Das Abenteuer meiner Jugend

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Zehntes Kapitel

Le­sen habe ich nicht in der Schu­le ge­lernt, son­dern am Ro­bin­son De­foes und Coo­pers Le­der­strumpf. Gott, dem ich da­für dank­bar bin, hat sich ei­ner Frau Met­zig be­dient, um mir bei­de Bü­cher als Ge­schen­ke ins Haus zu tra­gen. Sie war mit den Straeh­lers als ge­bo­re­ne Schu­bert ver­wandt, weil ihr Bru­der die zweit­jüngs­te Toch­ter des al­ten Brun­nen­in­spek­tors, Ju­lie Straeh­ler, ge­hei­ra­tet hat­te. Er war als Obe­r­amt­mann Schu­bert, in der Fa­mi­lie als On­kel Gu­stav be­kannt.

Durch Ro­bin­son und Le­der­strumpf ha­ben mei­ne Träu­me und mei­ne Spie­le rich­tung­ge­ben­de Nah­rung er­hal­ten.

Er­zäh­lun­gen be­deu­ten Träu­me, münd­lich oder schrift­lich in Wor­te ge­fasst. Von da ab, als ich am Ro­bin­son le­sen lern­te, wur­de ein we­sent­li­cher Teil mei­ner Träu­me­rei­en durch Bü­cher ge­nährt. Wie kommt es, dass ich, der ein mir völ­lig ge­mä­ßes Le­ben führ­te, Ro­bin­son und Le­der­strumpf mit Gier ent­zif­fer­te und die Le­bens­form bald des einen, bald des an­de­ren Hel­den lei­den­schaft­lich her­bei­wünsch­te, und wes­halb ver­fal­len die­sen Ge­stal­ten alle ge­sun­den Kna­ben so wie ich?

Auch hier ist Kampf, aber nicht mit Buch­sta­ben, Bi­bel­sprü­chen und Re­chenexem­peln, son­dern mit der Na­tur und in der Na­tur. Und nach der Ver­voll­komm­nung, nach der Vollen­dung die­ses na­tür­li­chen Zu­stands sehn­te ich mich trotz al­lem, was mich an mei­ne Um­ge­bung fes­sel­te.

Und je­der ge­sun­de Kna­be sehnt sich da­nach.

So weit, dass ich wirk­lich ge­flo­hen, eine See­stadt zu er­rei­chen ge­sucht und mich auf ein Schiff ge­schli­chen hät­te, trieb ich es nicht. Aber ich habe es oft er­wo­gen. Da­bei be­stand zwi­schen mir, mei­nen El­tern und mei­nem El­tern­hau­se die al­le­rin­nigs­te Ver­bun­den­heit.

Und nicht nur das, son­dern ich konn­te mir manch­mal gar nicht den­ken, dass es et­was andres als Salz­brunn mit sei­ner Säu­len­hal­le, sei­ner Heil­quel­le, sei­nen pa­ra­die­si­schen Ku­r­an­la­gen und dem Gast­hof zur Kro­ne mit­ten dar­in in der Welt über­haupt noch ge­ben kön­ne.

Das Ver­lo­cken­de an Ro­bin­son war sein völ­lig ver­las­se­nes, völ­lig ein­sa­mes Le­ben in der Na­tur, ohne Men­schen oder An­spra­che, wo nie­mand ihn be­leh­ren, zu­recht­wei­sen, sei­nen Wil­len und sei­ne Schrit­te ir­gend­wie gän­geln konn­te. Lag dar­in die höchs­te Er­fül­lung ei­ner We­sens­nei­gung in mir, so sah ich ein an­de­res Vor­bild in der Ge­stalt des Le­der­strumpfs: sei­ne mil­de Men­sch­lich­keit, ver­bun­den mit ru­hi­ger Furcht­lo­sig­keit, sei­ne nie feh­len­de lan­ge Büch­se dazu, sein pas­si­ver Mut wäh­rend der in­dia­ni­schen Fol­te­rung. Zä­hig­keit im Er­dul­den von Stra­pa­zen und über­all, auch im Es­sen und Trin­ken, An­spruchs­lo­sig­keit: ich lieb­te ihn bis zur Be­geis­te­rung.

Trotz­dem ver­setz­te ich mich bei un­se­ren Kna­ben­spie­len, und auch wenn ich al­lein war, sel­te­ner in sei­ne Per­son hin­ein als in die sei­nes Freun­des, des ed­len Häupt­lings der De­la­wa­ren, Ching­ach­gook. Im­mer wie­der durch Jah­re iden­ti­fi­zier­te ich mich mit die­ser Ge­stalt. Auf Fe­der­schmuck und auf äu­ßer­li­che Fixfa­xe­rei­en habe ich da­bei kei­nen Wert ge­legt, aber ich schwang einen höl­zer­nen To­ma­hawk.

Mein äl­tes­ter Bru­der Ge­org nann­te mich, wenn er von Bres­lau in die Fe­ri­en kam, nie an­ders als Ching­ach­gook, wo­bei al­ler­dings auch dop­pel­te Iro­ni­en und Hu­mo­re, näm­lich bei ihm und bei mir, zu­ta­ge ka­men.

Gleich­set­zun­gen wie die mei­nen mit Ching­ach­gook wür­de ein mo­der­ner For­scher dä­mo­nisch nen­nen: das Dä­mo­ni­sche stel­le im Ge­gen­satz zu den durch geis­ti­ge Er­fas­sung ge­won­ne­nen Tat­sa­chen das auf­bau­en­de Le­ben dar. Nach ei­ge­ner Er­fah­rung glau­be ich, dass es so ist. Und so darf man es nicht mit dem Ver­stan­de stö­rend schä­di­gen, da es, wie wei­ter ge­sagt wird, nur in sei­nen Aus­wir­kun­gen zu­gäng­lich sei. Es war bei mir mit stür­mi­schen Aus­brü­chen der Af­fek­te ver­bun­den. Und ein sol­cher Af­fekt, heißt es wei­ter, sei eine na­tur­not­wen­di­ge Er­schüt­te­rung, um das Dä­mo­nisch-Ge­nia­le zu we­cken. Be­kämp­fe man im Kna­ben das Dä­mo­ni­sche, schließt der ein­sichts­vol­le Mann, so be­kämpft man zu­gleich das Ge­nia­le im Kin­de, das auch ge­tö­tet wer­den kann.

Nun also, der gött­li­che Wahn­sinn des Dä­mo­ni­schen hat mich da­mals be­rauscht, ich leb­te im Zu­stand ei­ner ge­sun­den Be­ses­sen­heit. Mei­ne See­le hät­te sich über­haupt nie ent­brannt und ins Le­ben ge­ru­fen, wenn nicht eben die­ses Dä­mo­ni­sche die Na­tur und mich un­un­ter­bro­chen ver­wan­delt hät­te. Ohne be­wuss­te Me­ta­mor­pho­se mei­ner selbst und mei­ner Um­ge­bung gab es um jene Zeit für mich kein hö­he­res, also kein ei­gent­li­ches Sein. Ein Jun­ge, der mei­nen Na­men trug, be­deu­te­te nichts. Aber da stand ich als In­kar­na­ti­on mei­ner ei­ge­nen Idee, als Ching­ach­gook: al­les an­de­re an mir hat­te ich wie eine über­flüs­si­ge Scha­le weg­ge­wor­fen. Ein so be­seel­ter und be­tä­tig­ter Traum, sagt der Phi­lo­soph, habe das große Gan­ze nur zum Hin­ter­grund.

*

Selbst­ver­ständ­lich, dass es aus sol­chen Träu­me­rei­en hie und da ein Er­wa­chen gab. Schon die Dorf­schu­le sorg­te da­für. »Ihr Bö­se­wich­ter!« war Leh­rer Bren­dels täg­li­che An­re­de, wo­bei ihm die Au­gen über­gin­gen vor Wut. »Ihr Bö­se­wich­ter! Ihr Tau­ge­nicht­se!« klingt es mir noch heut im Ohr.

Und wirk­lich, die­se Be­zeich­nung als Tau­ge­nichts war bei mir in Be­zug auf die Schu­le ge­recht­fer­tigt. Ich konn­te nicht le­ben ohne Licht, Luft und freie Na­tur und ohne das ein­sa­me, ro­bin­so­na­le Le­ben und Selbst­be­stim­mungs­recht in al­le­dem. Schul­ar­bei­ten hass­te ich.

Hie und da kam, wie ge­sagt, ein Tag des Er­wa­chens, der Be­sinn­lich­keit. Ei­nes sol­chen er­in­ne­re ich mich.

Ein­mal war Al­fred Lin­ke, der Apo­the­kers­sohn, nach sei­ner wohl­er­zo­ge­nen Art mit mir spa­zie­ren­ge­gan­gen. Am Gar­ten­tor sei­nes El­tern­hau­ses schlug er mir vor, auf ihn zu war­ten, er habe Kla­vier­stun­de. Mit Ver­gnü­gen sag­te ich zu.

Hin­ge­streckt lag ich am Gar­ten­zaun, nichts­tue­risch, mei­nen Gras­halm kau­end, als das Kla­vier­spiel Al­freds, der ein vir­tuo­ses Ta­lent be­saß, und die kor­ri­gie­ren­de Stim­me des Leh­rers her­aus­schall­ten. Da fiel mir die ei­ge­ne Zeit­ver­geu­dung aufs Herz. Was tat ich, wäh­rend er sich so eif­rig fort­bil­de­te?

Ich rech­ne es un­ter die Träu­me­rei­en, wenn ich mir wie­der und wie­der im Büro mei­nes Va­ters ei­ni­ge Bo­gen wei­ßen Pa­piers er­bat, um sie mit Blei­stift­stri­chen nach und nach zu be­de­cken und zu ver­der­ben. Ich hat­te am Schluss der Be­mü­hung je­des Mal ein Ge­fühl des Miss­muts, ja der Ent­täu­schung zu über­win­den, dem ähn­lich, das ich als klei­nes Kind vor dem Ber­ge wel­ken Wie­sen­schaum­krauts ge­habt, das ich in Men­ge aus­ge­rupft hat­te.

Das trü­be Ende war zu ei­nem selt­sam ge­spann­ten, selt­sam er­reg­ten An­fang die Kehr­sei­te. Ir­gend­wie wuss­te ich, dass man die ver­lo­cken­de wei­ße Flä­che des Pa­piers mit sinn­vol­len und be­deut­sa­men Zei­chen, sei es in Bild oder Buch­sta­be, be­rei­chern kann. Und so hoff­te und wünsch­te ich, sie zu be­rei­chern. Den Ge­dan­ken, mei­ne Um­ge­bung, vor­an mei­ne El­tern, in Stau­nen zu ver­set­zen, kann ich ge­habt ha­ben, aber der ei­gent­lich ers­te Be­weg­grund war er nicht, viel­mehr woll­te sich, wie ich glau­be, ein noch dump­fer künst­le­ri­scher Trieb, der über­große Zie­le hat­te, vor­zei­tig Ge­nü­ge tun.

Ich muss ei­ner klei­nen Un­bill ge­den­ken, die ich von mei­nem Va­ter er­fuhr, als ich wie­der ein­mal in sein Schreib­zim­mer kam und um schö­ne wei­ße Pa­pier­bo­gen bet­tel­te. Hin­ge­nom­men und grü­belnd über Ge­schäfts­bü­chern, gab er mir al­ler­dings das Ge­wünsch­te, aber als ich es aus Ver­se­hen fal­len ließ, mir dann auch der Blei­stift ent­fiel, weil ich ängst­lich und un­ru­hig wur­de, ward ich un­sanft beim Kra­gen ge­packt und mit ei­ni­gen Klap­sen hin­aus­ge­wor­fen.

*

Im großen gan­zen habe ich den Schau­platz mei­nes Le­bens im­mer ge­nau­er in mei­nen Geist träu­mend und me­di­tie­rend ein­ge­baut, ihn un­be­wusst-be­wusst, ich glau­be in ei­nem über­ra­schend schnel­len Tem­po, er­wei­tert. Die Him­mels­kup­pel mit Gott­va­ter wölb­te sich über mir, der drei­ei­ni­ge Olymp hat­te aber dar­in noch kei­ne Stät­te.

Wo ist nun die­ser Olymp? Wie ist die re­li­gi­öse Welt über­haupt in mei­ne Träu­me und Me­di­ta­tio­nen ein­ge­drun­gen?

Von den bei­den Schwes­tern mei­ner Mut­ter, Tan­te Au­gus­te und Tan­te Eli­sa­beth im Dachrö­dens­hof, ging ein welt­ver­nei­nen­des We­sen aus, et­was Kryp­ten­haf­tes von ih­ren Wohn­räu­men. War ich in ihre Nähe ge­ra­ten und über­haupt in den Dachrö­dens­hof, so riss es mich fast im­mer flucht­ar­tig in die Son­ne hin­aus. Tho­luck, Strach­witz, Tho­mas a Kem­pis und der Geist des Gra­fen von Zin­zen­dorf, die hier herrsch­ten, müs­sen eine Aura ver­brei­tet ha­ben, in der für mich nicht zu at­men war.

Im Gast­hof zur Kro­ne, in­son­der­heit in der Fa­mi­lie, also bei uns, herrsch­te ein an­de­rer Geist. Kein Wort von ei­ner Ver­sto­ßung aus dem Pa­ra­dies, von Erb­sün­de oder Sün­de über­haupt, von dro­hen­dem Fe­ge­feu­er, nun gar ei­ner Höl­le, ging je aus dem Mun­de von Va­ter und Mut­ter her­vor. Es wa­ren nur we­sent­lich ir­di­sche Din­ge, mit de­nen sie sich ernst­haft ab­ga­ben.

Da­bei war in mei­nem Va­ter, in mei­ner Mut­ter eine tie­fe Fröm­mig­keit. »Geh mit Gott!« oder »Mit Got­tes Hil­fe!« hieß es bei al­ler­lei Un­ter­neh­mun­gen, de­ren gu­ten Aus­gang man wünsch­te.

Es blieb mei­ner Schwes­ter Jo­han­na vor­be­hal­ten, ihre rei­ne und gute Ab­sicht vor­aus­ge­setzt, mich mit dem Ge­dan­ken an Sün­de und Sün­den­schuld zu­nächst zu be­las­ten. Sie wand­te zum Bei­spiel den Aus­druck Lüge auf die meis­ten mei­ner hei­te­ren Fan­tas­te­rei­en an und be­haup­te­te dann, dass, wenn ich wirk­lich ge­lo­gen hät­te, mich der Blitz beim nächs­ten Ge­wit­ter er­schla­gen wür­de. Da­durch hat sie mir eine lang quä­len­de Ge­wit­ter­furcht ins Blut ge­bracht, denn dar­an, dass es ei­gen­wil­lig stra­fen­de Göt­ter ge­ben konn­te, zwei­fel­te ich als dä­mo­ni­scher Schöp­fer vie­ler Dä­mo­nen nicht.

 

Als ich die Fül­le mei­ner Sün­den in mei­nem Ge­wis­sen un­end­lich ver­mehrt hat­te, trös­te­te mich Jo­han­na wie­der in mei­ner Ge­wis­sens­not, in­dem sie er­klär­te, dass Je­sus Chris­tus, Got­tes Sohn, so­fern man be­reue, alle Sün­den auf ein­mal ver­ge­be, am Kon­fir­ma­ti­ons­ta­ge im Ge­nuss des Abend­mahls.

Durch den un­ver­ant­wort­li­chen, kin­disch-mut­wil­li­gen Er­zie­hungs­ver­such ei­ner kind­haf­ten Schwes­ter wur­de ich so in das kirch­li­che We­sen gleich­sam bei­läu­fig ein­ge­führt.

Wenn man mich also ge­le­gent­lich in Grü­belei­en ver­sun­ken sah, konn­te es sein, dass ich gra­de mein Sün­den­re­gis­ter nach­prüf­te.

Das Kind be­darf kei­nes Hei­lan­des, da­mit ihm Stei­ne zu Brot wer­den. Ihm wird auch ohne die Kö­nig Mi­das ge­währ­te Be­ga­bung al­les, was es an­fasst, zu Gold. Aber mein lei­den­schaft­li­ches Le­ben, mei­ne se­li­gen Ener­gi­en, in de­nen sich ein erns­ter Wer­de­pro­zess doch stets halb be­wusst mach­te, er­lit­ten durch sol­che Ein­grif­fe be­deut­sa­me Tr­übun­gen. Fort­an leb­te ich gleich­sam nur noch in ei­ner sor­gen­vol­len Glück­se­lig­keit.

So, wie sie je­doch war, ent­sprach sie mir, und ich dach­te nicht an­ders, als dass sie mir durch das Le­ben treu blei­ben wür­de.

Habe ich dar­in recht ge­habt?

Elftes Kapitel

Nach sei­ner schwe­ren Krank­heit dem Le­ben wie­der­ge­won­nen, ge­noss mein Bru­der Carl eine lan­ge Zeit die Haupt­an­teil­nah­me der Fa­mi­lie. Auch den Dachrö­dens­hof – der Groß­va­ter leb­te noch – hat­te Carl längst durch sein ge­sel­lig-of­fe­nes, lern­freu­dig-be­gab­tes We­sen für sich ein­ge­nom­men. Er über­traf mich da­mals und im­mer hier­in.

Ein Kin­der­ge­schicht­chen, das sich mit ihm im Dachrö­dens­hof zu­ge­tra­gen hat­te, wur­de wie­der und wie­der er­zählt. Der Groß­va­ter Straeh­ler, der wür­di­ge Brun­nen­in­spek­tor, hat­te sich mit Schlaf­rock und lan­ger Pfei­fe, um ihn zu amü­sie­ren, vor dem Drei­kä­se­hoch tan­zend in gan­zer Grö­ße her­um­ge­dreht, was die­ser mit küh­lem Phleg­ma be­ob­ach­te­te. Schließ­lich hat er mit den Wor­ten »Nee, ’s is doch ein ver­f­lisch­ter Kerl!« sei­ner Be­wun­de­rung Aus­druck ge­ge­ben, wo­mit er nach mund­art­li­cher Ge­pflo­gen­heit in ge­mil­der­ter Form einen ver­fluch­ten Kerl be­zeich­nen woll­te.

Das küh­le Phleg­ma mei­nes Bru­ders ist frei­lich spä­ter in sein Ge­gen­teil um­ge­schla­gen.

Eben­so wur­de im Fa­mi­li­en­ge­dächt­nis auf­be­wahrt, wie Carl dem Groß­va­ter ein Lied­chen zum Ge­burts­tag vor­tra­gen muss­te, das die Stel­le ent­hielt:

Auf ei­ner Flur, wo fet­ter Klee

und Gän­se­blüm­chen stand …

und wie er sie un­ge­wollt ver­än­der­te:

auf ei­ner Lur, wo Wet­ter­klee

und Gän­se­liem­chen stand …

und so zum Ver­gnü­gen des sieb­zig­jäh­ri­gen Ge­burts­tags­kin­des tap­fer ge­sun­gen hat­te.

Um die Zeit aber nach Carls Wie­der­ge­ne­sung wur­den, be­son­ders von Jo­han­na, Hel­den­stücke über Hel­den­stücke von ihm er­zählt, die den Fa­mi­li­en­stolz aufs höchs­te stei­ger­ten. So soll­te er ei­nes un­se­rer Kutsch­p­fer­de, das er zur Schwem­me ge­rit­ten hat­te und das mit ihm durch­ge­gan­gen war, auf eine eben­so ge­wand­te wie to­des­mu­ti­ge Art und Wei­se zum Ste­hen ge­bracht ha­ben. Von oben habe er sei­nen Hals um­fasst und sich dann her­un­ter­ge­las­sen, bis er vor der Brust des Pfer­des hing, so­dass es beim bes­ten Wil­len nicht wei­ter­konn­te. Carl selbst hat nie von der Sa­che er­zählt, und man denkt nicht ohne un­will­kür­li­che Hei­ter­keit ei­ner Vor­stel­lungs­welt, die der­glei­chen für mög­lich hielt.

Im­mer­hin hat­te Carl eine Lie­be zu Pfer­den, eine ge­wis­se Ge­wandt­heit mit ih­nen um­zu­ge­hen und auch Furcht­lo­sig­keit.

Tau­ben und einen Tau­ben­schlag hat­te mein Bru­der nach sei­ner Wie­der­ge­ne­sung gleich­sam als Schmer­zens­geld von mei­nem Va­ter ge­schenkt er­hal­ten. Das Flug­loch die­ses Schla­ges, der über dem Klei­nen Saal her­ge­rich­tet war, ging auf des­sen grün­be­moos­tes Dach hin­aus, das wir Brü­der auf ei­ner Lei­ter er­stei­gen muss­ten. Der Sinn für Tau­ben und Tau­ben­zucht mag sich durch einen ge­wis­sen Tau­ben­nar­ren, nicht den da­ma­li­gen Bau­ern Ru­dolf in Salz­brunn, son­dern des­sen Va­ter, bei den Mei­nen fest­ge­setzt ha­ben. Man er­zähl­te vie­le Ge­schich­ten von ihm.

Das Gut des Al­ten, da­mals in der Hand des Soh­nes, hieß noch im­mer das Ru­dolf­gut, aber es ruh­te nicht mehr auf dem Grun­de der al­ten Wohl­ha­ben­heit, denn der In­ha­ber war ein Trin­ker.

Ei­nes Ta­ges war der prot­zi­ge Guts­be­sit­zer und Tau­ben­narr in dem na­hen Städt­chen Frei­burg er­schie­nen, wohl­ge­nähr­te Pfer­de vor die reich­ge­pols­ter­te Kut­sche ge­spannt, weil er eine Aus­s­tel­lung von fünf­zig und mehr sel­te­nen Tau­ben­ar­ten be­su­chen woll­te. Zu sei­nem größ­ten Er­stau­nen wuss­te man dort nichts von ei­ner der­glei­chen Ver­an­stal­tung. Da zog er eine ge­druck­te An­zei­ge aus der Ta­sche her­aus, auf der in der Tat eine sol­che Aus­s­tel­lung an­ge­kün­digt und Fan­tas­ti­sches auf dem Ge­bie­te der Tau­ben­zucht ver­spro­chen wur­de. Es soll­ten da alle be­kann­ten und vie­le nie ge­se­he­ne Ras­sen sein: nicht nur Trom­mel-, Schlei­er-, Hau­ben- oder Perück­en­tau­ben, Pfau­en­tau­ben, Tümm­ler, Mö­w­chen und an­de­re, son­dern auch afri­ka­ni­sche und ost­asia­ti­sche Ar­ten, die man bis­her noch nicht in Eu­ro­pa ge­se­hen hat­te.

Der Groß­bau­er war ei­ner My­sti­fi­ka­ti­on1 zum Op­fer ge­fal­len, man hat­te ihn auf­sit­zen las­sen, ihn an­ge­führt. Wo­chen hin­durch war der Spaß von dem ge­sel­li­gen Krei­se, mit dem er im Ho­no­ra­tio­ren­stüb­chen zu­sam­men­kam, vor­be­rei­tet wor­den, und man hat­te den fa­na­ti­schen Tau­ben­freund mit Schil­de­run­gen der zu er­war­ten­den Wun­der in im­mer grö­ße­re Span­nung ver­setzt und auf­ge­regt. Der ge­wag­te, aber ge­lun­ge­ne Scherz, der die Schwä­che ei­ner Tu­gend aus­nütz­te, wur­de von dem Orts­o­ri­gi­nal Dok­tor Rich­ter an­ge­führt. Man hat­te sich da­bei weid­lich auf Kos­ten des ar­men Gef­opp­ten amü­siert.

Auch der Tau­ben­narr ist nicht im­mer nüch­tern ge­we­sen. Als ein Teil sei­ner Guts­ge­bäu­de und auch der mit den Tau­ben­schlä­gen ab­brann­te, hol­te man ihn aus dem Wirts­hau­se. Und als er vor dem bren­nen­den Ge­höft um­her­tau­mel­te und sei­ne Tau­ben teils flie­gend ent­ka­men, teils mit bren­nen­den Fe­dern in die Flam­men zu­rück oder tot auf die Erde schlu­gen, soll er nur im­mer em­pört ge­ru­fen ha­ben: »Nu da saht ersch, nu da saht ersch, wo mei­ne Tau­ba sein.«

Mein Va­ter, der für die Ei­gen­art sei­ner Mit­menschen viel In­ter­es­se be­saß, war Zeu­ge die­ses Vor­gan­ges und er­zähl­te ihn oft so­wie auch die Fop­pe­rei mit der Tau­ben­aus­stel­lung.

Nun über­kam mei­nen Bru­der Carl in ge­mil­der­ter Form eine ähn­li­che Tau­ben­lei­den­schaft. Er wünsch­te sich im­mer neue Sor­ten, die er auch nach und nach er­hielt, schließ­lich be­saß er auch in be­son­de­ren Kä­fi­gen Lach­tau­ben. Er hat­te die Be­sor­gung des großen Tau­ben­schla­ges un­ter sich, und ich habe ihm öf­ters da­bei ge­hol­fen. Er trieb eine re­gel­rech­te Be­wirt­schaf­tung, de­ren ma­te­ri­el­ler Er­trag ihm aus­drück­lich ge­währ­leis­tet wur­de. Eier sel­te­ner Sor­ten wur­den ver­kauft, Jun­ge ein­fa­cher Ras­sen des­glei­chen, wo etwa Kran­ken­sup­pen ver­langt wur­den. Wir stell­ten ver­wil­der­ten Kat­zen nach, die sich mit­un­ter an jun­gen Tie­ren ver­grif­fen. Ein be­son­de­res Ka­pi­tel der Tau­ben­zucht wa­ren die in an­de­re Schlä­ge Ver­irr­ten oder Ver­flo­ge­nen, die mein Bru­der oft nur nach Kämp­fen mit Bau­ern, Bau­ern­knech­ten und Bau­ern­wei­bern zu­rück­erobern konn­te, und Kla­gen über den Flur­scha­den, den Carls Tau­ben un­ter der Win­ter- und Früh­jahrs­saat wie ge­wöhn­lich an­rich­te­ten. Es wur­den so­gar, weil sich die Flü­ge im­mer ver­grö­ßer­ten, Be­schwer­den bei der Orts­be­hör­de ein­ge­reicht.

Viel­fach habe ich mei­nen Bru­der be­glei­tet, wenn es galt, ver­flo­ge­ne Exem­pla­re zu­rück­zu­ho­len, und bei die­ser Ge­le­gen­heit die ent­fern­tes­ten Tei­le des Or­tes ken­nen­ge­lernt, über­haupt mei­nen Vor­stel­lungs­kreis be­deu­tend er­wei­tert. Spä­her und De­nun­zi­an­ten, be­freun­de­te Jun­gens, die sich in Carls Dienst stell­ten, be­rich­te­ten al­ler Au­gen­bli­cke, wie sie beim Bau­ern Tscher­sich in Weiß­stein, beim Mau­rer­meis­ter Schmidt im Flam­men­den Stern, im War­schau­er Hof, beim Guts­be­sit­zer Sound­so im Nie­der­dorf einen Moh­ren­kopf, einen Tümm­ler oder eine sons­ti­ge Sel­ten­heit aus sei­nem Schla­ge un­ter den ge­wöhn­li­chen Tau­ben er­kannt hät­ten. Dann brach Carl al­lein oder in mei­ner Ge­sell­schaft auf, um der Sa­che mit Span­nung nach­zu­spü­ren. Un­ser Be­gin­nen, das wir mit Vor­sicht und Um­sicht, öf­ters mit Schlei­chen, Hor­chen und Auf-der-Lau­er-Lie­gen durch­füh­ren muss­ten, hat­te sei­nen be­son­de­ren Reiz. Na­tur­haf­tes an In­stinkt wur­de auf­ge­ru­fen. Und schließ­lich war der Mut des of­fe­nen Her­vor­tre­tens nö­tig, der Mit­tei­lung un­ter den Au­gen des Bau­ern, dass ein frem­des Ei­gen­tum un­ter sei­ne Tau­ben ge­ra­ten sei. Be­stritt er es, was fast im­mer ge­sch­ah, so muss­te man in der meist im­mer hef­ti­ger wer­den­den Aus­ein­an­der­set­zung von Bit­te zu For­de­rung auf­stei­gen.

Auch klei­ne Leu­te hiel­ten Tau­ben, so­gar die Be­woh­ner vom Deut­schen Haus, wie sich das Ar­men­asyl von Salz­brunn be­zeich­ne­te, und dort konn­ten wir oft nur noch an den blu­ti­gen Fe­dern das Schick­sal ei­ner Ver­flo­ge­nen fest­stel­len.

In der Fa­mi­lie ent­stand eine üp­pi­ge Le­gen­den­bil­dung über die un­er­schro­cke­nen und sieg­haf­ten Rückerobe­rungs­zü­ge mei­nes Bru­ders Carl, die be­son­ders von Jo­han­na ge­pflegt wur­de, aber auch mei­nes Va­ters, ich glau­be be­frie­dig­tes, Ohr ge­wann.

Mei­ne Mut­ter war gar nicht krie­ge­risch, sie sah von dem al­lem nur die Kehr­sei­te. »Wes­halb«, sag­te sie, »bin­den wir mit den En­kes an?« – Es wa­ren un­se­re nächs­ten Nach­barn im Haus Eli­sen­hof auf dem Kro­nen­berg. – »Wir ha­ben sie so schon oft ge­nug auf dem Hal­se. Der Säu­fer Ru­dolf, mit dem sich Carl we­gen ei­ner lum­pi­gen Tau­be ge­zankt hat, ver­gisst eine Krän­kung nicht. Carl soll sich in acht neh­men, dass nicht die Leu­te vom Deut­schen Haus ihm ein­mal im Dun­kel übel mit­spie­len! Der Bau­er De­muth hat ge­sagt: Ihr Jun­ge nimmt den Mund sehr voll« – sein Guts­hof war vom Gast­hof zur Kro­ne nur durch die Stra­ße ge­trennt –, »Ihr Jun­ge nimmt den Mund sehr voll, wir ha­ben nicht nö­tig, Tau­ben zu steh­len!«

Die Tau­ben Carls mach­ten große Aus- und Um­flü­ge, de­nen wir gern mit den Au­gen nach­folg­ten, und nicht nur das, son­dern auch mit den Fü­ßen bei der er­wähn­ten Su­che nach Flücht­lin­gen. Ei­nen wei­te­ren Um­kreis des Dor­fes Salz­brunn ge­nau­er ken­nen­zu­ler­nen, war das die bes­te Ge­le­gen­heit. So ge­rie­ten wir nach Adels­bach, nach dem na­hen Kon­rad­stal, in die­ses und je­nes der Weiß­stei­ner Bau­ern­gü­ter, ge­rie­ten nach dem Aus­flugs­ort Wil­helms­höh, ja ein­mal bis in den so­ge­nann­ten Zips, ein lieb­li­ches Tal, das in den Fürs­ten­stei­ner Grund mün­de­te. In die­sen Grund blick­te von sei­ner fel­sich­ten Höhe das Schloss Fürs­ten­stein, wo zu­wei­len der Fürst re­si­dier­te, dem das Bad Salz­brunn ge­hör­te und von dem so viel als dem Fürs­ten schlecht­hin die Rede war.

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Wenn das Tau­ben­in­ter­es­se mich mit Carl in Berüh­rung brach­te, eine Spiel­ge­mein­schaft hat­ten wir nicht. Er be­saß sei­nen ei­ge­nen Jun­gens­kreis, und ich weiß nicht, was sie ge­mein­sam trie­ben. Dass es Spie­le wa­ren, wie ich sie lieb­te, glau­be ich nicht. Wir ha­ben uns, scheint mir, in­stink­tiv von­ein­an­der fern­ge­hal­ten, wo­bei al­ler­dings der Un­ter­schied im Al­ter, es wa­ren vier Jah­re, was in der Ju­gend viel be­deu­tet, mit­ge­spro­chen hat.

Schen­ken, nicht emp­fan­gen, war Carls höchs­ter Ge­nuss. Es moch­te da­bei schon da­mals ein Wer­ben um Men­schen­see­len mit­spie­len. Mut­ter be­kämpf­te ge­le­gent­lich sei­ne Frei­ge­big­keit, aber er hat­te eine schö­ne, ei­gen­wil­lig mo­ra­li­sche Art, ab­zu­weh­ren. Er mach­te auf alle, die ihn hör­ten, auch Va­ter und Mut­ter, Ein­druck da­mit.

 

Sehr weit in mei­ne Ju­gend zu­rück­ge­hen müs­sen sei­ne Ti­ra­den ge­gen den Ei­gen­nutz, die er nach kaum vollen­de­tem zehn­ten Jahr im Ge­spräch mit den from­men Tan­ten im Dachrö­dens­hof, so­gar ge­gen die kirch­li­che Leh­re von der Be­loh­nung des gläu­bi­gen Chris­ten durch die ewi­ge Se­lig­keit, mu­tig ins Feld führ­te. Er sag­te, wer Gott nur we­gen ei­ner zu er­war­ten­den Be­loh­nung lie­be, der sei noch nicht an­ders als ein Hund, der die Zucker­do­se an­be­te. So jung ich war, stand ich bei sol­chen Be­haup­tun­gen hin­ter ihm.

Er war im All­ge­mei­nen leicht auf­ge­regt, meist aber, ähn­lich ei­nem ge­wis­sen spa­ni­schen Rit­ter, aus Rechts­ge­fühl und aus Mit­ge­fühl.

Tier­quä­le­rei riss ihn zu rück­sichts­lo­sen Pro­tes­ten hin, bei de­nen er vor den rü­des­ten Bau­ern­knech­ten nicht zu­rück­schreck­te.

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Es moch­te im Jah­re 68 sein, als auf ein­mal Ge­org Schu­bert, der Sohn mei­ner Tan­te Ju­lie und des Obe­r­amt­manns Schu­bert, in mei­nem Be­wusst­sein vor­han­den war. Man er­fuhr und be­sprach jede Klei­nig­keit aus dem Ent­wick­lungs­gan­ge des da­mals Drei­jäh­ri­gen. Die Ge­sprä­che der ge­sam­ten Ver­wandt­schaft kreis­ten um ihn, der, in ei­ner kin­der­lo­sen Ehe sehn­lichst er­war­tet, end­lich er­schie­nen war.

Aus der Ehe des Brun­nen­in­spek­tors Straeh­ler wa­ren sie­ben Kin­der, vier Töch­ter und drei Söh­ne, her­vor­ge­gan­gen. Un­ter den Töch­tern war mei­ne Mut­ter die Zwei­t­äl­tes­te, Tan­te Ju­lie das zweit­jüngs­te Kind. Ich muss heu­te sa­gen, sie hat­te mit ih­ren Ge­schwis­tern we­nig Ähn­lich­keit.

Sie war au­ßer­ge­wöhn­lich be­gabt als Schau­spie­le­rin, Pia­nis­tin und Sän­ge­rin, Fä­hig­kei­ten, die sie be­ruf­lich nie aus­üb­te. Nach­dem sich eine Ver­bin­dung mit ei­nem jun­gen Ka­va­lier an­ge­bahnt und zer­schla­gen hat­te, gab sie auch auf Drän­gen der El­tern der Wer­bung des Obe­r­amt­manns Ge­hör, ei­nes äu­ßerst ge­die­ge­nen Man­nes, der aber sonst, Sohn ei­nes Schul­leh­rers, nicht grad ein glanz­vol­les Äu­ße­res auf­wei­sen konn­te.

Tan­te Ju­lie mach­te bald auf dem Rit­ter­gut Lohnig, das Schu­bert ge­pach­tet hat­te, ein großes Haus. Sie um­gab sich mit den bes­ten Ele­men­ten des schle­si­schen Lan­dadels und der Geist­lich­keit. Die von ihr auf dem Grun­de ei­ner Re­si­gna­ti­on auf­ge­bau­te Ehe konn­te kaum glück­lich ge­nannt wer­den, be­vor der Sohn ge­bo­ren war, und die jun­ge, mit ge­sell­schaft­li­chen Ta­len­ten, durch Kunst und Geist aus­ge­stat­te­te Frau hat wohl in der Pfle­ge ih­rer Ga­ben Er­satz ge­sucht.

Nun aber hat­te sich in Ge­stalt des klei­nen Ge­org der Se­gen Got­tes, das Glück in sei­ner höchs­ten Fül­le auf die Schu­berts, zur un­end­li­chen Freu­de des Groß­va­ters Straeh­ler und sei­ner Kin­der, her­nie­der­ge­senkt.

Die glück­li­che Mut­ter, Tan­te Jul­chen, kam ge­le­gent­lich mit Ge­org zu Be­such in den Dachrö­dens­hof und tat dann auch mit ihm die zwei Schrit­te bis zum Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne. Der Klei­ne war wirk­lich ein Wun­der­kind. Vier­jäh­rig lös­te er ma­the­ma­ti­sche Auf­ga­ben. Bru­der Carl, der, zehn- oder elf­jäh­rig, schon eine ge­wis­se Früh­rei­fe zeig­te, prüf­te ihn und lob­te ihn so, dass ich im Stil­len an mir selbst und mei­nen An­la­gen ver­zwei­fel­te.

Der Lieb­ling al­ler war aber in der Tat ein lie­bens­wer­tes und her­zens­gu­tes Kind. Alle Welt be­ei­fer­te sich, an Wün­schen zu er­fül­len, was man ihm nur an den Au­gen ab­se­hen konn­te. Um auf das Dach zu den Tau­ben zu stei­gen, war er noch zu klein, und man hät­te ihn auch im spä­te­ren Al­ter ei­ner sol­chen Ge­fahr un­ter kei­nen Um­stän­den aus­ge­setzt. Von den Fens­tern ge­wis­ser Zim­mer der Kro­ne, ja schon von den Fens­ter­bret­tern wur­de er aus Furcht, er kön­ne ab­stür­zen, fern­ge­hal­ten. Carl zeig­te dem Klei­nen sei­ne Lach­tau­ben, sei­ne milch­wei­ßen Pfau­en­tau­ben, die äu­ßerst zahm wa­ren, zeig­te ihm Stahl­sti­che aus des Va­ters Bü­cher­schrank, al­les, um sich an der Art sei­nes Ein­ge­hens zu ent­zücken. Im Al­ter stand er Carl fer­ner als ich, wes­halb er sich auf eine un­ge­zwun­ge­ne­re Art und Wei­se mir an­schlie­ßen konn­te.

Mein Groß­va­ter hat­te auch den War­schau­er Hof, einen zum Bade ge­hö­ri­gen Guts­be­trieb, un­ter sich. In wei­ten Stal­lun­gen wur­den hier, we­gen der Ese­lin­nen­milch zu Kur­zwe­cken, Esel ge­hal­ten. Man hat­te all­mor­gend­lich Ge­le­gen­heit, sich an der Her­de schö­ner Tie­re zu er­freu­en, wenn man sie auf die Wei­de trieb. Sie wur­den auch zum Rei­ten be­nutzt. Alte, schwe­re Da­men, Kran­ke, die nicht gut zu Fuß wa­ren, aber auch über­mü­ti­ge Ge­sell­schaf­ten le­bens­lus­ti­ger jun­ger Her­ren und Da­men lie­ßen sich nach der Schwei­ze­rei oder nach Wil­helms­höh hin­auf­tra­gen. Es war kei­ne klei­ne An­ge­le­gen­heit, als der hoch­mö­gen­de fürst­li­che Brun­nen­in­spek­tor einen sol­chen Esel als Ge­burts­tags­ge­schenk für sei­nen ge­lieb­ten En­kel Ge­org nach Rit­ter­gut Lohnig schick­te.

Auf den Ge­dan­ken, dass auch ich mich über einen klei­nen Esel un­bän­dig ge­freut hät­te, kam er nicht.

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»Ger­se« nann­te mich Tan­te Ju­lie da­mals, wenn sie nach Salz­brunn kam. Es ent­sprach ih­rer männ­li­chen Art, wenn sie kein Di­mi­nu­ti­vum an­wand­te. Ihr »Ger­se« klang gut und hat­te durch­aus mei­ne Bil­li­gung. Ich fühl­te, dass die­se Frau, trotz ei­ner gren­zen­lo­sen Mut­ter­lie­be, mich nie mit schee­len Au­gen sah und mich über­all eben­so kräf­tig wie wohl­wol­lend an­fass­te.

Mit Tan­te Au­gus­te und Tan­te Eli­sa­beth vom Dachrö­dens­hof stand es, wie an­ge­deu­tet, nicht so. Ob­gleich der klei­ne Ge­org Schu­bert auch nur ihr Nef­fe war, be­ton­ten sie doch ihre über­wie­gen­de Lie­be zu ihm un­ver­kenn­bar auf jede Wei­se. Mei­ne Min­der­wer­tig­keit ihm ge­gen­über wur­de mir ei­nes Ta­ges oder Abends recht deut­lich zu Ge­mü­te ge­führt.

Adolf, ein Sohn des Brun­nen­in­spek­tors, war fürst­lich-ples­si­scher Förs­ter in Gör­bers­dorf, und es wur­de im Herbst eine Wa­gen­fahrt dort­hin un­ter­nom­men, die meh­re­re Stun­den dau­er­te. Nur Au­gus­te und Eli­sa­beth, der klei­ne Ge­org und ich wa­ren von der Par­tie, ich höchst­wahr­schein­lich nur, weil der klei­ne Vet­ter und lie­be Spiel­ka­me­rad es ge­wünscht hat­te. Beim Schla­fen­ge­hen in den zu­gi­gen Dach­kam­mern des Förs­ter­hau­ses wa­ren nicht ge­nug De­cken da, so­dass man Er­käl­tun­gen be­fürch­ten konn­te. Als ich aber ein­ni­cken woll­te, sah ich plötz­lich das me­phi­sto­phe­li­sche Ge­sicht­chen des buck­li­gen Tänt­chens Au­gus­te über mir, die mir, mit ei­ni­gen zwar lie­bens­wür­di­gen, aber hä­misch klin­gen­den ent­schul­di­gen­den Wor­ten, eine De­cke, die mich wärm­te, ent­zog und sie über das Klein­od, den Vet­ter Ge­org, sorg­sam brei­te­te.

1 Ver­schleie­rung, Ver­dun­ke­lung <<<