Das Abenteuer meiner Jugend

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Viertes Kapitel

So un­ge­fähr bo­ten sich zu­nächst die Schau­plät­ze dar, auf wel­chen ich mich im Voll­ge­nuss mei­nes Le­ben­strie­bes – im ge­sun­den Kin­de ist Freu­de und Le­ben ein und das­sel­be – in dau­ern­dem Wech­sel täg­lich be­weg­te. Sie la­gen auf zwei ver­schie­de­nen Haup­tebe­nen, von de­nen die eine die bür­ger­li­che, die an­de­re zwar nicht die durch­um pro­le­ta­ri­sche, aber je­den­falls die der brei­ten Mas­se des Vol­kes war. Ich kann nicht be­strei­ten, dass ich mich im Bür­ger­be­reich und in der Hut mei­ner El­tern ge­bor­gen fühl­te. Aber nichts­de­sto­we­ni­ger tauch­te ich Tag für Tag, mei­ner Nei­gung über­las­sen, in den Be­reich des Ho­fes, der Stra­ße, des Volks­le­bens. Nach un­ten zu wächst nun ein­mal die Na­tür­lich­keit, nach oben die Künst­lich­keit. Nach un­ten wächst die Ge­mein­sam­keit, von un­ten nach oben die Ein­sam­keit. Die Frei­heit nimmt zu von oben nach un­ten, von un­ten nach oben die Ge­bun­den­heit. Ein ge­sun­des Kind, das von un­ten nach oben wächst, ist zu­nächst we­sen­haft volks­tüm­lich, vor­aus­ge­setzt, dass es nicht durch Ge­ne­ra­tio­nen ver­küns­tel­ten Bür­ger­tums ver­dor­ben ist. Das Kind steht dem bäu­er­li­chen Kin­der­mäd­chen nä­her als sei­ner Mut­ter, wenn die­se eine Sa­lon­da­me ist: und die Mut­ter, wenn sie es ist, weiß mit dem Kin­de, das sie ge­bar, nichts an­zu­fan­gen. Fuhr­hal­ter Krau­se, der im Hofe die Herr­schaft führ­te, sprach mit sei­nem Soh­ne Gu­stav und mit mir, wie man mit sei­nes­glei­chen spricht. Nie wur­de ihm oder mir von Krau­se klar­ge­macht, dass wir dum­me Jun­gens sei­en und uns als min­der­wer­ti­ge We­sen an­zu­se­hen hät­ten. Auch von Va­ter und Mut­ter er­lit­ten wir kei­ne mo­ra­li­sche Er­nied­ri­gung, au­ßer wo wir mit Recht oder Un­recht ge­schol­ten wur­den. Aber es lag nun ein­mal im Geis­te des obe­ren Be­reichs, dass man sich nicht na­tür­lich be­tra­gen konn­te. Der Un­ter­schied zwi­schen un­ten und oben war so groß, wie der zwi­schen dem sinn­lich-see­len­vol­len Dia­lekt und dem sinn­lich-ar­men, na­he­zu ent­seel­ten Schrift­deutsch ist, das als Hoch­deutsch ge­spro­chen wird. Un­ten im Hof er­zog die Na­tur, oben wur­de man, wie man fühl­te, nach ei­nem be­wuss­ten mensch­li­chen Plan für ir­gend­ei­ne kom­men­de Auf­ga­be zu­ge­rich­tet. Ko­chen, Es­sen, Schla­fen, das al­les ging vor sich in ei­nem ein­zi­gen Zim­mer des Krau­se­be­reichs.

Jeg­li­ches Ding dar­in hat­te sei­ne Auf­ga­be. Oben war eine Zim­mer­flucht, die zum großen Teil nur von Glas­schrän­ken mit Bü­chern und Nip­pes, von Spie­geln, un­be­nutz­ten Kom­mo­den, Ti­schen und Ses­seln und von ei­ni­gen schweig­sa­men Flie­gen be­wohnt wur­de. Die stum­me Spra­che die­ser Din­ge, Uhren, Por­zel­la­ne, Zier­glä­ser, Tep­pi­che, Tisch­de­cken und der­glei­chen, wie­der­hol­te im­mer­zu: Ma­che hier kei­nen Riss, dort kei­nen Fleck, stoß mich nicht an, stoß mich nicht um, und so fort. Un­ten gab es der­glei­chen Rück­sich­ten nicht.

Und oben, nicht un­ten, wohnt auch die Ei­tel­keit. Da sind ihre großen und klei­nen Spie­gel, die über das Un­ten kei­ne Macht ha­ben. Dort prüft der ge­küns­tel­te Mensch und schon das Kind tag­täg­lich sein Aus­se­hen. Bei sol­cher Ge­le­gen­heit hat mich das mei­ne nie be­frie­digt. Auch dem Ge­cken mag üb­ri­gens et­was an­haf­ten von der­glei­chen Un­zu­frie­den­heit, er wür­de sonst im Aus­putz sei­ner Per­son nicht so ru­he­los wech­seln. Der wohl­ge­klei­de­te Mensch wird ge­se­hen. Er ver­gisst nicht, darf nicht ver­ges­sen, dass es so ist. Wenn er aus­geht, ist er sein ei­ge­ner Spie­gel. Der ein­fa­che Mensch sieht nur um sich her.

Wenn der ein­fa­che Mann müde ist, macht er Fei­er­abend, oder er macht eine Ar­beit­s­pau­se, die er sich, wie er kann, ver­süßt. Der ge­sun­de Mann aus dem Vol­ke ist durch und durch we­sent­lich: lee­res Ge­re­de kennt er nicht. Wenn er spricht, wird es Hand und Fuß ha­ben. Das macht zu­nächst der im­mer na­he­lie­gen­de Ge­gen­stand, der sei­ne täg­li­che Ar­beit und de­ren Fehl­schla­gen oder Ge­lin­gen ist. Je­des Wort die­ser Rede ist kraft­voll und voll­gül­tig. Sie ge­stal­tet die Spra­che neu und in je­dem Au­gen­blick, wes­halb schon Mar­tin Luther sagt: »Man muss dem ge­mei­nen Mann aufs Maul schau­en, wenn man wis­sen will, was Spra­che ist.« So­kra­tes sagt un­ge­fähr das­sel­be.

*

Das Spei­sen am wohl­ge­deck­ten Ti­sche mei­ner El­tern in Num­mer Drei ver­lor für län­ge­re Zeit sei­nen Reiz, als ich ein­mal bei Krau­ses ge­ges­sen hat­te. Ich saß mit Krau­se, sei­ner Frau, Gu­stav und Ida so­wie ei­nem al­ten Knecht um den ge­scheu­er­ten Tisch. In der Mit­te stand eine große, brau­ne, tie­fe Schüs­sel aus Bunz­lau­er Ton, in die wir, je­der mit sei­ner Ga­bel, hin­ein­lang­ten. Wir grif­fen zu den Zinn­löf­feln, als nur noch Brü­he dar­in vor­han­den war. Mes­ser und Tel­ler gab es nicht.

Es ging bei die­ser schlich­ten Bau­ern­mahl­zeit schweig­sam und ma­nier­lich zu. Dass man mit vol­lem Mun­de nicht spricht, soll­te sich ja von selbst ver­ste­hen. Es kom­men da­bei, selbst in ho­hen und höchs­ten Krei­sen, Spru­de­lei­en und an­de­re un­ap­pe­tit­li­che Din­ge vor. Trotz­dem wir mit aus­ge­streck­tem Arm zu­lan­gen und den Bis­sen durch die Luft füh­ren muss­ten, ehe wir ihn in den Mund steck­ten, wies die Tisch­plat­te am Schluss kei­ne Fle­cken auf. Was Frau Krau­se ge­kocht hat­te, war ein Ge­misch von Klö­ßen und Sau­er­kraut in ei­ner Brü­he aus Schwei­ne­fleisch. Die­ses Ge­richt war de­li­kat. Nie­mals spä­ter ge­noss ich wie­der­um sol­ches Sau­er­kraut. Es wur­de von dem al­ten Knecht und von Krau­se, nach­dem sie be­dacht­sam die Ga­bel dar­in ge­dreht und so die lan­gen, dün­nen Fä­den wie auf einen Wo­cken ge­wi­ckelt hat­ten, aus der Tun­ke her­aus­ge­holt. Dass sie die­sel­be Ga­bel, die sie in den Mund ge­steckt hat­ten, wie­der in die ge­mein­sa­me Schüs­sel tauch­ten, fiel mir nicht auf. Die lang­sa­me Sorg­falt des Vor­gangs ließ den Ge­dan­ken an et­was Unap­pe­tit­li­ches gar nicht auf­kom­men.

Tisch­ge­be­te sprach man bei den Mahl­zei­ten des Fuhr­herrn nicht. Aber die gan­ze Pro­ze­dur die­ser ge­las­se­nen Nah­rungs­auf­nah­me, bei der nie­mand, auch nicht die Kin­der, im Ge­rings­ten Un­ge­duld, Hast oder Gier zeig­te, war fei­er­lich. Sie war bei­na­he selbst ein Ge­bet. Hier wuss­te man, was das täg­li­che Brot be­deu­te­te, und der In­stinkt ent­schied, wel­che Wür­de ihm zu­zu­spre­chen war.

Üb­ri­gens war durch die schwe­re, som­mer­spros­si­ge Hand und den he­ra­kli­schen Arm des Fuhr­herrn der Rhyth­mus die­ses Fa­mi­li­en­mah­les an­ge­zeigt. Nie­mand hat­te sich un­ter­fan­gen und sei­ne Ga­bel oder den Löf­fel, wäh­rend er es ein­mal tat, zwei­mal in die Schüs­sel ge­taucht.

Fuhr­mann Krau­se war eine Art Spe­di­teur. Der Trans­port des Brun­nen­ver­san­des zur Bahn­sta­ti­on lag in sei­ner Hand. Eben­so hol­te er re­gel­mä­ßig mit sei­nem Om­ni­bus von eben­der Bahn­sta­ti­on Frei­burg die an­kom­men­den Frem­den ab und brach­te dort­hin die Abrei­sen­den. Der Om­ni­bus, wenn er nicht un­ter­wegs war, stand in un­serm Hof, wo sei­ne Pols­ter ge­klopft, sei­ne Ach­sen ge­schmiert und das gan­ze Mon­strum mehr­mals die Wo­che von oben bis un­ten ge­putzt und ge­wa­schen wur­de. Das Klir­ren der höl­zer­nen Ei­mer mit den ei­ser­nen Trag­bo­gen, das Lär­men der Pfer­de­knech­te mach­te die Mu­sik dazu.

Ich den­ke da­bei an die Som­mer­zeit, wo ich über­all und nir­gend zu Hau­se war. Die kur­ze Schul­zeit aus­ge­nom­men, trieb ich mich in den Stäl­len zwi­schen den Pfer­den, in der Kut­scher­stu­be, im Hin­ter­gar­ten, viel­fach auch auf den fla­chen, be­moos­ten Dä­chern der Saal­bau­ten her­um.

Fast nie er­füll­te ich das Ge­bot mei­nes Va­ters: ohne Kopf­be­de­ckung nicht aus­zu­ge­hen. Da ich also, un­ge­hor­sam, im­mer mit bloßem Kop­fe her­um­rann­te, ver­mied ich nach Mög­lich­keit, von mei­nem Va­ter ge­se­hen zu wer­den. Auch setz­te er ge­wiss nicht vor­aus, bis zu wel­chem Gra­de ich mich in die Ge­pflo­gen­hei­ten der Stra­ßen­jun­gen ein­le­ben wür­de. Ich fing zum Bei­spiel, mit ih­nen in ei­nem Ru­del ver­eint, den Om­ni­bus, wenn er von der Bahn kam, vor dem Zie­le ab und ver­folg­te ihn, eben­falls mit­ten im Ru­del, gehüllt in eine dich­te Staub­wol­ke. Der Zweck war, den an­lan­gen­den Kur­gäs­ten Hand­ge­päck zu ent­rei­ßen, um es ge­gen Ent­gelt hin­ter ih­nen drein in das Lo­gis zu schlep­pen. Ich habe das nur ein­mal ge­tan, denn die Be­hand­lung, die ich da­bei er­fuhr, die Last, die ich zu tra­gen hat­te, und die Ent­loh­nung durch einen Kup­fer­drei­er, den ich emp­fing, all das war an­ge­tan, mich von die­ser Art Brot­er­werb ab­zu­brin­gen.

Fünftes Kapitel

Der Gast­hof hat­te im Win­ter et­was Ver­geis­ter­tes. Das Le­ben sei­ner som­mer­li­chen Da­seins­form durch­s­pens­ter­te sei­ne win­ter­li­che. Die Kor­ri­do­re, die ein­zel­nen Lo­gier­zim­mer, die Säle, die Kü­che, die Wasch­kü­che wa­ren von den Schat­ten der Ge­stal­ten be­lebt, die im Som­mer dar­in ge­haust hat­ten. Manch­mal, etwa wenn nächt­li­cher No­vem­ber­sturm das Haus um­braus­te, stand ich plötz­lich wie an­ge­wur­zelt in ei­nem der aus­ge­stor­be­nen, fins­te­ren Flu­re still, weil, wie in ei­nem hel­len Blitz, das Som­mer­le­ben des Hau­ses auf­lärm­te: Wa­gen­ge­rum­pel, Ei­mer­ge­klirr, Kin­der- und Kut­scher­ge­schrei im Hof, in den Sä­len Teller­ge­klap­per und dump­fes Ge­summ, Men­schen­ge­wim­mel auf der Stra­ße, pol­ni­sche Ju­den mit Pa­jes,1 und Ro­ckelor2 Lärm, Lärm und wie­der Lärm! Al­les nur einen Au­gen­blick: dann heul­te Fins­ter­nis um die Mau­ern.

Wie furcht­sa­me Scha­fe dräng­ten wir Kin­der uns zu­sam­men: wir hat­ten etwa in Nu­me­ro Neun ein fürch­ter­li­ches Hus­ten ge­hört. Es war das Lo­gier­zim­mer, in dem ein Lun­gen­kran­ker vor Jah­ren ge­stor­ben war. Oder von ir­gend­ei­ner lee­ren Stu­be aus wur­de nachts die Schel­le ge­zo­gen: Furcht und Grau­sen schüt­tel­te uns. Sol­che Vor­fäl­le wur­den meist nicht auf­ge­klärt.

 

Mein Va­ter lieb­te Nacht­lich­te. Ein sol­ches klei­nes, knis­tern­des Licht­we­sen, das auf ei­ner Öl­schicht in ei­nem Glas Was­ser schwamm, hat­te die trost­lo­se Auf­ga­be, den Weg durch den ei­si­gen Klei­nen Saal zur Pri­vat­kü­che sicht­bar zu ma­chen. »Ger­hart, geh doch mal! Ger­hart, hole doch mal!« hieß es in den be­hag­lich durch­heiz­ten Wohn­zim­mern. Dann muss­te ich wohl oder übel in den Be­reich des Nacht­lichts hin­aus, der ho­hen Fens­ter, er­blin­det durch Eis­blu­men, des Saals mit den frie­ren­den Rem­brandt­bil­dern an der Wand, muss­te mir Mut ma­chen, muss­te hin­durch­ja­gen, muss­te durch die lee­re Ho­tel­kü­che, die nach ros­ti­gem Ei­sen roch und wo der Wind Häuf­chen Schnee auf den kal­ten Herd­plat­ten jag­te, dreh­te und wir­bel­te.

Aber wir wä­ren nicht Kin­der ge­we­sen, wenn nicht der Ko­bold in uns auch die­ser Drang­sal eine lus­ti­ge Sei­te ab­ge­won­nen hät­te. Mei­ne Schwes­ter Jo­han­na ging uns hier­in vor­an. Es han­del­te sich um das von Kin­dern so gern ge­üb­te Er­schre­cken. Ei­ner von uns über­wand sei­ne Furcht und ver­steck­te sich in der Fins­ter­nis. Kam der Be­auf­trag­te dann in Sicht, etwa lang­sam oder furcht­sam vor­schrei­tend, so schlug der Ver­steck­te wohl mit ei­nem Stock auf ein Mö­bel­stück, was der Furcht­sa­me mit ei­nem Schrei und Flucht be­ant­wor­te­te. Oder der Be­auf­trag­te flog wie ge­hetzt von Ein­gangs­tür zu Aus­gangs­tür, und die­se wur­de von au­ßen zu­ge­hal­ten. Er rann­te zu­rück, fand, dass auch die Ein­gangs­tür ver­rie­gelt war, und sah sich den grin­sen­den Bild­dä­mo­nen an der Wand und al­len mög­li­chen Ängs­ten preis­ge­ge­ben.

Fast möch­te ich es als Glück mei­ner Ju­gend be­zeich­nen, dass sich un­ser Da­sein nur im Win­ter zu ei­nem ech­ten Fa­mi­li­en­le­ben eineng­te: im Som­mer trat an sei­ne Stel­le für mich eine über­aus glän­zen­de Viel­falt im­mer­wäh­ren­der Fest­lich­keit.

In der zwei­ten Hälf­te des Mo­nats April zo­gen Haus­die­ner und Zim­mer­mäd­chen auf. Das große Rei­ne­ma­chen be­gann. Die ho­hen Gla­stü­ren des Gro­ßen Saals, durch die man eine Ter­ras­se be­trat, wur­den weit auf­ge­sperrt, des­glei­chen die Fens­ter des Klei­nen Saals und al­ler Lo­gier­zim­mer. Man trug die Ma­trat­zen an re­gen­frei­en Ta­gen vor das Haus, wo als­bald Schleu­ße­rin­nen und Haus­knech­te un­ter lau­ten Spä­ßen und Ge­läch­ter die Aus­klop­fer schwan­gen. Der gan­ze Ort wi­der­hall­te da­von. Es wur­den da­bei man­che Na­men ge­ru­fen von Leu­ten, die nicht durch­aus be­liebt wa­ren, wo­durch die Schlä­ge schnel­ler und kräf­ti­ger nie­der­knall­ten.

Des Un­ge­zie­fers we­gen wur­den in­zwi­schen die Fu­gen der Bett­stel­len mit Pe­tro­le­um ab­ge­pin­selt. In den Fens­tern stan­den die Mäd­chen hals­bre­che­risch, wu­schen die Schei­ben und rie­ben sie tro­cken. Oder der Schrub­ber herrsch­te, und die Die­len schwam­men in schmut­zi­gem Was­ser. Über­all roch es nach Sei­fe und nas­sen Ha­dern, und die mil­den Lüf­te des Früh­lings dran­gen ins in­ners­te In­ne­re des Hau­ses ein.

Ich emp­fand dies al­les als et­was Be­glücken­des, wälz­te mich auf den Ma­trat­zen her­um oder be­rausch­te mich zwi­schen den al­ler­lei Pols­ter­mö­beln, die man eben­falls, um sie aus­zu­klop­fen, in den vor­de­ren Zier­gar­ten ge­bracht hat­te. Der Reiz des Un­ge­wöhn­li­chen, Ses­sel und So­fas zwi­schen Gar­ten­bee­ten zu fin­den, ver­setz­te mich in Be­geis­te­rung.

Ei­nes Ta­ges hat­te dann der Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne zu sei­ner ei­gent­li­chen Be­stim­mung zu­rück­ge­fun­den. Die Lun­gen sei­ner Fens­ter be­wirk­ten ge­sun­des Ein- und Au­sat­men. Durch sei­ne hel­len, wie­der­um se­hen­den Au­gen er­goss sich Licht und spül­te aus al­len Win­keln die Fins­ter­nis. Die Zim­mer glänz­ten vor Wohn­lich­keit. Die Ker­zen in den sil­ber­nen Leuch­tern tru­gen fri­sche Man­schet­ten. Von Kell­nern wur­den Glä­ser ge­putzt. Frau Riedl, ge­nannt die Mam­sell,3 war ein­ge­trof­fen. Sie hat­te hin­ter ei­nem Bü­fett vor der Kü­che ih­ren Stand, um, wenn es so weit war, die Spei­sen von dort den Kell­nern wei­ter­zu­rei­chen. Die Kü­che, in die nun der Koch ein­ge­zo­gen war, er­schi­en hei­ter, hell und gar nicht mehr fürch­ter­lich. Lor­beer, Pal­me, Zy­pres­se und Fei­gen­baum, al­les in Kü­beln, schmück­ten die Au­ßen­wand und so die Ter­ras­se vor dem Gro­ßen Saal. Die Vö­gel lärm­ten in den An­la­gen. Ei­ni­ge ge­deck­te Ti­sche wa­ren im Gar­ten auf­ge­stellt.

Krau­se wusch sei­nen Om­ni­bus, wäh­rend um ihn die Schwal­ben schrill­ten, die in den Stäl­len und Un­term Saal zu Nes­te tru­gen. Sand­berg stand vor der of­fe­nen La­den­tür und wei­de­te sich an sei­nem Schau­fens­ter, in dem er die Schnitt­wa­ren neu ge­ord­net hat­te. Im Ein­gangs­raum des Gast­ho­fes hat­te ein Bi­jou­te­rie­händ­ler sei­ne Aus­la­ge.

*

So war die Kro­ne aus ih­rem Win­ter­schlaf er­wacht, hat­te ihre Wie­der­ge­burt, ja ihre Au­fer­ste­hung ge­fei­ert, sich ge­wa­schen, ge­putzt und Fest­klei­der an­ge­legt. Und nun muss­ten die Kur­gäs­te kom­men, die den Vor­teil von al­le­dem ha­ben und brin­gen soll­ten. Denn die alte Kro­ne war nicht nur eine Glu­cke, die win­ters ihre Flü­gel über uns hielt, son­dern sie leg­te auch gol­de­ne Eier.

Eine Per­sön­lich­keit, die im­mer wie­der be­son­de­ren Ein­druck mach­te, war der je­wei­li­ge Koch. Man nann­te ihn all­ge­mein den Chef. Ein sol­cher Chef nahm mich, so­lan­ge ich klein ge­nug dazu war, so­oft er konn­te, auf den Arm, und ein Name, den er mir gab, Pflau­men­frit­ze, ist mir in Erin­ne­rung. Er trug mich näm­lich je­des Mal in die Spei­se­kam­mer und ließ mich in einen Sack ge­dörr­ter Pflau­men hin­ein­lan­gen.

Ein an­de­rer Koch, ein jun­ger Mensch, der mich eben­falls auf den Arm ge­nom­men hat­te, ist mir er­in­ner­lich und ein nied­li­cher Vor­gang, der die gan­ze Kü­che er­hei­ter­te: der lus­ti­ge Chef nahm mit den Fin­gern frisch ge­koch­te Spar­gel von ei­ner Plat­te, tauch­te die Spit­zen in But­ter und ließ sie mich ab­bei­ßen, der üb­rig­ge­blie­be­ne Sten­gel flog zum of­fe­nen Fens­ter hin­aus.

Frau Milo hieß eine Koch­kö­chin, die ne­ben dem Chef wirk­te. Auch sie nahm mich ei­nes Ta­ges – etwa drei­jäh­rig moch­te ich ge­we­sen sein – auf den Arm. Da fiel mir auf, dass ir­gen­det­was an ihr be­fremd­lich her­vor­rag­te. Ich hat­te den Be­griff ei­ner weib­li­chen Brust noch nicht, so klopf­te ich mit der Hand auf den un­be­greif­li­chen Ge­gen­stand und stell­te die Fra­ge, was das wäre, wor­auf die gan­ze Kü­che vor La­chen fast au­ßer sich ge­riet und Frau Milo dun­kel­rot im Ge­sicht wur­de.

Vom Arme ir­gend­je­man­des aus sah ich zum ers­ten Mal die wohl­ge­ord­ne­te Spei­se­kam­mer vom Dachrö­dens­hof. Das war ein be­nach­bar­tes Haus, das mein Groß­va­ter Straeh­ler, der Brun­nen­in­spek­tor, ge­baut hat­te und in dem er mit zwei un­ver­hei­ra­te­ten Töch­tern wohn­te.

Das In­ter­es­se der Kö­che und ähn­li­cher kin­der­lie­ber Men­schen setz­te aus, als ich äl­ter ge­wor­den war und zur Schu­le ging. Es wäre mir auch nur läs­tig ge­we­sen.

Ein Wild­ling wie ich fürch­te­te Zwang von al­len Er­wach­se­nen. Wo ich nur konn­te, mied ich sie. Die blo­ße Berüh­rung durch einen von ih­nen war mir un­leid­lich.

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Sechstes Kapitel

Den Zwang und Ker­ker der Schu­le konn­te man frei­lich nicht aus­schal­ten.

Im Win­ter war der Schul­weg bis auf Prü­ge­lei­en und Schnee­ball­schlach­ten ohne Be­lang. Im Som­mer wur­de er da­durch ge­würzt, dass wir am ge­öff­ne­ten Kur­thea­ter vor­bei muss­ten. Es war ein Holz­bau, äu­ßer­lich eine ver­wit­ter­te Bretter­ba­ra­cke, die mein Groß­va­ter, wie auch Brun­nen- und Eli­sen­hal­le, An­na­turm und an­de­res, durch sei­nen Freund und Ma­ler-Archi­tek­ten Jo­sef Fried­rich Raa­be, der zu Goe­the in en­gen Be­zie­hun­gen stand, hat­te er­rich­ten las­sen. Wenn wir zur Schu­le gin­gen, wa­ren meist Pro­ben, und vor den Ein­gän­gen stan­den die Schau­spie­ler. Was im Thea­ter selbst vor­ge­hen moch­te, blieb uns Kin­dern lan­ge ein Mys­te­ri­um; umso wil­der wu­cher­ten die Gerüch­te. Einst wur­de mir ein Jüng­ling ge­zeigt, der heu­te sein Be­ne­fiz hat­te. Was soll­te das sein: Be­ne­fiz? Et­was Furcht­ba­res si­cher­lich. Ohne es zu ah­nen, ka­men wir der alt­grie­chi­schen Ri­tu­al­büh­ne und den Ge­pflo­gen­hei­ten des rö­mi­schen Ko­los­se­ums in uns­ren Ge­dan­ken sehr nahe, denn uns war der Jüng­ling tod­ge­weiht. Es hieß, er müs­se am Abend zum Schluss des Stückes sich sel­ber er­ste­chen, oder er wer­de hin­ge­rich­tet.

Die­se Sa­che er­schi­en mir selbst­ver­ständ­lich. Von ei­nem flüch­ti­gen Gru­seln ab­ge­se­hen, nahm ich sie hin, als ob man ge­sagt hät­te, mor­gen wer­den uns in der Schu­le Bi­bel­sprü­che ab­ge­hört.

*

Der alte Leh­rer Bren­del, der sei­ne Fin­ger­knie­bel ge­wöhn­lich auf die ers­te Schul­bank stütz­te und dar­um eine di­cke Horn­haut auf ih­nen hat­te, war der fleisch­ge­wor­de­ne Zorn. Zorn war An­fang, Mit­te und Ende sei­nes Un­ter­richts. Er wür­de sich nichts ver­ge­ben ha­ben, wenn er un­ver­se­hens ein­mal ge­lacht hät­te. Als er ge­le­gent­lich mit sei­nem gel­ben Rohr­stock, um einen Schü­ler ab­zu­stra­fen, in die Bank lang­te, er­hielt ich, nicht der Ge­mein­te, den wuch­ti­gen Schlag, wor­auf er denn doch be­tre­te­ne Wor­te stam­mel­te.

Am Schluss der Stun­de sang man: »Nun dan­ket alle Gott mit Her­zen, Mund und Hän­den!« Wir setz­ten still­schwei­gend hin­zu: da­für, dass die Schu­le zu Ende ist. Nie jauchz­te ein tiefer ge­fühl­ter Dank zum Him­mel. Mit dem letz­ten Ton braus­ten wir auf die Stra­ße.

Dass wir in den Kur­gäs­ten und in ih­ren wohl­ge­klei­de­ten, wohl­ge­putz­ten Kin­dern hö­he­re We­sen se­hen muss­ten, war eine Un­ver­meid­lich­keit: ka­men sie doch aus Ham­burg, Bre­men, Ber­lin, Dan­zig, ja aus Sankt Pe­ters­burg oder War­schau, Städ­ten, von de­nen ich we­nig wuss­te, de­ren Na­men je­doch wie Son­nen glänz­ten. Es wa­ren durch­aus nicht nur Lun­gen­kran­ke, die Salz­brunn auf­such­ten, wenn auch der hus­ten­de, kräch­zen­de, Schleim aus­wer­fen­de Schwind­suchts­kan­di­dat zum Bil­de des Ba­des ge­hör­te. Er be­weg­te sich aber in den Wo­gen ei­ner ihn nicht be­ach­ten­den, hei­ter­bun­ten Le­be­welt, die sich auf der Brun­nen­pro­me­na­de und in der do­ri­schen Tem­pel­hal­le täg­lich mehr­mals zu­sam­men­fand. Man übte da­mals noch eine selbst­ver­ständ­li­che Duld­sam­keit. Der Ge­sun­de, der Leicht-, der Schwe­rer­krank­te wur­den über­all und so auch in der Preu­ßi­schen Kro­ne un­be­denk­lich und wahl­los auf­ge­nom­men.

Wie ge­sagt, die Frem­den wa­ren uns Kin­dern Halb­göt­ter. Um ih­ret­wil­len wur­den Ber­ge von Fleisch ver­ar­bei­tet, Fracht­kis­ten mit See­fisch ka­men, die bes­ten Ge­mü­se wur­den für sie ge­putzt, die aus­er­le­sens­ten Früch­te ver­ar­bei­tet. Im In­nern des Brun­nen­ho­fes, ei­nes Lo­gier­hau­ses, das zum Bade ge­hör­te und das mein Va­ter ge­pach­tet hat­te, war ein großes Stein­bas­sin, aus dem man je­der­zeit mit dem Netz le­ben­de Bach­fo­rel­len fi­schen konn­te. Dass des Abends Cham­pa­gner­pfrop­fen im Saa­le knall­ten, war kei­ne Sel­ten­heit.

Al­les dies ward von den Frem­den be­an­sprucht und, was mehr ist, von ih­nen be­zahlt. Sie ka­men und leb­ten aus vol­len Sä­ckeln. So habe ich wohl si­cher­lich den Be­griff von Geld und Gel­des­wert schon um jene Zeit ge­habt und ge­wusst, dass es dar­auf an­kam, mög­lichst viel da­von in den Kas­sen­be­häl­tern des Gast­hofs zu­rück­zu­be­hal­ten.

In Be­zie­hung auf die Kin­der von Kur­gäs­ten kommt mir ein sehr frü­hes Er­leb­nis mit Carl in Erin­ne­rung. Man hat­te im Vor­der­gar­ten einen Baum ge­fällt, der kah­le Stamm lag auf der Erde. Eng an­ein­an­der ge­quetscht wie Sper­lin­ge, hat­ten wir Klei­nen dar­auf Platz ge­nom­men. Vornan, al­ler­dings hin­ter ei­nem weiß­ge­klei­de­ten Mägd­lein mit bun­ten Bän­dern im of­fe­nen Haar, das er aus ir­gend­ei­nem Grun­de von rück­wärts um­armt hal­ten muss­te, saß Carl. Ich kam zu­letzt als der Kleins­te der Klei­nen. Mei­ne Ohn­macht brann­te vor Scham und Ei­fer­sucht, mein Elend aber war dar­um so groß, weil ich mei­ne Ge­füh­le ver­schwei­gen muss­te. Ich er­kann­te deut­lich die Lä­cher­lich­keit, der ich Knirps sonst ver­fal­len wäre.

 

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Wir hat­ten an­fäng­lich nicht die glei­che Schul­zeit, Carl und ich, so mach­te je­der den Schul­weg al­lein. Spä­ter, als ich in sei­ne Klas­se auf­stieg, leg­ten wir ihn ge­mein­sam zu­rück. Ich er­klä­re es mir als naiv-sa­dis­ti­schen Zug, dass mein Bru­der mich manch­mal hin­ten beim Kra­gen pack­te, wenn wir die Schu­le ver­las­sen hat­ten, und mich, zu mei­ner Qual, wie einen Ar­re­tier­ten vor sich her nach Hau­se be­för­der­te. Ich ver­mehr­te da­bei mei­ne Lei­den durch nutz­lo­sen Wi­der­stand.

Ei­nes Ta­ges auf dem Nach­hau­se­we­ge wur­de mir Carls Be­tra­gen über­aus wun­der­lich. Aus der Schu­le ge­tre­ten, such­te er so­gleich einen Ru­he­platz, dann einen zwei­ten. Der Post­hof, ein Kas­ta­ni­en­hain, war mit hän­gen­den Ket­ten zwi­schen nied­ri­gen Gra­nit­pfei­lern ein­ge­fasst: Carl such­te auf ei­ner der Ket­ten Ruhe. Dann kam die Stra­ße mit meh­re­ren Prell­stei­nen: er schlepp­te sich von Prell­stein zu Prell­stein fort. So sind wir all­mäh­lich nach Hau­se ge­langt. Eine hal­be Stun­de spä­ter er­fuhr ich, dass mei­nen Bru­der eine schwe­re Krank­heit be­fal­len habe.

Die Mut­ter wein­te und stell­te sich den denk­bar schlimms­ten Aus­gang vor. Der Va­ter war ernst: man müs­se sich auf al­les ge­fasst ma­chen, nur Gott kön­ne wis­sen, ob wir Carl be­hal­ten wür­den oder nicht. Aber den­noch: er hof­fe zu Gott.

Ich er­leb­te nun eine Rei­he sor­gen­vol­ler Tage und auch Näch­te mit, da ich zu­wei­len von mei­ner Schwes­ter Jo­han­na, als gel­te es, von mei­nem Bru­der Ab­schied zu neh­men, ge­weckt wur­de oder auch von den Geräuschen er­wach­te, die, da ei­gent­lich nie­mand im Hau­se schlief, die gan­ze Nacht nicht auf­hör­ten. Mein Va­ter zog au­ßer mei­nem On­kel, Dok­tor Straeh­ler, noch einen äl­te­ren Arzt, Dok­tor Rich­ter, ein orts­be­kann­tes Ori­gi­nal, hin­zu. Wenn mein Bru­der die Krank­heit – es han­del­te sich um eine Lun­gen­ent­zün­dung – dann über­stand, so ret­te­ten ihn, wie mein Va­ter we­nigs­tens an­nahm, sei­ne Ratschlä­ge.

Ta­ge­lang ver­brach­te Carl im Zu­stand der Be­wusst­lo­sig­keit. Bar­bier Krau­se, ein zwei­ter Krau­se, zu­gleich Heil­ge­hil­fe, wie es da­mals üb­lich war, der sei­ne Stu­be in ei­nem klei­nen An­bau schräg­über von der Schenk­stu­be hat­te, setz­te Schröpf­köp­fe und ope­rier­te mit Blut­egeln. Die Kran­ken­stu­be be­trat ich nicht.

Mei­ne Schwes­ter und mei­ne Mut­ter müs­sen mich von dem, was dort ge­sch­ah, un­ter­rich­tet ha­ben. Der Kran­ke, von schreck­li­chen Fan­tasi­en ge­plagt, sah Rei­hen von Leich­na­men, die un­ter dem Gast­hof zur Kro­ne be­stat­tet wa­ren. Als der bra­ve Bar­bier ihm Schröpf­köp­fe setz­te, rang er sei­ne Hän­de zum Him­mel, und in­dem er sich be­klag­te, in was für Hän­de er ge­fal­len sei, gab er sich selbst die tra­gi­ko­mi­sche Ant­wort: in Bier­hän­de. Es kam die Kri­sis und da­mit der große und be­frei­en­de Au­gen­blick, als plötz­lich das Fie­ber ge­sun­ken war und Dok­tor Rich­ter er­klä­ren konn­te, die Ge­fahr sei nach Men­sche­ner­mes­sen vor­über.

Es ist na­tür­lich, dass mei­ne Mut­ter mich un­ter Freu­den­trä­nen in die Arme schloss. Aber auch mein Va­ter, von dem ich bis da­hin eben­so­we­nig glaub­te, dass er la­chen wie dass er wei­nen kön­ne, nahm sei­ne Bril­le ab und tupf­te sich mit dem Tu­che die Au­gen. Als man den Kran­ken, der mit selt­sa­mer Klar­heit sei­nen ei­ge­nen Zu­stand ver­folgt hat­te, von dem glück­li­chen Um­schwung ver­stän­dig­te, er­griff ihn eine glück­se­li­ge Er­schüt­te­rung. Wir muss­ten alle zu ihm hin­ein­kom­men: »Va­ter, Va­ter, ich bin ge­ret­tet! Ger­hart, denk doch, ich bin ge­ret­tet! Mut­ter, Mut­ter, ich bin ge­ret­tet! Hann­chen, hörst du, ich bin ge­ret­tet!« wie­der­hol­te er, uns die Hän­de, so gut es ge­hen woll­te, ent­ge­gen­stre­ckend, in ei­nem fort. Es hieß so viel: ich darf wie­der bei euch blei­ben.

Bei die­sem An­lass, der mich wohl zum ers­ten Mal in ein andres als mein eig­nes Schick­sal ver­wi­ckel­te, wur­de mir deut­lich, wel­che Fül­le ver­bor­ge­ner Lie­be un­ter dem so gleich­mä­ßig nüch­ter­nen We­sen ei­nes Va­ters, ei­ner Mut­ter be­schlos­sen lie­gen kann. Von die­sen un­sicht­ba­ren Kräf­ten und Ver­bun­den­hei­ten hat­te ich bis da­hin nichts ge­wusst. Fast be­frem­de­ten sie mich, als sie zu­ta­ge tra­ten, da sie schein­bar über mich hin­weg­gin­gen, mei­nem Bru­der und nicht mir gal­ten. Und so wur­de mir nicht ohne eine ge­lin­de Be­stür­zung klar, dass mein Bru­der nicht nur mein Bru­der, son­dern der Sohn mei­ner El­tern war und wie groß der An­teil wer­den konn­te, den ich ihm von ih­rer Lie­be ab­tre­ten muss­te.

Die­ses Er­eig­nis muss in die Zei­ten der Fa­mi­lie­nen­ge ge­fal­len sein, wo dann das lee­re und doch wohl ei­ni­ger­ma­ßen öde Haus den ver­düs­tern­den Rah­men bil­de­te. Fie­ber­fan­tasi­en des Kna­ben fan­den so auch in uns Ge­sun­den ge­eig­nets­ten Bo­den für ihr Fort­wu­chern, so die von den in lan­ger Rei­he un­ter den Fun­da­men­ten des Gast­hofs zur Preu­ßi­schen Kro­ne ein­ge­sarg­ten To­ten. Noch bis in die Tage der Re­kon­va­les­zenz hin­ein woll­te Carls Glau­be an die­ses Ge­sicht nicht nach­las­sen, so­dass man al­len Erns­tes er­wog, der Sa­che durch Gra­bun­gen nach­zu­ge­hen.