Das Abenteuer meiner Jugend

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Siebentes Kapitel

Mein Groß­va­ter, wur­de ge­sagt, war Bade- oder Brun­nen­in­spek­tor. Er war also gleich­sam ein sou­ve­rä­ner Herr des Kur­be­trie­bes mit al­len sei­nen vor­han­de­nen An­stal­ten: vor­an dem Brun­nen, sei­ner Be­die­nung, sei­nem Aus­schank und sei­nem Ver­sand, der Pfle­ge der Eli­sen­hal­le und der Ver­mie­tung ih­rer Ver­kaufs­lä­den, dem Kur­saal, sei­ner Ver­pach­tung und sei­nem Be­trieb, den gärt­ne­ri­schen An­la­gen der Pro­me­na­den und der Pfle­ge des Parks, der Kur­ka­pel­le und dem Thea­ter. Wo er nicht ganz be­fahl, war den­noch sein Ein­fluss maß­ge­bend. Ich glau­be, er be­saß auf dem fürst­lich-ples­si­schen Kur­ge­biet so­gar Po­li­zei­ge­walt.

Alle die­se eben ge­nann­ten Be­triebs­zwei­ge cha­rak­te­ri­sie­ren den Ba­de­ort, und ich bin dank­bar, in sei­ner reiz­vol­len Ver­bin­dung von Kul­tur und Na­tur auf­ge­wach­sen zu sein.

Ich glau­be nicht, dass ich im­mer ein lie­bens­wür­di­ges Kind ge­we­sen bin. Aber in­wie­fern ich mir die völ­li­ge Nicht­be­ach­tung mei­nes Groß­va­ters zu­ge­zo­gen habe, weiß ich nicht. Wenn ich ihm, wie es wohl ge­sch­ah, auf dem Wege vom Dachrö­dens­hof zur Ku­rin­spek­ti­on be­geg­ne­te, war er ent­we­der so stolz, gleich­gül­tig oder in sich ge­kehrt, dass er mei­nen Gruß nicht er­wi­dern konn­te und nur kalt über mich hin­weg­blick­te. Das glei­che ge­sch­ah, wenn ich etwa auf der Pro­me­na­de im Gra­se lag.

Hat­te ich also für ihn nichts An­zie­hen­des, so eben­so­we­nig für sei­ne äl­teln­den Töch­ter, Tan­te Au­gus­te und Tan­te Eli­sa­beth, die al­ler­dings auch für mich nicht die ge­rings­te An­zie­hungs­kraft be­sa­ßen.

Ein Raum im Kü­chen­bau war die Bü­fett­stu­be. Sie hat­te ein brei­tes Fens­ter nach dem Hin­ter­gar­ten hin­aus, wo im­mer Völ­ker von Hüh­nern, En­ten, Gän­sen, ja Trut­häh­nen – Schlacht­vieh für die Ta­fel – her­um­lie­fen. Eine Ei­sen­stan­ge in Hand­hö­he, wor­an nachts die Lä­den ver­fes­tigt wur­den, diente uns Kin­dern als Reck, an dem wir uns leicht über die Fens­ter­brüs­tung hin­aus und von au­ßen ins Zim­mer zu­rück­schwan­gen. Häss­li­che graue Ta­pe­ten, wel­che Stein­qua­dern dar­stel­len soll­ten, ver­un­stal­te­ten den mod­rig feuch­ten, dump­fen Raum, zu­mal sie da und dort ihre ver­gilb­te und zer­fres­se­ne Kehr­sei­te zeig­ten und als Pa­pier­fet­zen her­ab­hin­gen.

Die­ses ver­steck­te Ge­mach ist aus mei­ner frü­hen Ju­gend nicht fort­zu­den­ken. Wä­sche- und Wein­schrän­ke stan­den dar­in. Der Lärm der Kas­se­rol­len, Pfan­nen und Stim­men der Kü­che ver­band sich mit dem Ge­kräh und Ge­kol­ler der Häh­ne und Trut­häh­ne, En­ten­ge­schnat­ter und Gän­se­ge­gack. Hier fand ich des Som­mers mein biss­chen Es­sen, wenn ich es mir, meist un­be­ach­tet im Lärm des Be­triebs, an den Kü­chen­tü­ren er­schli­chen hat­te.

Hier habe ich mei­nen wür­di­gen Groß­va­ter in halb­lau­tem Ge­spräch mit mei­ner Mut­ter zu­erst ge­nau­er ins Auge ge­fasst. Der hoch­ge­wach­se­ne alte Mann in ei­nem lan­gen, schwar­zen Schoß­rock hat­te Zy­lin­der und spa­ni­sches Rohr ab­ge­legt und saß mei­ner Mut­ter am Tisch ge­gen­über. Sie re­de­te flüs­ternd auf ihn ein, wäh­rend er sei­nen Kaf­fee schlürf­te.

Mei­ne Mut­ter ge­fiel mir nicht, wenn sie so, was sich wie­der­hol­te, mit dem Al­ten im ver­bor­ge­nen ver­han­del­te, zu­mal sie mich, selt­sam ent­frem­det, als ge­hö­re ich gar nicht zu ihr, fort­schick­te, wenn ich nur auf­tauch­te.

Mein Va­ter – es war nach der Ta­ble d’hôte – hielt um die­se Zeit sei­nen Mit­tags­schlaf, und ich hat­te es im Ge­fühl, dass er von den hier ge­führ­ten Ge­sprä­chen nichts wis­sen soll­te.

Be­klag­te sich Mut­ter über ihn? Ähn­li­ches muss ich ver­mu­tet ha­ben, denn der Vor­gang nahm mich ge­gen sie und mehr noch ge­gen den Al­ten ein. Nun erst be­griff ich, dass er nicht nur mein Groß­va­ter, son­dern auch zu­gleich der Va­ter mei­ner Mut­ter war. Ich er­kann­te, wie mei­ne Mut­ter vor ihm sich de­mü­tig­te und die­se für mich au­to­ri­ta­tivs­te un­ter den Frau­en vor ihm zum ge­hor­sa­men Kin­de wur­de. Ge­gen die­se Er­nied­ri­gung mei­ner großen All­mut­ter em­pör­te ich mich, zu­gleich be­weg­te mich Ei­fer­sucht, und end­lich sah ich die Ein­heit von Va­ter und Mut­ter ge­fähr­det: Ge­füh­le, die sich, ge­lin­de ge­sagt, in Ab­nei­gung ge­gen den Al­ten ver­wan­del­ten. Wo­her hat­te ich die­ses in­stinkt­haf­te Miss­trau­en?

Ein im­mer wie­der­keh­ren­des Wort bei ihm war: »Der Fürst, der Fürst.« Er mein­te den, dem das Bad ge­hör­te, des­sen Be­am­ter und des­sen Ver­tre­ter er war. Das Sub­stan­ti­vum »der Fürst, der Fürst« war über­haupt im gan­zen Ober-Salz­brunn das meist ge­brauch­te, und auch bei uns ver­ging kein Tag, wo es nicht am Fa­mi­li­en­ti­sche ge­fal­len wäre.

Eine Za­rin von Russ­land hat­te die Heil­quel­le ge­braucht, und mein Groß­va­ter muss­te der ho­hen Dame all­täg­lich mor­gens und abends den Brun­nen kre­den­zen. Bei fest­li­chen An­läs­sen trug er die schö­ne Bril­lant­na­del, die er zum Dank da­für er­hal­ten hat­te. Ich war wohl im­mer­hin auf ihn stolz.

So be­kam zwar nicht die­ser Stolz, aber mein Be­griff von dem eher­nen Bau der Ge­sell­schaft einen er­schüt­tern­dern Stoß, als mich der Zu­fall zum Zeu­gen ei­nes ge­wis­sen Vor­gangs mach­te.

Wie täg­lich strich ich ein­mal wie­der in den An­la­gen um das Ge­bäu­de der Kur­ver­wal­tung her­um und sah mei­nes Groß­va­ters statt­lich hohe Ge­stalt hin­ter der Bü­ro­tür ver­schwin­den. Er war ver­son­nen an mir vor­über­ge­schrit­ten, auch dies­mal, ohne mich zu be­ach­ten. Der ehr­furcht­ge­bie­ten­de Greis wur­de all­sei­tig ge­grüßt, auch von den Roll­knech­ten, die eben da­bei wa­ren, schön ge­ho­bel­te Brun­nen­kis­ten ver­sand­fer­tig auf Fracht­wa­gen zu ver­stau­en. Als der Orts­ge­wal­ti­ge aber ih­ren Bli­cken ent­schwun­den war, er­gin­gen sie sich in ro­hen Be­schimp­fun­gen, die ich auf ihn deu­ten muss­te. Ich war noch zu klein, um mich ein­zu­mi­schen. Bei dem Ge­dan­ken der blo­ßen Mög­lich­keit ei­ner sol­chen Got­tes­läs­te­rung wäre mir das Herz still­ge­stan­den, hier aber wur­de sie auf eine rück­sichts­los ent­eh­ren­de Art und Wei­se Wirk­lich­keit. Das Er­leb­te be­grub ich in mir, weil mir war, die blo­ße Er­wäh­nung ma­che mich mit­schul­dig.

Achtes Kapitel

Die Jah­re bis zur Vollen­dung des zehn­ten sind Schöp­fungs­jah­re in je­dem Sinn, und sie ent­hal­ten Schöp­fungs­ta­ge. Das Kind ist in die­ser Span­ne Zeit sein ei­ge­ner geis­ti­ger Schöp­fer und Welt­schöp­fer. So war denn auch ich der De­mi­urg mei­ner selbst und der Welt.

Aber wie ge­sagt, sie­ben Tage ge­nüg­ten mir nicht, denn ich hat­te de­ren bis zum Be­ginn des sie­ben­ten Jah­res be­reits zwei­tau­send­ein­hun­dert­neun­zig nö­tig ge­habt.

Die Son­ne ging auf, und ein neu­er Schöp­fungs­tag mei­ner selbst und der Welt be­gann. Viel­fach ging ich dar­in wie ein Künst­ler vor, der sich durch pro­vi­so­ri­sche Form­ge­bung dem vollen­de­ten Gan­zen an­nä­hert.

*

Die im­mer wie­der­keh­ren­de Mah­nung mei­nes Va­ters so­wie mei­ner Mut­ter lau­te­te: »Ger­hart, träu­me­re nicht!« oder: »Träu­me nicht!« Es be­traf dies na­tür­lich die Zei­ten des Aus­ru­hens, wenn mein Be­we­gungs­drang in der frei­en Luft nicht mehr wei­ter­zu­trei­ben war. In der Tat, ich ver­sann mich bei je­der Ge­le­gen­heit, so­dass man die Fra­ge im­mer wie­der mit Recht an mich rich­ten konn­te: »Komm zu dir! Wo bist du denn?!« Ich ver­sann mich etwa, wenn ich vor der Zeit mei­nes ers­ten Schul­gangs, das Kinn in die Hän­de ge­stützt, am Fens­ter lag und auf den fer­nen Hoch­wald starr­te, den hei­li­gen Berg, hin­ter dem die Welt zu Ende war und von des­sen Spit­ze aus man in den Him­mel stieg. Die­ser Berg und sei­ne Be­stim­mung wa­ren mir im­mer wie­der an­zie­hend. Wenn nicht ich selbst, so ist mein Geist von dort aus un­zäh­li­ge­mal in den selbst­ge­schaf­fe­nen Him­mel ge­stie­gen und hat sich mit der Rät­sel­fra­ge der Welt­be­gren­zung ab­ge­müht.

Da­bei er­wog ich die mensch­li­che und mei­ne ei­ge­ne Ein­sam­keit, die ich schon sehr früh er­kannt habe. Die un­be­greif­li­che Grö­ße des Schick­sals er­füll­te mich, so­lan­ge ich ihr nach­hing, mit ei­ner schau­er­vol­len Be­klom­men­heit.

Ich frag­te mich: Wie ret­tet man sich aus der ei­ge­nen Ver­las­sen­heit? Hal­te dich an Va­ter und Mut­ter! – Va­ter und Mut­ter tei­len die­sel­be Ver­las­sen­heit und Ver­lo­ren­heit! – Wen­de dich an Bru­der und Schwes­ter, die Tau­sen­de und Tau­sen­de dei­ner Mit­menschen! Und nun gab ich die Ant­wort mir sel­ber mit ei­nem Bil­de aus mei­ner bild­ge­nähr­ten Trau­mes- und Vor­stel­lungs­welt: die Ge­samt­heit der Men­schen sah ich als Schiff­brü­chi­ge auf ei­ner Eis­schol­le aus­ge­setzt, die von ei­ner Sint­flut um­ge­ben war. Kin­der in den frü­he­s­ten Be­wusst­seins­jah­ren nach der Ge­burt füh­len viel­leicht stär­ker als Er­wach­se­ne das Rät­sel, in das sie ver­setzt wor­den sind, und brin­gen viel­leicht von dort, wo sie kur­ze Zeit vor­her noch ge­we­sen sind, Ah­nun­gen mit.

*

Ich hat­te die Ma­sern. Ich war glück­lich dar­über, denn ich brauch­te ja nicht zur Schu­le zu ge­hen. Es war win­ters, etwa vier Wo­chen vor Weih­nach­ten. Mein Kran­ken­bett über­strahl­te be­reits der kom­men­de Glanz. Aber es gab recht trost­lo­se schlaflo­se Näch­te. In ei­ner habe ich am Zif­fer­blatt der Uhr, die von Va­ters Nacht­licht be­leuch­tet wur­de, eine gan­ze Stun­de lang die Se­kun­den aus ver­zwei­fel­ter Lan­ger­wei­le ab­ge­zählt.

Ein­mal dann ge­gen Mor­gen hat­te ich einen kos­mi­schen Traum. Es wa­ren Grö­ßen­ver­hält­nis­se der al­le­run­ge­heu­ers­ten Art, die mir da­bei an­schau­lich wur­den. Nicht we­ni­ger sah ich als die im Rau­me rol­len­de Welt­ku­gel. Ich sel­ber aber war hoff­nungs­los wie ein schwin­deln­des, tod­ge­weih­tes, mi­ni­ma­les Le­ben dar­an­ge­klebt, je­den Au­gen­blick in Ge­fahr, in un­end­li­che Räu­me ab­zu­stür­zen.

 

Ich war er­wacht, das Dienst­mäd­chen kam, das Feu­er im Ofen an­zu­ma­chen. Ich glaub­te, es müss­te eben­falls se­hen und ge­se­hen ha­ben, was mir im Wa­chen fast noch wirk­lich vor­schweb­te, und frag­te sie mehr­mals in die­sem Sin­ne. Ich glaub­te, es wer­de mit mir in das glei­che, nicht en­den­wol­len­de Stau­nen aus­bre­chen. Aber die Schleu­ße­rin hat­te nur einen leich­ten Schreck da­von.

Die Son­ne ging auf, sie ging täg­lich auf. Sie brach­te Far­be und Form und er­weck­te das Auge, bei­des zu se­hen. Sie bil­de­te bei­des in mich ein. Im­mer rei­cher und von im­mer grö­ße­rer Viel­falt wur­de auch mei­ne nacht­ge­bo­re­ne Trau­mes­welt. Auch der Wachtraum in sei­ner be­wuss­ten Form malt sich, ent­steht auch wohl auf dem Ur­grund der Nacht. Ma­te­rie und Lee­re of­fen­bar­ten sich mir zu­gleich in ei­ner nie wie­der ge­se­he­nen Furcht­bar­keit.

Es wur­de be­reits ge­sagt, dass ich so­wohl in der bür­ger­li­chen Welt wie in der des da­mals so ge­nann­ten nie­de­ren Vol­kes zu Hau­se war. In die­ser Be­zie­hung glich ich ent­fernt dem Eu­pho­ri­on, da ich mich im­mer wie­der von der einen zur an­de­ren hin­ab- und von je­ner zu die­ser em­por­be­weg­te. In ge­wis­sem Sin­ne ging dies Auf und Ab im­mer hö­her hin­auf, im­mer tiefer hin­un­ter: etwa von der Réu­ni­on im klei­nen Blau­en Saal, wo sich die Eli­te der Ba­de­ge­sell­schaft, Adel, Schön­heit, Reich­tum, Ju­gend, zu­sam­men­fand, ir­gend­ein nam­haf­ter Pia­nist sich hö­ren ließ, von Beetho­ven, Liszt, Cho­pin und an­de­ren großen Künst­lern ge­spro­chen und da­bei Cham­pa­gner, Man­del­milch, Sor­bet und an­de­res ge­trun­ken wur­de, bis zu ei­ner ge­wis­sen Trep­pe Un­term Saal, wo arme Frau­en, Töp­fe im Arm, stun­den­lang an­stan­den bis zur Kü­chen­tür und auf Ab­fäl­le war­te­ten. Und was die Brei­te mei­ner Eu­pho­ri­on­be­we­gung be­trifft und die An­täus­punk­te ih­rer Ab­sprün­ge, so la­gen die­se bald in der vor­de­ren, bald in der hin­te­ren Welt, die durch den Haupt­bau des Gast­hofs ge­trennt wur­den und von de­nen die eine die der glück­lich Ge­nie­ßen­den, die an­de­re die der Ar­beit, der Sor­ge, des Ver­zich­tes, der Verzweif­lung war.

Ohne die Son­nen­sei­te des Da­seins vor der Fassa­de des Hau­ses scheel an­zu­se­hen, rech­ne­te ich mich doch durch­aus zur an­de­ren Par­tei, die ge­wis­ser­ma­ßen im Schat­ten leb­te. Wie­der und wie­der stürz­te ich mich ins Licht, doch nie, ohne bald in den Schat­ten zu­rück­zu­keh­ren.

*

Mei­ne Träu­me­rei­en, wa­chend wie schla­fend, tags wie nachts, moch­ten vom Nie­der­schlag mei­ner Er­fah­run­gen ge­speist wer­den, aber sie gin­gen weit dar­über hin­aus. Jä­gers­ze­nen, Kämp­fe mit Bä­ren, Ge­gen­wär­tig­s­ein bei ster­ben­den und ge­stor­be­nen Men­schen, mei­ne El­tern als Geis­ter wie­der­keh­rend, Flie­gen ohne Flü­gel, wie ich oft im Trau­me tat, das konn­te mit kei­ner mei­ner Er­fah­run­gen ir­gen­det­was zu tun ha­ben.

Wer mir die ers­ten Mär­chen er­zählt hat, weiß ich nicht, ich neh­me an, mei­ne Mut­ter. Ich selbst aber habe sehr früh den Kin­dern des Fuhr­manns Krau­se, Gu­stav und Ida, Mär­chen er­zählt, und zwar in der Stu­be der Krau­se­leu­te, win­ters, zur­zeit der Däm­me­rung. Wir hock­ten auf Fuß­bänk­chen in der »Hel­le«. Das war ein ge­müt­lich be­schie­ne­ner war­mer Win­kel zwi­schen Ofen und Wand.

Ida und Gu­stav wur­den nicht müde, mir zu­zu­hö­ren, selbst wenn ich Er­fin­dun­gen auf Er­fin­dun­gen stun­den­lang ge­häuft hat­te. Ich wur­de von ih­rem Hun­ger nach dem Wun­der­ba­ren ohne Gna­de wei­ter­ge­peitscht, bis mei­ne Geis­tes­kräf­te den Dienst ver­sag­ten, über­mü­det und miss­braucht.

Neuntes Kapitel

Vom Hof aus ei­ni­ge Sprün­ge schräg über die Stra­ße wohn­te in ei­nem hüb­schen, vil­len­ar­ti­gen Hau­se der ält­li­che Apo­the­ker Lin­ke mit sei­ner jun­gen, schö­nen Frau. Al­fred, ihr Sohn, war jün­ger als ich, und ich bin wohl noch nicht zur Schu­le ge­gan­gen, als er zum ers­ten Mal in mei­nen Ge­sichts­kreis trat. Sein Ge­ha­be er­schreck­te mich. Din­ge, die schlech­ter­dings nur ima­gi­niert sein konn­ten, be­han­del­te er als Wirk­lich­keit. Er habe, sag­te er, eine Apo­the­ke in Weiß­stein und eine Apo­the­ke im Nie­der­dorf. Sein Pro­vi­sor in Weiß­stein ma­che ihm Sor­ge, sein Pro­vi­sor im Nie­der­dorf sei ein tüch­ti­ger Mensch und ar­bei­te zu sei­ner Zufrie­den­heit.

Die­se krank­haf­te Art zu ima­gi­nie­ren hat­te mit der mei­nen, wenn ich Mär­chen er­zähl­te, durch­aus nichts zu tun. Sie war mir eben­so neu wie un­heim­lich. Wirk­lich­keit blieb in mei­nem geis­ti­gen Haus­halt Wirk­lich­keit, und Vor­stel­lun­gen der Ein­bil­dungs­kraft wur­den von mir nur als sol­che ge­wer­tet.

Al­fred Lin­ke war ein Kna­be, den man mit je­der er­denk­li­chen Sorg­falt be­treu­te. Aus­ge­such­te Lehr­kräf­te lei­te­ten sei­nen häus­li­chen Un­ter­richt, der sich auch auf Mu­sik er­streck­te. Er er­wies sich be­son­ders kla­vie­ris­tisch als ein hoch­be­gab­tes Kind. Aber die Be­haup­tung der Dorf­ju­gend in sol­chen Fäl­len »Der ist ja aus Glas!« hat­te auf ihn be­zo­gen sei­ne Rich­tig­keit. Ein na­tür­li­ches Wort, ein Stoß vor die Brust, eine Prü­ge­lei hät­te ihn, wie mir vor­kam, in Scher­ben zer­fal­len zu­rück­ge­las­sen.

Al­fred war ge­gen mich nicht ab­wei­send. Sei­ne El­tern er­zeig­ten mir al­lent­hal­ben viel Freund­lich­keit, und doch hat­te ich ihm ge­gen­über die Emp­fin­dung, wie man heu­te sa­gen wür­de, half-cas­te zu sein.

Da­bei lag es durch­aus nicht an mei­ner Mut­ter, wenn ich mit grau­en, schlech­ten, fle­cki­gen Kleider­fet­zen und durch­weich­ten Stie­feln va­ga­bun­dier­te. Sie sann sich die hüb­sche­s­ten Kit­tel aus, die ich je­doch, au­ßer am Sonn­tag, mit Ent­rüs­tung ab­lehn­te. Aber selbst sonn­tags, weil ich sie scho­nen muss­te und weil sie mich von mei­nen Ka­me­ra­den, den Gas­sen­jun­gen, un­ter­schie­den und von ih­nen glos­siert wur­den, litt ich sie nur mit ge­misch­ten Ge­füh­len kur­ze Zeit.

*

Es wird ge­sagt, dass die meis­ten Ju­gend­spie­le den Kampf nach­ah­men. Von ei­nem ge­wis­sen Al­ter an viel­leicht. Das Ka­pi­tel Kin­der­spie­le ver­langt ein Buch, das trotz ein­zel­ner An­läu­fe noch nicht ge­schrie­ben ist. In ge­wis­sen Jah­ren strebt das Kind, et­was an­de­res als es selbst zu sein. Es ist Hund, Pferd oder Dampf­ma­schi­ne. Es kommt das ein­fa­che Fan­ge­spiel, worin sich Jä­ger und Wild nach­ah­men. Mit dem Ver­steck­spiel mag es das glei­che sein. Wo­chen­lang, be­son­ders im Herbst, spiel­te die pro­le­ta­ri­sche Un­ter­welt »Räu­ber und Gen­darm«. Und nicht nur hier­bei, son­dern im gan­zen hat­te ich mich un­ter den Ban­di­ten der Stra­ße, so zart ich war, zu ei­nem Räu­ber­haupt­mann auf­ge­schwun­gen. Sie folg­ten mir, ich führ­te sie an. Das war bei­na­he mehr als ein Spiel, weil man ei­gent­lich war, was man vor­stel­len woll­te. Mit wie man­cher Schwie­le, Beu­le und Kratz­wun­de bin ich in mein Bür­ger­be­reich zu­rück­ge­kehrt. Von mei­nem sie­ben­ten Jah­re auf­wärts ge­wan­nen die­se Spie­le an Ernst­haf­tig­keit, und sie lehr­ten mich Men­schen ken­nen.

Eine Ge­folg­schaft von zwan­zig bis drei­ßig Jun­gens brach­te ich wohl mit­un­ter zu­sam­men. Im All­ge­mei­nen stan­den sie bei grö­ße­ren Un­ter­neh­mun­gen hin­ter mir. Hie und da aber wur­den sie auf­säs­sig, kon­spi­rier­ten zum Teil oder in ih­rer Ge­samt­heit ge­gen mich. Ge­le­gent­lich ging das so weit, dass man die Acht über mich ver­häng­te. Wenn ich dann eine Zeit lang ge­mie­den wor­den war und kei­ner der An­füh­rer mit mir ge­spro­chen hat­te, bahn­ten sich meist Ver­hand­lun­gen an. Dann wur­den von mir Of­fi­zie­re er­nannt, ich ge­brauch­te mei­ne Über­re­dungs­kunst und brach­te, wo das nichts half, Wi­der­spens­ti­ge durch Ge­schen­ke auf mei­ne Sei­te.

In Fäl­len von dau­ern­der Wi­der­setz­lich­keit griff ich zur Exe­ku­ti­on. Ich ging zum per­sön­li­chen An­griff über; dann kam es dar­auf an, dass ich ob­sieg­te. War das der Fall, so ent­fern­te sich meist der Un­ter­le­ge­ne schimp­fend, heu­lend, un­ter Dro­hun­gen. Trotz­dem ich mein Bür­ger­tum nie her­vor­kehr­te, spür­te ich doch bei die­sem und je­nem den Klas­sen­hass. Ich wur­de mit Schimpf­na­men trak­tiert. Ich er­in­ne­re mich, wie bei ei­ner sol­chen Ge­le­gen­heit sich ein Kampf zwi­schen mir und mei­nem Ver­läs­te­rer ent­spann, der wohl eine Vier­tel­stun­de dau­er­te. Er ging bei­nah auf Le­ben und Tod. Er­wach­se­ne ris­sen uns aus­ein­an­der.

Die Jun­gen von Hin­ter­har­tau bei Salz­brunn wa­ren da­mals be­rüch­tigt. Sie be­läs­tig­ten Kin­der und Er­wach­se­ne. Da or­ga­ni­sier­te ich ei­nes Ta­ges eine Straf­ex­pe­di­ti­on. Es ent­stand eine Stein­schlacht, die lan­ge hin und her tob­te. Die Hin­ter­har­tau­er wa­ren im Vor­teil, denn wir muss­ten zu ih­nen den Berg hin­an­stür­men. Aber wir ta­ten es, ich vor­an, ums­aust von ei­nem ge­fähr­li­chen Stein­ha­gel. Die Har­tau­er räum­ten das Feld und ver­flüch­tig­ten sich.

Ich selbst trug eine schwarz­blaue, blut­un­ter­lau­fe­ne Zehe da­von, und zwar trotz des Schuh­le­ders, das die Wucht des Stein­wur­fes nicht we­sent­lich ab­schwäch­te. Wenn dies an der großen Zehe ge­sch­ah, dach­te ich mir, so kannst du von Glück sa­gen, dass dei­ne Nase, dein Auge, dei­ne Stirn heil ge­blie­ben sind.

*

Im­mer nach sol­chen Aus­brü­chen mel­de­te sich je­doch der Hang zur Träu­me­rei und in sei­ner Fol­ge zur Ein­sam­keit. Die­ses Träu­men war ein frei­es Schal­ten mit Vor­stel­lun­gen, wie sie mir mei­ne Sin­ne bis­her ver­mit­telt hat­ten. Es war zu­gleich eine in­ner­li­che Be­trach­ter­tä­tig­keit.

Da­bei dräng­te sich mir ei­nes Ta­ges die Fra­ge nach der Her­kunft der Ma­te­rie auf, als ich das Fens­ter­brett, die Stein­wand da­ne­ben, die Mar­mor­plat­te un­ter dem Spie­gel und al­ler­lei Ge­gen­stän­de for­schend an­fass­te. Wie­so seid ihr da? Wo kommt ihr her? frag­te ich mich. Ich ge­riet über das Et­was in Ver­wun­de­rung, wäh­rend ich das Nichts als selbst­ver­ständ­lich vor­aus­setz­te.

Ein­mal ver­lor ich mich in Me­di­ta­tio­nen über ein grü­nes Blatt. Ich wur­de nicht müde, es zu be­trach­ten: das Blatt­ge­rip­pe, die Far­be, die Form. Die un­end­li­che Fein­heit und Zart­heit des Ge­bil­des ver­setz­te mich in stau­nen­de Be­wun­de­rung. Ich tat die Fra­ge nach dem Zu­sam­men­halt, ich dach­te das un­lös­li­che Rät­sel der Ko­hä­si­on.

Mei­ne Be­trach­tun­gen en­de­ten wun­der­lich. Könn­test du die­ses klei­ne, un­schein­ba­re Blatt ir­gend­wie ma­nu­ell kon­stru­ie­ren und her­stel­len, sag­te ich zu mir, so wür­dest du trotz dei­ner Ju­gend der be­rühm­tes­te un­ter den Men­schen sein.

*

Als Kna­be, ja­wohl noch als Kind kam ich dem Be­griff des Kan­ti­schen Din­ges an sich nahe. Ich be­trach­te­te einen Baum, ich beroch und be­rühr­te sei­nen Stamm. Ich stell­te mit mei­ner Stirn des­sen Här­te fest. Ich sag­te: Nun ja, ich nen­ne dich Baum, ich weiß, du be­stehst aus Holz, das brenn­bar ist, doch was du ei­gent­lich bist, weiß ich nicht.

Ich ging auch wei­ter und mach­te mich selbst zum Ob­jekt. Was bist du ur­sprüng­lich selbst? Was ist ur­sprüng­lich dein ei­gens­tes We­sen? Die­se bei­den Fra­gen stell­te ich an mich. In ei­nem sol­chen Au­gen­blick ver­moch­te ich hin­ter mich selbst zu drin­gen und als Ein­zel­we­sen mich auf­zu­ge­ben.

Ich war im Som­mer viel al­lein, und das wur­de mir, wohl auch durch Ge­wöh­nung, mehr und mehr an­ge­nehm, aber doch nicht so, dass ich Ein­sam­keit und Zu­rück­ge­zo­gen­heit nicht im­mer wie­der gern durch einen Sprung ins be­weg­te Le­ben un­ter­bro­chen ge­se­hen hät­te. In wei­ten Strei­fen be­weg­te ich mich wäh­rend mei­ner ein­sa­men Stun­den in ent­le­ge­nen Tei­len der An­la­gen um­her, saß in Wip­feln von Bäu­men, den pro­me­nie­ren­den Kur­gäs­ten un­sicht­bar, oder lag auf den grü­nen Ra­sen ge­streckt an den Kies­we­gen.

Ver­schol­len ist heu­te der Ty­pus des Bon­vi­vants. Sa­ni­täts­rat Dok­tor Va­len­ti­ner konn­te da­mals als sol­cher ge­nom­men wer­den. Er mach­te im Win­ter als Schiffs­arzt Welt­rei­sen und war bei den Da­men all­be­liebt.

»Wil­helm von Ora­ni­en!« sag­te er ein­mal mit ei­nem Blick auf mich in ei­nem Tone, der Fried­rich Haa­se Ehre ge­macht ha­ben wür­de, als er mich im Gra­se lie­gend er­blickt hat­te und pa­the­tisch hei­ter sei­nen Zy­lin­der schwin­gend vor­über­schritt. Ich schlie­ße dar­aus, dass ich viel­leicht einen nicht ganz so schlim­men Ein­druck ge­macht hat­te, als ich von mir selbst ver­mu­te­te, und dass mei­ne Mut­ter mich kleid­sam aus­stat­te­te.

 

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Die Salz­bach, im Dia­lekt kurz­weg Baa­che ge­nannt, teil­te den Ort, der als Ober-, Mit­tel- und Nie­der-Salz­brunn die Er­stre­ckung von min­des­tens ei­ner deut­schen Mei­le hat­te, in zwei Tei­le. Ober-Salz­brunn be­gann mit dem Kur­län­di­schen Hof, der ei­nem Fräu­lein von Ran­dow ge­hör­te. Nie­der-Salz­brunn da­ge­gen schloss mit den bei­den Orts­kir­chen, der ka­tho­li­schen und der evan­ge­li­schen, ab, die sich zu bei­den Sei­ten der Chaus­see, wenn sie ge­wollt hät­ten, die Hand rei­chen konn­ten. Der ei­gent­li­che Ort lag sei­ner gan­zen Län­ge nach an der West­sei­te der Baa­che, aber es gab, wie in vie­len Dör­fern des na­hen Böh­mens und selbst in Prag, eine Klei­ne Sei­te. Ich war auf der Gro­ßen und Klei­nen zu Hau­se. Ich ging nicht nur in den We­ber­hüt­ten, son­dern auch in den üb­ri­gen Werk­stät­ten der Klei­nen als ein Da­zu­ge­hö­ri­ger un­ge­hin­dert, ja un­be­ach­tet aus und ein, eben­so auch in den ein­zel­nen, bis da­hin ver­spreng­ten Elends­quar­tie­ren der Berg­leu­te aus dem na­hen In­dus­trie- und Koh­len­be­zirk. Dem Schmie­de sah ich zu, wenn er Huf­ei­sen auf­leg­te, dem von Tuch­fet­zen um­ge­be­nen Schnei­der auf sei­nem nie­de­ren Tisch bei der Sti­che­lei, dem Schuh­ma­cher auf sei­nem Sche­mel vor dem Ar­beit­s­tisch, wo hin­ter den was­ser­ge­füll­ten Glas­ku­geln die Öl­fun­se brann­te.

In die­sen en­gen Schuh­ma­cher­werk­stät­ten sah ich zu­erst mit Ver­wun­de­rung, in­wie­weit sich klei­ne Vö­gel, hier meist Rot­kehl­chen und Rot­schwänz­chen, mit den Men­schen ver­traut ma­chen kön­nen. Ohne durch Fa­mi­li­en- und Werk­statt­lärm der eng zu­sam­men­ge­dräng­ten Le­bens- und Ar­beits­ge­mein­schaf­ten ge­stört zu sein, stelz­ten und flat­ter­ten sie her­um und be­haup­te­ten furcht­los die selt­sams­ten Plät­ze: den Kopf der Kat­ze oder den Arm des Hand­werks­meis­ters, wäh­rend er den Ham­mer schwang.

Meist gab man die­sen be­dräng­ten Tier­chen win­ters Un­ter­kunft und ließ sie beim ers­ten Hauch des Früh­lings un­ge­hin­dert da­von­flie­gen.

Als ich ir­gend­wann ei­nes Mor­gens eine sol­che mir be­kann­te Werk­statt be­trat, wuss­te ich nicht so­gleich, wo ich war. Al­les zum Hand­werk ge­hö­ri­ge Mo­bi­li­ar und Gerät war fort­ge­räumt. Ich kam vom Spiel, hat­te mich im Brun­nen­saal mit Salz­brun­nen er­quickt, das Le­ben dank­bar in mich ge­so­gen. Es hät­te für mich kei­nen Him­mel ge­ge­ben, der mich hät­te mehr an­lo­cken kön­nen als die­ses blo­ße, ge­sun­de Sein.

Ich weiß nun nicht, wie ich plötz­lich in die Schus­ter­werk­statt ge­ra­ten bin, ein Dorf­jun­ge mag mich da­hin ver­schleppt ha­ben, um mich mit et­was zu über­ra­schen, was das Er­eig­nis des Ta­ges war.

Der Schuh­ma­cher­meis­ter näm­lich hat­te den Schus­ter­sche­mel mit ei­nem Sar­ge und die sit­zen­de Stel­lung mit der waag­recht-aus­ge­streck­ten ver­tauscht. Ich be­griff nicht so­gleich, dass es so war und wen ich in dem hier auf­ge­bahr­ten To­ten vor mir hat­te.

Er lag da mit ge­öl­tem, sorg­sam fri­sier­tem Schei­tel, das Ge­sicht wachs­gelb und wohl­ra­siert, Hemd- und Hals­kra­gen blü­ten­weiß, einen schwar­zen Schlips um den Hals, im schwar­zen Rock, wei­ßer Wes­te und schwar­zer Hose, wei­ße Glacéhand­schu­he an den über dem Ma­gen ge­fal­te­ten Hän­den und, wahr­schein­lich ein Werk des To­ten selbst, zwei na­gel­neue Schu­he an den Fü­ßen.

Das wei­ße, ab­ge­schab­te Soh­len­le­der, das noch nie den Bo­den be­rührt hat­te, ist mir in Erin­ne­rung, und ich sehe bis heut nie der­glei­chen Soh­len, ohne an den Hand­werks­meis­ter im Sar­ge zu den­ken.