucht. Zwei, beide ohne Parteiabzeichen, wurden sofort weg geschickt. Einer steht nun wie Franz herum und wartet.

Es dauert noch eine weitere halbe Stunde. In dieser Zeit stellten sich noch vier weitere Männer vor. Drei konnten gleich wieder gehen. Der andere steht jetzt ebenfalls vor dem Häuschen. Alle drei sind nervös und beobachten den Konkurrenten misstrauisch.

Endlich, der Fernsprecher klingelt. Nach einem kurzen Gespräch öffnet der Pförtner die Scheibe.

«Ich bringe sie ins Büro, Herr Wolf, - bitte folgen sie mir!»

Ein Stein fällt Franz vom Herzen, er ist der Erste, welcher vorgelassen wird. Er hofft, dass das ein gutes Zeichen ist.

Mit einem zackigen Hitlergruss wird er empfangen. Er erwidert den Gruss ebenso gekonnt.

«Setzen sie sich Herr Wolf, ihre Unterlagen brauche ich nicht, ich weiss, dass sie die Buchhaltung beherrschen. Wie steht es mit dem Parteibuch?»

«Ich bin immer noch in der liberalen Partei, weil das in meiner Familie so braucht war. Natürlich unterstütze ich auch die Nationalsozialisten, denn die wollen ein starkes Deutschland, genau wie ich.»

«Die Stelle als Buchhalter ist leider schon vergeben», meint der Direktor, «wir haben aber grosse Aufträge von der Partei in Aussicht gestellt, da brauchen wir einen Mann, welcher bei den Bauern und Metzger der Umgebung Leder in guter Qualität einkauft. - Trauen sie sich das zu?»

«Einkaufen, ja das müsste ich auch können, ich habe einige Bekannte, welche Bauern sind, die sind sicher froh, wenn ich ihnen die Felle abkaufe.»

«Das glaube ich Ihnen, nur verstehen sie etwas von Leder?»

«Im Schachklub haben wir viel über Leder diskutiert, zwei Freunde arbeiteten in der Fabrik.»

«Gut, das Fachwissen können sie erlernen, da bin ich sicher. - Dass sie nicht in der Partei sind, ist vielleicht ein Vorteil. Viele Bauern und Metzger sind noch nicht so weit, sie sind etwas rückständig, aber solange sie liefern, ist das kein Problem. Wir haben ja Meinungsfreiheit. Liefern müssen sie, da können wir nicht wählerisch sein».

 

«Vor einem Besuch auf dem Land, kann ich das Abzeichen entfernen. Das ist für mich kein Problem.»

«Das sehe ich auch so», stellt der Direktor fest, «dann sind wir uns also einig! Die Bezahlung ist abhängig von den Lieferungen. Melden sie sich morgen früh um sieben Uhr im Einkauf, dritte Tür links.»

Franz könnte in die Luft springen vor Freude, er hat wieder eine Arbeitsstelle.

Franz besucht die Bauernhöfe mit dem Fahrrad, nach zwei Monaten stellt ihm die Firma ein Motorrad mit Seitenwagen zur Verfügung. So kann er kleinere Lieferungen gleich selber besorgen und ist auch schneller. Die Bauern betrachteten dieses neuartige Gerät noch kritisch. Bevor er auf einen Hof einfährt, reduzierte er die Geschwindigkeit auf Schritttempo und drosselte den Motor. Anfänglich scheuten die Pferde und die Hunde waren kaum zu bändigen.

Franz kann es gut mit den Bauern. Sie sind froh, dass sie die Felle zu einem guten Preis verkaufen können. Bei den Metzgern ist es schwieriger, die haben bereits ihre festen Abnehmer. Da kann er sein Geschäft nur über einen guten Preis abschliessen. Dies ist insofern leichter, weil die meisten Metzger in der Partei sind, da darf er beim Einkaufen etwas grosszügiger sei. Alle sollen von der Parteizugehörigkeit profitieren.

Er teilte seine Besuche so ein, dass er drei Tage die Woche die Parteimitglieder besuchte und an den übrigen zwei Tagen sich um die Nichtmitglieder kümmerte. Am Samstag arbeitete er immer in der Fabrik und machte seine Abrechnung. Danach plante er die nächste Woche. Gegen Abend bekommt er noch den Wochenlohn ausbezahlt.

Anfänglich ist der Lohn bescheiden, doch mit der Zeit wird er besser. Dank dem Motorrad kann er seinen Aktionsradius ausdehnen. Inzwischen ist ihm der Wechsel zwischen Parteimitglied und parteilosem Bürger in Fleisch und Blut übergegangen. Er kann sowohl mit einem zackigen Heil Hitler, wie auch mit einer Begrüssung mit Händedruck und einem freundlichen grüss Gott umgehen.

Etwas schwieriger wird der Umgang mit Josef, da ist er vorsichtiger geworden. Er tätigt noch einige Geschäfte, aber nun rechnet er eine höhere Marge ein. Goldberg muss sich mit einem tieferen Gewinn zufrieden geben, doch der hat keine Wahl, als Jude hat er sich anzupassen.

Im März nehmen die Übergriffe auf Juden in Worms zu. Josef verlässt seine Wohnung, wenn er zuhause in Worms ist, nur noch selten. Er ist jetzt noch mehr im Schwarzwald unterwegs. Nicht weil er mehr Kunden besucht, sondern weil er immer vorsichtiger ist. Er schläft im Wald unter einer warmen Decke und wechselt nur bei Nacht seinen Standort. Mit seinen Lieferanten hat er geheime Zeichen vereinbart, so weiss er, ob sich ein Besuch lohnt, ohne dass er den Lieferanten sprechen muss. Auf diese Art könnte er auch gewarnt werden, wenn mit dem Besuch von Nazis zu rechnen ist. Joshua ist bei einem Uhrmacher in der Schweiz in eine Lehre eingetreten und lässt sich in Worms nicht mehr blicken.

Die seltenen Treffen zwischen Josef und Franz finden in den Rheinauen statt. Als Treffzeitpunkt ist immer der erste Montag jedes Monats eingeplant. Doch diese Treffen kommen nicht immer zustande. Wenn Franz das Gefühl hat, dass die Auen überwacht werden, geht er gar nicht hin. Dann versteckt sich Josef und muss warten, bis nächsten Monat.

Beim letzten Treffen, beschliessen sie, in gegenseitigem Einvernehmen, auf diese Art von Geschäften zukünftig ganz zu verzichten. Franz wünschte Josef viel Glück und bedauert, dass er nichts mehr für ihn tun kann. Die Zeiten sind schlecht und man muss vorsichtig sein. Das gilt natürlich besonders für Josef, aber auch Franz muss aufpassen. Seine Nachbarn beobachten alles genau, keiner ist sicher, jeder bespitzelt jeden.

Die Reichstagswahl ist in Worms eine grosse Sache. Die Nationalsozialisten zeigten eindrückliche ihre Stärke. Das Stadtzentrum ist mit Hakenkreuzfahnen geschmückte. In Uniformen patrouillierte die SA und singen deutsche Lieder. Seit die Lederfabrik wieder jeden anstellt, der sich um eine Stelle bewirbt, sind in der Region deutliche mehr Leute für die Nationalsozialisten. Die sind es, welche die Lederindustie kräftig ankurbelt.

Die Parteiführung hat Anrecht auf feine Lederhandschuhe. Die gehören zur Uniformen einfach dazu, natürlich brauchen die SS und die SA zu ihren Uniformen Gürtel und meistens gehört eine Kartentasche, welche an Lederriemchen befestigt ist, zur Standardausrüstung. Weiter brauchen die in Mode kommenden Motorradfahrer eine starke Schutzhaube aus festem Leder. Von den Uniformstiefel ganz zu schweigen. Da gibt es eine Menge Arbeit, man braucht jede Arbeitskraft.

Die Wahl macht die Nationalsozialisten zur stärksten Partei. Die Mehrheit verpassen sie knapp. Da sich die anderen Parteien nicht einig sind, spaltet sich Deutschland in zwei Hälften, die kleinere Hälfe hat die Macht, die grössere Hälfte muss sich unterordnen.

Am Samstagmorgen will Franz noch die Rehfelle eines Jägers abliefern. Die Abteilung, welche die Felle normalerweise entgegen nimmt, ist mit der Abrechnung beschäftigt.

«Bring doch die Felle direkt ins Lager», schlägt der Prokurist vor, «ich habe sie in der Liste eingetragen.»

Franz nimmt die Felle und geht durch den langen Gang zum Lager. Als sich die Frau, welche im Lager die Anlieferungen entgegen nimmt, umdreht, erschrickt diese. Franz ist es sofort aufgefallen, nur warum?

Dann tritt die Frau näher und Franz erkennt Maria Goldberg. Sie macht ein Zeichen, dass er still sein soll.

«Bitte nichts verraten», flüstert sie ihm zu, «ich bin hier als Witwe Kunz angestellt.»

«Hallo Frau Kunz», begreift Franz die Situation sofort, «arbeiten sie nicht mehr als Lehrerin?»

«Nein, die Bengel haben mich zu stark gefordert, die Jungen sind nicht mehr wie früher, sie sind zu frech geworden, das mache ich nicht mehr mit.»

«Das kann ich verstehen», antwortet Franz, «ich habe hier fünf Rehfelle, die machen vorne die Abrechnung und hatten keine Zeit sie zu liefern, da habe ich sie selbst vorbei gebracht.»

«Wie geht es Wilhelm?»

«Der studiert in Aachen, wir sehen ihn nur noch selten, aber er kann ein Luftfahrtstudium machen, das war immer sein Wunsch!»

«Ja das habe ich schon damals feststellen, das Fliegen hat ihn fasziniert. Schön dass es geklappt hat.»

«Und, wie geht es ihnen Frau Kunz, sicher ist es im Lager ruhiger, als bei diesen Bengel.»

«Das schon, aber es gibt viel zu tun, leider habe ich keine Zeit zum schwatzen. Die Felle müssen noch eingeräumt werden», sie reicht ihm die Hand und drückt sie sanft, zum Dank, dass er so gut mitgespielt hat, «hat mich gefreut etwas von meinem einstigen Schüler zu erfahren. - Heil Hitler, Herr Wolf.»

Franz geht nachdenklich ins Lohnbüro, er ist froh, dass die Goldbergs wenigstens einen Lohn haben, so können sie überleben. Er weiss, dass sich Josef gut verstecken kann, um ihn macht er sich keine Sorgen und wenn Maria wieder Witwe Kunz spielt, bleibt sie unbehelligt.

In Aachen setzt sich Willi im Studium ein und hat seinen Rückstand auf Sepp aufgeholt. Ob der politischen Lage ist das Studium etwas in den Hintergrund getreten. Nach dem Wahlsieg der Nationalsozialisten erscheinen einige Studenten in Uniform zum Unterricht. Anfänglich wollten die Lehrer sie aus dem Saal weisen, doch mittlerweile ist das zu gefährlich. Der erste Dozent welcher die Studenten aus dem Saal verwies, wurde auf den Heimweg verprügelt. Der nächste Dozent gab seinen Widerstand schnell auf, ihm kann es egal sein, er liebt seinen Beruf und will sich aus der Politik so gut wie möglich heraushalten.

Inzwischen hat Willi seine SA-Uniform bekommen. Am ersten Abend feiern sie mit Sepp und seinen Freunden aus der SA dieses Ereignis. Endlich gehört Willi dazu. Im Studentenlokal spendiert er eine Runde Bier. Das verkraftet sein Budget eben noch. Es wird ein geselliger Abend.